Bettina Reiter

Ein fast perfekter Winter in St. Agnes


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würde vieles plausibler machen“, rief Emma aus, die sich völlig überfordert fühlte. „Die Tatsache, dass meine Geschwister mehr gelten als ich. Meine Gefühle, ein Fremdkörper zu sein und das Äußere. Tiff und Kim sind beide blond wie … Dad es früher war.“ Es fiel ihr plötzlich schwer, Ben so zu nennen. „Nur Mom hat schwarze Haare.“

      „In der Tat wäre es möglich“, bestätigte Grant ihren Eindruck, der den Reißverschluss seines Parkas öffnete. Das Geräusch war für einen Augenblick das einzige im Raum. „Andererseits ist es schwer vorstellbar, dass sie das vor dir verheimlichen. So gemein kann kein Mensch sein.“

      „Darauf würde ich keine Wette abschließen“, meinte Emma mit einem metallischen Geschmack auf der Zunge.

      „Jetzt brauche ich ein Cola-Rum“, ließ Linda verlauten, legte das Lesezeichen auf den Tisch und erhob sich. Im Nu zog sie sich die Handschuhe aus und warf sie achtlos neben die Vase. „Wollt ihr auch eins?“ Grant und Emma nickten. Nur eine Minute darauf standen randvolle Gläser vor ihnen.

      Wie die anderen sog Emma kräftig am gelben Strohhalm. Lindas Lieblingsgetränk war ziemlich stark. „Wenn das so weitergeht, werde ich über kurz oder lang an der Flasche hängen“, sagte sie mit Galgenhumor, nachdem sie sich zurückgelehnt hatte und deutlich die starre Sessellehne spürte. Als stünde sie mit dem Rücken zur Wand. Nicht anders war diese Situation zu beschreiben.

      „Was mich nicht wundern würde.“ Grant schälte sich aus seinem Parka und hängte ihn über die Stuhllehne. Linda trug nach wie vor ihren beigen Kurzmantel und als würde sie sich erst jetzt darauf besinnen, zog sie sich die Baskenmütze vom Kopf. Schwungvoll landete sie neben dem Lesezeichen, das wie ein Brandmark vor Emma lag. „Wo ist dieses Wheal Coates eigentlich? In St. Agnes?“

      Emma nickte. „Ich habe vorhin gegoogelt. Es gehört zu den Wahrzeichen des Ortes und sieht auf den Bildern ziemlich romantisch aus. Eine alte Zinn-Mine, sofern ich richtig gelesen habe.“

      „Was willst du jetzt mit den Informationen anfangen?“, erkundigte sich Linda.

      „Keine Ahnung.“ Emma schaute auf ihr Handy. Bis zu ihrem Besuch bei Camilla hatte sie es ausgeschaltet, da Tiff in Fünf-Minuten-Abständen anrief. Seitdem sie die Bücherei verlassen hatte, war es wieder in Betrieb. Irrwitzigerweise hoffte sie, dass sich ihre Mutter wegen dem fehlenden Lesezeichen melden würde. Inzwischen müsste sie die Tasche längst haben. Inklusive der Information, dass Emma das Lesezeichen bei ihrem überstürzten Aufbruch in der Hand hielt, was ihrer Tante sicher nicht entgangen war. Doch es war wiederholt Tiff, die anrief. „Es fühlt sich an, als wäre mein bisheriges Leben eine einzige Lüge gewesen“, stieß Emma aus. „Nicht genug, dass sie mir vermutlich den Vater vorenthalten haben, strafen sie mich sogar mit Gleichgültigkeit. Wer weiß, wie anders mein Leben verlaufen wäre, hätte ich ihn gehabt.“

      „Das sind reine Spekulationen“, gab Linda sanft zu bedenken. „Vielleicht war er ein ganz mieser Kerl, vor dem sie dich beschützen wollten.“

      „Denkst du das wirklich?“ Emma verließ den Tisch, weil sie es nicht mehr aushielt, und stellte sich zum Fenster. Sanft plätscherte die Themse vor sich hin. Über die Jubilee Bridge strömten viele Menschen mit ihren bunten Regenschirmen. Trist und grau zog der Abend heran, gegen den sich allmählich die Lichter der Stadt behaupten würden. Ob auf dem Riesenrad London Eye, hinter den Fenstern des Westminster Palace oder am Big Ben, den man ebenfalls von hier aus sehen konnte. Offiziell der Elisabeth Tower, da nur die schwerste der fünf Glocken Big Ben hieß, aber wie viele Londoner benutzte auch Emma die alte Bezeichnung für den Turm. Manches änderte sich eben nicht aufgrund eines Namens. Manches jedoch schon.

