Bettina Reiter

Ein fast perfekter Winter in St. Agnes


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mir alles wegzunehmen, das mir wichtig war. Notfalls mit eiskalten Mitteln. Aber hast du ein schlechtes Gewissen? Nein, du beutest mich ohne mit der Wimper zu zucken aus und ich dämliches Schaf lasse das zu. Doch das hat ein Ende, weil ich nicht mehr für dich arbeiten will, du … du …“ Ihr fiel kein passendes Schimpfwort ein, und jene, die ihr in den Sinn kamen, wollte sie den Anwesenden nicht zumuten. „Ich kündige, und zwar fristlos.“ Tiff schnappte nach Luft. „Such dir eine andere Dumme, die für dich die Drecksarbeit macht. Ich bin raus.“ Emma zog an der Masche ihrer Schürze, zerrte sie sich förmlich vom Körper und schleuderte sie Tiff vor die Füße. Dann eilte sie in die Küche, um ihre Tasche zu holen und das Geheimgewürz einzustecken. Im Gastraum zurück, drängte sie sich an ihrer Schwester vorbei. Als Emmas Blick jedoch auf den roten Kapuzenmantel fiel, der am Haken der Bürotür hing, blieb sie wie gelähmt stehen.

      „Gehört der Mantel dir?“ Bleiern wandte sie sich Tiff zu, die sie spöttisch von oben bis unten betrachtete.

      „Eifersüchtig auf das Einzelstück?“ Ihr Lachen war widerwärtig.

      „Du bist Brandons Affäre?“, flüstere Emma ungläubig. „Mein Mann hat mich mit der eigenen Schwester betrogen?“ Ein entsetztes Raunen ging durch den Raum. „Wie konntest du nur?“

      „Du kennst seine Einstellung. Für ihn warst du nur das hässliche kleine Entlein. Welcher Mann gibt sich nicht lieber mit dem schönen Schwan ab? Tja, und Angie ist unser Codewort gewesen, wie meine ständigen Dates nur erfunden waren.“

      Alle Blicke waren auf Tiff gerichtet. Entsetzte und angewiderte. Selbst das schien sie nicht zu merken, wie sie nichts mehr um sich herum merkte. Vielmehr fühlte sie sich scheinbar über alles und jeden erhaben. Im Recht. Sogar jetzt noch. „Du widerst mich an, Tiff.“

      „Damit kann ich leben.“ Sie lachte gehässig. Doch niemand lachte mit. In der Konditorei blieb es mucksmäuschenstill. Bebend vor Zorn trat Emma vor ihre Schwester hin, die noch immer lachte - bis sie ihr eine schallende Ohrfeige verpasste. Das klatschende Geräusch erfüllte die Luft. Abrupt verstummte Tiff und fuhr sich mit geweiteten Augen an die linke Wange, auf der sich ein dunkler Fleck abzeichnete. „Das wirst du büßen“, zischte sie und schaute sich hastig um, als würde ihr erst in diesem Moment bewusst, dass sie nicht alleine waren.

      „Zeig mich an, verklag mich oder mach sonst etwas. Es ist mir egal. Aber wenn du glaubst, dass du dich in meinem Haus breitmachen kannst, hast du dich geschnitten. Brandon kannst du hingegen behalten. Ich schenke ihn dir mit dem größten Vergnügen, weil ich schon lange nicht mehr glücklich bin. Insofern muss ich dir sogar dankbar sein, dass du mir die Augen geöffnet hast.“ Emma wusste, dass sie ihre Schwester damit am meisten traf. „Dein ursprünglicher Plan, mir eins reinzuwürgen, ist somit gescheitert. Aber irgendwann kommt alles zurück.“ Emma beugte sich näher zu Tiff. „So was nennt man Karma“, flüsterte sie. „Viel Glück. Du wirst es brauchen.“

Grafik 31

      „Die haben applaudiert, als du aus der Konditorei gerannt bist? Ernsthaft?“, vergewisserte sich Grant, mit dem sich Emma am nächsten Tag im Hyde Park verabredet hatte. Als IT-Manager konnte er sich die Zeit frei einteilen und arbeitete meistens im Homeoffice.

      „Peinlich, was?“ Trotz ihres schlechten Gewissens, sich vor allen Leuten derart gehen zu lassen, freute sich Emma über den Zuspruch der Gäste und Angestellten, der sie bestärkt hatte. In einem Augenblick, als sie sich unendlich schwach fühlte und gleichzeitig nie stärker gewesen war. „Ich bin immer noch fassungslos“, stieß sie aus. „Brandon und meine Schwester! Wie konnte sie so tief sinken?“ Es war unbegreiflich. Dabei hatte sie gedacht, Tiff hätte sich schon alles geleistet.

      „Wenn du mich fragst, passen die zwei ausgezeichnet zusammen.“

      „Das ist wahr. Trotzdem finde ich keine Worte dafür.“ Eine Weile schwiegen sie. „Was für eine Wendung! Bis vor kurzem hatte ich einen Ehemann, einen Job und zumindest im Ansatz eine Familie. Jetzt habe ich gar nichts mehr.“ Hinzu kam Emmas Sorge wegen dem Personal. Durch ihre Kündigung hatte sie es ihnen nicht einfacher gemacht. Andererseits wollte sie keinen Tag länger für Tiff arbeiten und für Alice würde sich eine Lösung finden lassen. Linda hatte viele Kontakte. Womöglich konnte der Concierge weiterhelfen.

