Bettina Reiter

Ein fast perfekter Winter in St. Agnes


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machen, um daraus zu lernen.“ Mit flinken Händen holte sie einen Teller aus dem Schrank über sich und stellte ihn auf die Arbeitsplatte. „Und ganz unter uns: Was hätte mein Einmischen genützt? Du hättest dir nichts sagen lassen. Genauso wenig wie bei deiner Trinkerei. Hätte ich dir ins Gewissen geredet, wärst du rund um die Uhr besoffen gewesen. Du warst ohnehin nahe daran.“ Sie schöpfte Reisauflauf in den Teller, legte die Kelle ab und drehte sich zu ihm um. „Ich habe dich bei der Bank verpfiffen. Die Abmahnung geht demnach auf meine Kappe.“

      „Du hast dafür gesorgt?“, entfuhr es Roger, der insgeheim schmunzeln musste. Das schlechte Gewissen stand ihr förmlich ins faltige Gesicht geschrieben.

      Sie nickte. „Jetzt kannst du mich erschießen.“

      „Wenn wir unter dem Mistelzweig stünden, würde ich dich eher küssen.“

      „Du bist nicht böse?“, vergewisserte sie sich und starrte ihn mit ihren großen blauen Augen an, die sie wie üblich mit blauem Lidschatten betonte. Das schwarze Lockenhaar erinnerte an die Wildheit des Meeres. Ihre schmale Gestalt an einen zarten Ast, der jede Sekunde zu zerbrechen drohte. Doch das täuschte. Doris war die stärkste Frau, die er je kennengelernt hatte.

      „Anfangs war ich natürlich nicht erfreut, aber mit Abstand betrachtet hast du mir damit einen großen Gefallen getan.“ Roger verließ den Tisch und trat vor Doris hin, die zwei Köpfe kleiner war. „Du hast mich vor einer Riesendummheit bewahrt. Ab jetzt beginnt ein neues Leben und ehrlich gesagt hätte ich dieses Haus bis vor kurzem am liebsten verkauft. Ich bin froh, dass ich es nicht getan und dich weiterhin an der Backe habe. Du bist stur wie ein Esel, neugierig und redest am liebsten den ganzen Tag lang.“ Sie lächelte ihn spitzbübisch an und zeigte ein makelloses drittes Gebiss. Auf ihr Aussehen legte Doris extremen Wert und war früher eine wunderschöne Frau gewesen, wie alte Aufnahmen bewiesen. „Nebenbei liebenswert, mütterlich und eine der wichtigsten Personen in meinem Leben. Jetzt weiß ich auch wieder, was mich in St. Agnes hält. Menschen wie du und wenn du jünger wärst, könnte ich für nichts garantieren“, neckte er sie.

      „Ach Roger, für mich wärst du als Toy-Boy viel zu alt.“ Sie lachte schallend. „Und nun lass uns essen“, verkündete sie übermütig, als sie sich beruhigt hatte. „Danach sollten wir über dein Haus sprechen. Ich bin es leid, dieses traurige Etwas ständig vor Augen zu haben.“

      „Wir können über vieles reden“, wehrte sich Roger im Wissen, was sie mit ihrer Aussage bezweckte, „aber der Mistelzweig ist für meine Begriffe genug an Weihnachtsdekoration. Ich hasse dieses Fest und bin froh, wenn es vorbei ist.“

      „Bei mir ist es genau andersherum“, entgegnete sie mit glänzenden Augen, „Weihnachten hat eine ganz eigene Magie. Vor allem in St. Agnes. Eines Tages wirst du sie auch spüren. Lass mich nur machen, Kleiner.“

Grafik 28

      „Den zerquetsche ich wie eine Fliege.“ Mrs. Hart-Divorces Faust klatschte gegen die flache Hand, während sie hinter dem Schreibtisch einige Schritte hin und her stapfte. Wiederholt fragte sich Emma, ob sie tatsächlich eine gute Entscheidung getroffen hatte. Diese maskuline Frau im grauen Kostüm mit der riesigen Masche am Hinterkopf - die ihren rattengrauen Pferdeschwanz zusammenhielt - wirkte nicht wie eine Anwältin, sondern wie ein Guerilla-Kämpfer. „Sind Sie dabei, Prinzessin?“

      „Äh, meinen Sie mich?“ Emma blickte schnell hinter sich, bevor sie erneut die Anwältin ins Auge fasste, die mittlerweile wie eine Salzsäule vor dem verstaubten Fenster stand. Gurrende Tauben tummelten sich draußen auf dem schmalen Sims. Manche trafen mit dem Schnabel das Glas. Es hörte sich an, als ob sie hereinwollten. Emma hätte die andere Richtung bevorzugt.

