Bettina Reiter

Ein fast perfekter Winter in St. Agnes


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„Jedenfalls will ich damit sagen, dass Sie in Ordnung sind, Emma. Lassen Sie sich von niemand etwas anderes einreden. Ihr Mann hat scheinbar keine Augen im Kopf. Übrigens wäre es gut, wenn Sie den Unbekannten finden würden. Nur für den Fall der Fälle.“

      Emmas Herz klopfte hart gegen die Brust. „Haben Sie vergessen, dass ich seinen Namen nicht kenne?“

      Eigentümlich blickte die Anwältin sie an. „Schon gut, wir werden auch ohne ihn auskommen.“

      „Das müssen wir wohl“, stotterte Emma und wurde von der Anwältin zum Lift begleitet. Fünf Minuten später trat sie ins Freie und atmete tief durch. Dabei ließ sie ihren Blick über den großen Vorplatz schweifen, der von Hochhäusern umringt war. Einige Bäume zauberten etwas Farbe in das triste Bild. Menschen eilten aus allen Richtungen heran. Mit Aktenkoffern in den Händen, dem Handy am Ohr oder mondän gekleidet, als wären sie auf dem Weg in die Oper. So viele verschiedene Leute, die aneinander vorbeiliefen. Deren Leben sich kurz kreuzten, ohne dass sie sich wahrnahmen. Weil sie alle etwas gemeinsam hatten: Sie wirkten gehetzt.

      Bis gestern hätte Emma eine von ihnen sein können. Nicht anders war sie zur Arbeit gegangen. Hatte Einkäufe erledigt oder war nach Hause geeilt. Mit dem Handy am Ohr, weil es immer etwas zu besprechen, zu lösen oder zu beantworten gab. War das wirklich alles, was man vom Leben erwarten durfte? Im Laufschritt durch die Kindheit, im Dauerlauf durch das Erwachsenensein, um schließlich atemlos vor dem Tod zu stehen? Mit dem Blick auf alles, das man sich im Laufe der Zeit erarbeitet hatte. Dennoch mit dem Wissen, dass man nichts mitnehmen konnte, außer Erinnerungen. Und nichts anderes ließ man letzten Endes zurück: Erinnerungen an sich selbst. Stellte sich bloß die Frage, wer sich an sie erinnern würde?

      Kurzerhand verscheuchte Emma die düsteren Gedanken und beschloss, bei ihrer Tante Camilla vorbeizuschauen. Viel zu lange hatte sie die Buchhandlung nicht mehr aufgesucht.

      Emmas Laune hob sich augenblicklich. Bewusst gemächlich spazierte sie über den Vorplatz und die Seitenstraße entlang, wo ihr roter VW-Käfer parkte. Sie hatte ihn vor dem Besuch bei der Anwältin von Zuhause geholt. Gott sei Dank war Brandon nicht dagewesen, weshalb sie Zeit hatte, einige Sachen zu packen, die nun im Käfer lagen, der aus der Menge stach. Weil er anders war, fast lebendig wirkte, obwohl auch er nur aus Blech bestand. Doch Emma kannte jede Schramme, jede Beule und alle Eigenheiten. Er sprang ungern an, wenn ihm zu kalt war und machte ziemlich viel Krach. Das war ihr anfangs äußerst peinlich gewesen. Inzwischen war sie daran gewöhnt und musste oft an die alte Mrs. Bing denken, die ihr Reddy verkauft hatte. Sehr preisgünstig. Kurz danach war ihre ehemalige Nachbarin gestorben, was Emma sehr nahe gegangen war wie die Beisetzung. Nur zwei alte Freundinnen nahmen daran teil. Verwandte hatte sie scheinbar keine gehabt. Als hätte Emma es geahnt, bat sie den Priester einen Tag zuvor, Mrs. Bing zu Ehren My Way zu spielen. Es war berührend gewesen. Vielleicht hatte es die alte Dame gehört und sich über diese Geste gefreut. Emma hoffte es.

      Umso mehr hing sie an Reddy, den sie hegte und pflegte. Auch jetzt genoss sie die Fahrt mit ihrem Käfer, obwohl der Verkehr in London mörderisch war. Besonders zur Mittagszeit, wie es gerade der Fall war. Aber sie hatte keine Eile und dieses Gefühl der Muße gefiel ihr zunehmend. Und das inmitten einer hektischen Großstadt wie London. Trotzdem war sie froh, als sie eine Stunde später einen Parkplatz für Reddy gefunden hatte, was oft wie ein Sechser im Lotto war.

      Das vertraute Ladenglöckchen verkündete Emmas Eintreten, die sich in der Bücherei umschaute und gleichzeitig die Glastür schloss. Beim Geruch der Bücher fühlte sie sich plötzlich wie das sechzehnjährige Mädchen von früher, das auf leisen Schritten durch die langen Gänge gehuscht war. Das sich manchmal in eine ruhige Nische gesetzt und den Stimmen gelauscht hatte. Dem Flüstern, das von den Seitengängen zu ihr gedrungen war. Oftmals erweckte es den Anschein, als würden die Bücher leise ihre Geschichten erzählen. Spannende, traurige, abenteuerlustige oder welche aus längst vergangener Zeit.