      „Vielleicht musste es so kommen. Damit du das Neue siehst, sobald sich der aufgewirbelte Staub gelegt hat“, philosophierte Grant, dessen Leidenschaft die Oper und alte Literatur war. Deshalb hielt er sich oft stundenlang in Camillas Buchladen auf, die sogar eine Zeit lang geglaubt hatte, er würde auf sie stehen.

      „Glaubst du?“ Ein kleiner Lichtblick in dieser Misere wäre zu schön, um wahr zu sein.

      „Ich bin sogar felsenfest davon überzeugt, dass es ab heute bergauf gehen wird. Mit freier Fahrt voraus.“ Grant legte den Arm um ihre Schulter und zog sie liebevoll an sich. Wie ein Paar schlenderten sie weiter, obwohl er bestimmt lieber Linda im Arm gehalten hätte. Seit Jahren liebte er ihre Freundin und hatte Emma häufig sein Leid geklagt, die ihm riet, offen mit ihr darüber zu reden. Grants Selbstbewusstsein war leider ähnlich verkümmert wie Emmas. Er traute sich nicht. Aufgrund seiner Krankheit, seines Äußeren und anderen Dingen. Ebenso wenig fruchtete ihr Rat, Abstand zu halten, bis es nicht mehr so wehtat. Das schaffte ihr Freund erst recht nicht und so litt er still vor sich hin. Emma mochte sich kaum ausmalen, wie es ihm gehen würde, sofern sich Linda eines Tages neu verlieben sollte.

      „Was hältst du davon, wenn wir morgen gemeinsam zum Arzt gehen?“, schlug Emma vor, da jeder Schritt eine Tortur für Grant war, wie sie seinem schmerzerfüllten Gesicht ablesen konnte. „Zeit genug hätte ich, um dich zu begleiten.“

      „Themenwechsel“, zeigte er sich stur. „Ich hasse Ärzte.“

      „Aber sie können dir helfen.“

      „Meinst du so wie meiner Mom?“ Die Furcht war deutlich zu hören. Grant wuchs mit drei Geschwistern auf. Seine Mutter hatte hart gearbeitet, um die Familie durchzubringen, da sein Vater über Nacht verschwand. Nach drei Jahren heiratete sie erneut. Grant verstand sich blendend mit seinem Stiefvater, der sich rührend um die Mutter kümmerte, die ebenfalls einen weiten Bogen um jeden Arzt machte. Ungeachtet ihrer Schmerzen durch die Verformung der Wirbelsäule und dem Buckel, der sich im Laufe der Jahre entwickelte. Eines Tages hatte Grants Stiefvater sie bewusstlos aufgefunden und sofort ins Krankenhaus gebracht. Dort stellte man einen sehr schweren Krankheitsverlauf fest, der eine Operation unumgänglich machte. Bedauerlicherweise endete dieser Eingriff damit, dass sie seitdem im Rollstuhl saß. Grants größter Albtraum.

      „Natürlich ist es schlimm, was deiner Mutter passiert ist. Doch sogar sie und dein Stiefvater raten dir eine gründliche Untersuchung an. Je eher du etwas dagegen unternimmst, desto besser.“

      „Genauso gut könnte ich von dir fordern, sofort zu deinen Eltern zu fahren und die Sache mit dem Lesezeichen zu klären. Tust du es denn? Oder schiebst du es vor dich her?“

      „Ich schiebe“, gab Emma zerknirscht zu. Ein gutes Vorbild war sie tatsächlich nicht, obwohl der Vergleich hinkte. Seine Krankheit war um einiges schlimmer. „Leider macht es der Zwischenfall mit Tiff nicht einfacher.“ Innerlich haderte Emma damit, dass der erhoffte Anruf ihrer Mutter ausblieb. Möglicherweise hatte das Lesezeichen keinerlei Bedeutung. „Definitiv muss ich mit ihnen reden. Zumindest mit Mom. Nur wie und wo, das steht in den Sternen. Außerdem läuft mir die Zeit davon. Sie fliegen bald in den Urlaub.“

      „Das wird schon. Nur Mut. Immerhin hast du deiner Schwester endlich die Stirn geboten und Brandon darf sich mit dieser Anwältin herumschlagen. Du bist längst nicht mehr das Mäuschen von vor ein paar Tagen.“

      „Keiner ändert sich von heute auf morgen und Gewalt ist keine Lösung.“ Die Ohrfeige lag ihr im Magen. Obwohl sie gutgetan hatte. Dennoch hätte sie sich nie dazu hinreißen lassen dürfen.

      „Das behauptet niemand. Und Tiff wird es verkraften.“ Er lächelte. Dann genossen sie die Stille im Hyde-Park. Eine riesige Grünfläche im Herzen Londons, die weder Straßenlärm noch Hektik kannte. Nur das Rauschen des Windes war