einziger Lichtblick war Lucas gewesen. Obwohl der Junge nicht sein Sohn war, hatte er ihn von Anfang an ins Herz geschlossen und sich mehr um ihn gekümmert als Trish. Das führte zu weiteren Spannungen und Roger in den plötzlichen Wahn, Annie wiederhaben zu wollen. Er hatte sich regelrecht in die Vorstellung hineingesteigert. Wahrscheinlich, weil sie so anders war als Trish. Aufrichtiger, liebevoller.
Roger wurde beinahe übel beim Gedanken daran, was er in der Vergangenheit alles gesagt und getan hatte. Vieles flog ihm um die Ohren, seitdem er mit sich selbst ins Gericht ging. Mit dem Menschen, der er geworden war. Doris hatte ihm in dieser Zeit am meisten geholfen. Als eine der wenigen trat sie ihm neutral entgegen und wusste inzwischen über alles Bescheid. Auch darüber, dass er unter der Trennung von Lucas litt. Aber mit Trish war nicht zu reden gewesen, als er sie in London um Besuchserlaubnis bat. Nur die Höhe des Unterhalts interessierte sie. Denn ob Lucas sein Sohn war oder nicht, er war während ihrer Ehe geboren worden und somit galt Roger als Vater. Obwohl er nichts von ihm hatte. Vielleicht war das von Anfang an Trishs Plan gewesen. Sie hatte einen Dummen gesucht, der sie versorgte. Gut versorgte, angesichts der horrenden Unterhaltsforderungen.
Doris hatte wie ein Rohrspatz über Trishs Verhalten geschimpft und stand ihm in dieser schwierigen Sache bei. Nun brauchte seine Nachbarin selbst Hilfe und er hatte keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen sollte. Finanziell gab es nichts bei ihm zu holen. Die Raten für das Haus verschlangen sein halbes Gehalt. Allerdings würde Doris sowieso keinen Cent von ihm annehmen. Also musste er andere Wege finden, um ihr zu helfen. Unbemerkt, denn sie hatte einen ausgeprägten Stolz. Obwohl sie ihn sich nicht leisten konnte. Aber die Pension bedeutete ihr alles und war ihr Lebenswerk.
Zuversichtlicher als er war, prüfte Roger neuerlich die Unterlagen. Mit demselben Ergebnis wie Larissa zuvor. Die Pension würde über kurz oder lang Bankrott machen.
Bis zum späten Nachmittag zermarterte er sich den Kopf darüber, was er tun könnte. Erst als er sich nach Dienstschluss im Feinkostladen ein Brötchen holen wollte, kam ihm eine Idee mit Blick zum gegenüberliegenden Tourismus-Büro. Voller Unbehagen schritt er darauf zu. Als er das Gebäude betrat, blickte Josie hinter dem Empfang hoch. Ihr Lächeln verschwand sofort. Übrig blieb eine grimmige Miene.
„Was willst du?“, begrüßte sie ihn und kaute heftig am Kaugummi. Ihr Haar war mittlerweile länger und sie trug einen türkischen azurblauen Seidenkaftan. Da Josie für ihren wechselnden Modestil bekannt war, schien sie geradezu prädestiniert dafür, um hier zu arbeiten und die internationalen Gäste zu empfangen. Außerdem beherrschte sie angeblich fünf Fremdsprachen, da sie seit ihrem Umzug nach St. Agnes laufend Fortbildungskurse in Redruth besuchte.
„Du könntest mir einen großen Gefallen tun.“
„Dir tu ich bestimmt keinen Gefallen“, versprühte Josie weiter ihr Gift.
„Können wir nicht normal miteinander umgehen?“
„Du hast Annie übel mitgespielt. Da sie meine beste Freundin ist, erübrigt sich deine Frage, wie du dir sicher denken kannst. Außerdem fehlt mir jeglicher Respekt vor dir. Du legst alles flach, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.“
„Stimmt“, nahm er ihr den Wind aus den Segeln. „Ich war ein Schwein und Annie hat einen wie mich nicht verdient.“ Allmählich fühlte er sich wie ein Plattenspieler, der ständig dasselbe Lied abspielte. „Aber sie ist jetzt glücklich. Das freut mich. Glaub es oder nicht.“
„Wer soll dir diese Läuterung abnehmen?“ Bei jedem Atemzug glitzerte der breite silberne Rundhalsausschnitt mit den vielen Glitzersteinchen. „Sorry, aber ich bin nicht der Papst. Selbst der hätte seine Zweifel bei deiner Biografie.“
„Hilfst du mir nun oder nicht?“ Josie überhaupt in Betracht gezogen zu haben schien einer seiner dümmsten Einfälle gewesen zu sein.