      „Hi. Ist Camilla da?“, erkundigte sich Emma, die an den Kassatresen trat. Eine ihr unbekannte junge Frau blickte von ein paar Unterlagen hoch. Sie trug kleine Kristallohrringe, die wie Schneeflocken aussahen, einen roten Pullover und eine Weihnachtsmütze. Eine ähnliche hatte ihr Camilla früher auch aufgeschwatzt. Emma hatte sie mit dem Gefühl getragen, als hätte sie Läuse.

      „Eben war die Chefin noch hier.“ Die Frau deutete zur Treppe. „Ich glaube, Camilla wollte nach oben. Eine Kundin hat ihre Tasche vergessen. Soll ich nachschauen, wo Mrs. Porter ist?“

      „Nein, danke. Ich werde sie schon finden.“ Emma lächelte. Die Frau lächelte zurück, bevor sie sich wieder auf ihre Arbeit konzentrierte.

      Die Buchhandlung verlief über vier Etagen. Mit einem Sortiment, das als das Beste der Stadt galt. Hier betrat man ausschließlich die Welt der Bücher - von Weihnachten natürlich abgesehen - und wurde Teil dieser ganz eigenen Atmosphäre unzähliger Worte, knisternder Seiten und lebendig werdender Protagonisten.

      Der Teppichboden schluckte Emmas Schritte. Ob auf der breiten geschwungenen Treppe oder in den Gängen. Das sanfte gelbe Licht strahlte Gemütlichkeit aus und die Ölgemälde alter Meister verliehen den Räumen eine gewisse Erhabenheit. Es hatte sich kaum etwas verändert. Sogar die alten Klassiker befanden sich immer noch im selben Regal.

      Allerdings ließ Emmas Kondition zu wünschen übrig. In der vierten Etage schnaufte sie wie nach einem Sprint und überlegte, welchen Gang sie nehmen sollte.

      „Emma! Was für eine schöne Überraschung.“ Mit ausgebreiteten Armen eilte Camilla plötzlich auf sie zu und drückte sie im nächsten Moment an ihre Brust. „Wie komme ich zu der Ehre?“

      „Ich wollte dich sehen.“ Sie lösten sich voneinander. „Und die Buchhandlung habe ich auch vermisst. Es hat sich nichts verändert.“

      „Außer meine Wenigkeit. Leider wird niemand jünger, nicht wahr?“ Lächelnd drehte sich Camilla um die eigene Achse. Die graublauen Augen sprühten wie eh vor Lebenslust und waren in kleine Fältchen gebettet, die davon zeugten, dass sie ein fröhlicher Mensch war. Ihr Gesicht mit den hohen Backenknochen strahlte Würde aus, die schlohweißen kinnlangen Haare verliehen ihr eine gewisse Vornehmheit und verleiteten viele dazu, sie mit der Hollywood-Schauspielerin Helen Mirren zu vergleichen. „Wie lange ist es her, dass wir uns gesehen haben?“ Sie zog den Hosenbund höher. Seit Emma ihre Tante kannte, trug sie ausschließlich Stoffhosen im Marlene-Dietrich-Stil und wie üblich die Lesebrille an einer goldenen Kette.

      „Ein Jahr?“, überlegte Emma

      „Wir sind eine schlimme Familie.“ Ihre Tante hob tadelnd den Zeigefinger. „Zu viel Arbeit schadet der Gesundheit.“ Das sagte die Richtige! Auch Camilla lebte förmlich für ihren Job und war nie verheiratet gewesen. „Da wir dabei sind: Du siehst nicht gerade wie das blühende Leben aus.“ An ihre direkte Art hatte sich Emma längst gewöhnt. Das war allemal besser, als dass jemand hinter dem Rücken tuschelte. „Wie geht es Brandon? Hast du ihn mitgebracht?“ Suchend blickte sie sich um.

      „Ich war gerade bei einer Scheidungsanwältin.“

      „Im Ernst?“ Ihre Tante zog sie mit sich in den rechten Gang. An dessen Ende stand ein kleiner Tisch mit verschnörkelten Füßen und Biedermeier-Stühlen vor dem runden Fenster. Während sie darauf zugingen, stahl sich ein Sonnenstrahl herein, der die vielen Staubpartikel glänzen ließ, die in der Luft schwebten. „Erzähl“, bat Camilla, als sie Platz genommen hatten, und schob den roten Teller mit den Zimtkeksen und der Zuckerglasur zu Emma.

      „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Brandon hat eine andere und das schon seit Monaten. Ich bin gestern dahintergekommen.“

      „An deinem Geburtstag?“ Die Falte auf ihrer Nasenwurzel vertiefte sich. „Das hätte ich ihm niemals zugetraut. Er wirkte immer so nett.“

      „Vielleicht ist es besser so.“ Emma blickte zum Regal, in dem sich Liebesromane aneinanderreihten. „Danke übrigens für deinen Anruf gestern.“

      „Gern geschehen. Mein Geschenk bekommst du noch. Leider lässt es auf sich warten.“

      Emma war das peinlich. Seitdem sie ihrer Tante als Jugendliche das Herz