      „Wen soll ich sonst meinen? Den Grinch?“ Die Anwältin lachte hölzern auf. Immerhin bewies sie einen guten Filmgeschmack. „Grün genug wären Sie ja. Haben Sie Schiss?“ Mit zwei Schritten war sie am Schreibtisch, richtete ihre Hornbrille und stützte sich schließlich mit beiden Händen am blank polierten Holz auf. Bedrohlich beugte sie sich zu Emma, die ihren Kopf einzog. „Oh ja, Sie haben Schiss“, lag diese Verrückte völlig richtig. „Und wie. Aber keine Angst, Täubchen. Den zerreiße ich in der Luft. Zum Schluss werden Sie nicht nur ein Haus haben, sondern ein sattes Sümmchen nebenbei.“ Mrs. Hart-Divorce richtete sich zur vollen Größe auf und stemmte die Hände in die üppigen Hüften. „Wie ich solche Arschgeigen hasse! Wir Frauen sollen rund um die Uhr schön und perfekt sein. Doch wenn sich die Kerle gehen lassen, Speckbäuche ansetzen und regelmäßig Hochzeitstage sowie Geburtstage vergessen oder sogar fremde Namen beim Sex stöhnen, nennen sie das liebenswerte Marotten. Pah, da wird mir speiübel!“

      Ohne Zweifel, diese Frau sprach aus eigener Erfahrung.

      „Nun ja, mir wäre eine friedliche Trennung am liebsten, Mrs. Hart-Divorce.“

      „Friedlich?“, wiederholte die Anwältin in einer Lautstärke, dass sich die Tauben erhoben und mit heftigen Flügelschlägen das Weite suchten. „Glauben Sie, dass ich mir umsonst diesen Künstlernamen zugelegt habe? Er ist Programm, Prinzessin, und ich habe bereits viele Paare geschieden. Meine Wenigkeit eingeschlossen. Alle Frauen waren überaus zufrieden mit dem Ergebnis. Zumindest die, die auf mein Kommando gehört haben. Die anderen Senkrechtstarterinnen landeten schneller auf dem Boden der Tatsachen, als es ihnen lieb war und besitzen nichts mehr. Nichts. Verstehen Sie?“

      Emma nickte heftig. „Nun, vielleicht wäre es einen Versuch wert?“, wagte sie selbst einen.

      „Dann haben wir bereits verloren, Prinzessin.“ Diese Frau sah aus wie ein Mann und sprach wie ein Mann. „Nur die Harten kommen in den Garten. Wissen Sie, wie der Spruch weitergeht?“

      „Äh … das Böse kommt überall hin?“

      Erneut stützte sie sich auf dem Schreibtisch auf. „Genau“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Und in dem Fall bin ich das Böse.“

      „Okay“, erwiderte Emma mit gezwungenem Lächeln und sprang hoch. „Leider muss ich zu meinem nächsten Termin. Ich melde mich bei Ihnen.“

      Die Anwältin zog einen Bleistift aus der orangen Stift-Box neben ihrem PC und schob ihn sich hinter das linke Ohr. „Gar nichts werden Sie. Ich kenne diesen Blick. Höre förmlich die Frage, ob ich etwas taugen würde. Eine Frau in einem Männerkörper, mit einer Stimme, als hätte sie morsche Zahnräder im Kehlkopf. Glauben Sie mir, ich bin die Beste. Weil ich ein Gespür dafür habe, mit welchem Ex man sich einigen kann und mit welchem nicht. Dafür muss ich nur die Vorgeschichte hören. Ihre sagt mir, dass der liebe Brandon alles will. Das Betthäschen, ihr gemeinsames Haus und einige Millionen. Notfalls vom Konto Ihres Vaters. Dafür wird er zu Mitteln greifen, die Sie sich nicht einmal in Ihren kühnsten Albträumen ausmalen könnten. Und den Anfang macht er mit dem Unbekannten, mit dem er Ihnen eine Affäre nachsagen wird, die Sie natürlich vor Brandon hatten. Deswegen wird sich dieser so verkaufen, dass er nur aus Verzweiflung über Ihren Betrug mit dieser Angie ins Bett gestiegen ist. Immerhin waren Sie die Liebe seines Lebens.“

      Entsetzt starrte Emma sie an. „Das stimmt hinten und vorne nicht!“

      Die Anwältin lächelte mitleidig. „Wir zwei wissen das, und ich glaube Ihnen. Doch tun das auch die anderen, wenn es hart auf hart kommen sollte?“

      „Ich schicke Ihnen alle erforderlichen Unterlagen“, entschied Emma in derselben Sekunde. „Bitte übernehmen Sie meinen Fall.“

      Ein Siegerlächeln wurde ihr zuteil. Allerdings nicht arrogant, sondern eher, als hätten sie einen Geheimbund geschlossen. „Seien Sie versichert, dass ich die Lage genau checken werde. Wenn ich nur den geringsten Anlass sehe, dass wir in Frieden das Schlachtfeld verlassen können, werde ich Ihren Wunsch berücksichtigen. Wenn nicht, kann man Brandons Reste von einer Mauer kratzen. Und noch etwas, Prinzessin: Kleidung macht zwar Leute“, sie deutete allen Ernstes auf sich selbst, „und der erste Eindruck ist entscheidend, allerdings versteht es nicht jeder, seine Vorzüge hervorzuheben, wie ich es zu tun vermag.“

      „Aha.“ Von dem Selbstbewusstsein konnte sie sich