      Wie dieser R. wohl aussah? Ob sie ihm ähnlich war? In der Art? Im Äußeren? War er gutmütig? Eigen? Besaß er Humor? Doch in der Tat waren es nur Hypothesen. Vielleicht hatte jemand ein Zitat aus irgendeinem Buch auf das Lesezeichen geschrieben. Mit dem Namen ihrer Mutter. Aus Jux oder Tollerei. Eine von vielen Erklärungen, die sich trotz aller Vernunft nicht richtig anfühlten. Weil Emma etwas Unbeschreibliches empfand. Ein Gefühl, als würde sie nach langem Herumirren in einem Labyrinth zum ersten Mal den Ausgang sehen. „Glaubt ihr, dass ich mich zu sehr hineinsteigere?“ Sie wandte sich zu ihren Freunden um und setzte sich auf die weiche mintgrüne Sitzauflage, die auf der breiten Fensterbank lag.

      „Ich kann verstehen, dass dich das stutzig macht“, antwortete Grant, der einen erbsengrünen Pullunder mit V-Ausschnitt über dem weißen Hemd trug, eine graue Fliege und eine schwarze Bundfaltenhose. Sein altmodischer Kleidungsstil hatte schon die Aufmerksamkeit einiger Scouts auf sich gezogen, die Bilder von ihm auf Instagram veröffentlichten. „Wen würde es nicht zum Nachdenken bringen? Sicherheit wirst du jedoch erst haben, wenn du deine Eltern damit konfrontierst. Auch Gesten oder Reaktionen können eine Antwort sein, ohne dass jemand den Mund aufmacht. Verlass dich auf deinen Bauch, Emma. Womöglich hat er dir von Anfang an das Richtige gesagt.“

      „Ich muss Grant beipflichten.“ Hastig sog Linda am Strohhalm, deren Glas beinahe leer war. „Du hattest einen Verdacht. Jetzt hat er sich erhärtet. Finde heraus, was es damit auf sich hat. Nur bitte verliebe dich nicht bereits jetzt in den Gedanken, dass du einen anderen Vater hast. Einen, der dich lieben wird. Bei dem du es gutgehabt hättest. Ich weiß, das hast du dir immer gewünscht. Allerdings ist das Leben kein Wunschkonzert und nicht jeder Mann ist automatisch ein guter Dad. Aber wem sage ich das.“

      „Keine Sorge, ich mache mir keine Illusionen, denn mir ist bewusst, dass alles möglich sein kann“, versicherte Emma. „Obwohl ich das seltsame Gefühl nicht ignorieren kann.“

      „Was ist eigentlich mit der Telefonnummer?“, warf Grant ein.

      „Kein Anschluss unter dieser Nummer.“ Es wäre auch zu einfach gewesen.

      Die Türglocke setzte ihrem Gespräch ein jähes Ende.

      „Das wird der Pizzalieferant sein.“ Linda sprang vom Tisch hoch und knöpfte hastig den Mantel auf. „Ich habe mir am Nachmittag erlaubt, eine Kleinigkeit für uns zu bestellen. Wir haben ja deinen Geburtstag nicht gefeiert und unser Geschenk hast du ebenfalls nicht bekommen. Also lasst uns das Beste aus diesem Abend machen.“ Mit schwingenden Hüften und dem Mantel über dem Unterarm eilte Linda in den Korridor hinaus. „Was willst du denn hier?“, ertönte plötzlich ihre schrille Stimme.

      „Ist meine Schwester bei dir?“

      Tiff!

      Wie von einer Tarantel gestochen stürzte Emma zum Tisch und schnappte sich das Lesezeichen, das sie sich in die Gesäßtasche ihrer Jeans schob. Gerade rechtzeitig, weil Tiff bereits im Türrahmen erschien und sie mit funkelnden Augen anstierte.

      „Ich habe dich nicht hereingebeten“, schimpfte Linda, die sich drohend neben Tiff aufbaute.

      „Reg dich ab. Ich bin gleich weg. Eigentlich wollte ich nur nach meiner ach so kranken Schwester sehen, die uns heute kläglich im Stich ließ.“

      „Mir geht es wirklich nicht gut“, verteidigte sich Emma. Wie armselig. Kaum kreuzte Tiff auf, kuschte sie. Dabei war sie eine erwachsene Frau, keine Leibeigene oder ein kleines Kind.

      „Das sehe ich.“ Tiff blickte zum Tisch. „Gibt es etwas zu feiern?“

      „Mit Cola?“, machte sich Linda lustig über sie. „Ich bitte dich.“

      „Deinem Atem nach ist es mit Rum gestreckt“, konnte sie Tiff nichts vormachen, die wieder umwerfend aussah in ihrem schwarzen Satinmantel mit dem Leopardenmuster auf der Schulter und den kniehohen Lack-Stiefeln, die schmutzige Abdrücke auf dem glänzenden hellbraunen Marmorboden hinterließen. „Warum starrst du mich so an, Emma?“, fragte Tiff schnippisch. „Neidisch, weil ich im Gegensatz zu dir vorzeigbar bin?“

      Ihre Annahme war nicht weit hergeholt, denn Brandons Vorwurf hämmerte in Emmas Kopf. Es stimmte, dem Vergleich mit den Schwestern hielt sie niemals stand. Besonders was Tiff betraf.

      „Falls du gekommen bist, um Emma zu beleidigen, kannst du gleich wieder gehen“, sprang Linda für sie in die Bresche. Eigentlich hätte Emma etwas in der Art sagen müssen. Um endlich