„Wieso? Soll ich dir Hotels nennen, in denen junge Frauen abgestiegen sind? Findet sich ansonsten keine Touristin für den notgeilen Sanders?“
Die ständigen Spitzen taten allmählich weh. „Es geht um Doris.“
Ihr verkniffenes Gesicht nahm einen erschrockenen Ausdruck an. Immerhin zählte Doris zu den Legenden des Ortes und man ließ die ältere Generation in St. Agnes hochleben. „Was ist mit ihr? Ist sie krank?“
„Das nicht, aber sie kommt finanziell kaum über die Runden. Könntest du ihr vielleicht regelmäßig ein paar Gäste vermitteln?“
„Wie soll das gehen?“ Jetzt hatte ihre Stimme wenigstens einen normalen Ton.
„Na ja, bei dir schneien täglich Touristen herein, um sich nach freien Zimmern zu erkundigen. Du könntest Doris’ Privatpension empfehlen.“
„Dir ist schon klar, dass ihr Haus den heutigen Standards nicht mal im Ansatz entspricht? Weder hat sie Internetanschluss noch TV-Geräte in den Zimmern. Das Klo ist am Gang und es gibt nur eine Gemeinschaftsdusche. Von der alten Einrichtung ganz zu schweigen.“
„Mag sein, dafür ist die Lage ein Traum“, versuchte er ihr die Sache schmackhaft zu machen, obwohl ihm klar war, dass er eine Fachfrau vor sich hatte. „Lass uns Doris helfen.“
Josie kniff die Augen zusammen. „Sieh an, du hast ja doch Gefühle“, murmelte sie. „Gut. Ich werde mein Bestes geben, aber versprechen kann ich nichts.“
3. Kapitel
Emma starrte auf das Lesezeichen vor sich auf dem Tisch und hatte keine Ahnung, wie sie zu Lindas Appartement gekommen war. Weil sie sich wie ferngesteuert fühlte und so viele Fragen hatte, die auf so vieles eine Antwort wären.
„Ich bin zuhause, Liebling“, flötete Linda lachend zur Wohnungstür herein. „Und ich habe jemand mitgebracht.“ Kaum war das letzte Wort verklungen, kam sie mit Grant im Schlepptau ins Wohnzimmer. Beide blieben jäh stehen. „Du liebe Zeit, ist etwas passiert?“
Wortlos schob Emma das Lesezeichen in Lindas Richtung. Mit dem Gefühl, als würde sie heißes Eisen anfassen.
„Was ist das?“, wunderte sich ihre Freundin, schlüpfte aus den beigen High Heels und trat zum Tisch. Grant folgte ihr und beäugte neugierig das Lesezeichen, das Linda in die Hände nahm, die in Angora-Handschuhen steckten. Ihre Freunde hatten gut durchblutete Wangen und dufteten nach frischer Winterluft. „Eine Telefonnummer?“ Auf einmal erhellte sich Lindas Gesicht. „Etwa von Mr. X?“
„Ich denke, sie ist von meinem Dad“, stellte Emma richtig. Unwissend, ob es tatsächlich so war, denn es klang seltsam. Immerhin hatte sie einen Vater. Seit einunddreißig Jahren. Dennoch ließ dieses Lesezeichen einen anderen Schluss zu.
„Und das wirft dich so aus der Bahn?“ Linda setzte sich, während Grant mit beiden Händen die Sessellehne umspannte und Emma mit einem ähnlich fragenden Blick bedachte wie ihre Freundin.
„Lies die Rückseite“, forderte Emma sie auf.
Linda drehte das Lesezeichen um. „Wir finden eine Lösung, Claire“, las sie laut vor. „Besonders für die Kleine. Bitte lass uns darüber reden. Ich werde bei der Wheal Coates Mine auf dich warten. Um zehn Uhr, an Silvester, unserem Tag. Dein R., Dezember 1986.“ Linda schaute vom Lesezeichen zu Emma und wieder zurück. Ihre Lippen bewegten sich, als sie sich erneut in die Zeilen vertiefte.
„Was bedeutet das?“, fasste sich Grant als Erster, der zwischen Emma und Linda Platz nahm. Umständlich wie ein alter Mann. Bei jeder Bewegung hörte man ein Knacken in seinen Knochen. „Woher hast du das Lesezeichen überhaupt?“ Er zog sich die graue Kappe vom Kopf und legte sie auf den Tisch. Die obligatorische Brille fehlte. Hin und wieder griff er zu Linsen, wenngleich ungern. Nicht selten zog er sich eine satte Augenentzündung zu. Da er aber blind wie ein Maulwurf war, konnte er weder auf das eine noch auf das andere verzichten.
„Aus der Tasche meiner Mutter“, erteilte Emma Auskunft.
Abrupt schaute Linda hoch, die allmählich