Nikolai Ostrowski

Wie der Stahl gehärtet wurde


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durch die Gartentür auf die Straße hinaus.

      Pawel hatte das alles beobachtet. Er war schon halb im Einschlafen, als er den Burschen in das Zimmer des Leutnants treten sah. Dort hängte der Bursche die Uniform an den Haken, öffnete das Fenster, räumte ein wenig auf und ging wieder hinaus, die Tür lehnte er nur an.

      Im nächsten Augenblick sah ihn Pawel bereits im Pferdestall.

      Durch das offene Fenster konnte Pawel das ganze Zimmer überblicken. Auf dem Tisch lag Riemenzeug und etwas Glänzendes.

      Von heftiger Neugier geplagt, kletterte Pawel lautlos vom Dach auf den Kirschbaum hinüber und ließ sich vom Stamm in den Leszczynskischen Garten gleiten. Gebückt erreichte er mit ein paar Sprüngen das offene Fenster und blickte ins Zimmer. Auf dem Tisch lagen ein Offizierskoppel mit Portepee und eine Tasche mit einer wundervollen Mannlicher-Pistole.

      Pawel stockte der Atem. Einige Sekunden tobte in seinem Innern ein schwerer Kampf. Aber schließlich siegte sein tollkühnes Verlangen. Er beugte sich ins Zimmer hinein, griff nach der Tasche und zog die funkelnagelneue Waffe heraus. Er sprang wieder in den Garten, schaute sich nach allen Seiten um und steckte die Pistole vorsichtig in seine Tasche. Geschwind ging's dann durch den Garten zum Kirschbaum zurück. Pawel erklomm behänd wie ein Affe das Dach, dann blickte er hinunter. Der Offiziersbursche unterhielt sich friedlich mit dem Stallknecht. Im Garten war alles still … Er kletterte vom Schuppen und lief nach Hause.

      Die Mutter war in der Küche mit dem Mittagessen beschäftigt und beachtete Pawel nicht.

      Er ergriff unauffällig einen Lappen, steckte ihn in die Hosentasche und verschwand aus dem Haus, rannte durch den Garten, kletterte über den Zaun und schlug den Weg zum Wald ein. Er hielt die schwer gegen das Bein schlagende Pistole mit der Hand fest und lief aus Leibeskräften auf eine verfallene Ziegelei zu. Seine Füße berührten kaum den Boden, der Wind pfiff ihm um die Ohren.

      Bei der alten Ziegelei herrschte tiefe Stille. Das hier und dort eingebrochene Holzdach, Berge zerbrochener Ziegelsteine und die verfallenen Öfen machten einen beängstigenden Eindruck. Alles war von Steppengras überwuchert. Hier hatten sich manchmal die drei Freunde zu ihren Spielen zusammengefunden. Pawel kannte viele verborgene Plätze, an denen man einen gestohlenen Schatz verstecken konnte.

      Ehe er in einen zerfallenen Ofen hineinkroch, spähte er vorsichtig nach allen Seiten aus, aber auf der Straße war kein Mensch zu sehen. Leise rauschten die Föhren. Ein leichter Wind wirbelte feinen Staub auf. Kräftiger Harzduft erfüllte die Luft.

      Ganz unten auf dem Boden des Ofens legte Pawka die in einen Lappen gehüllte Pistole in eine Ecke und überdeckte sie mit einer Pyramide aus Ziegelsteinen. Nachdem er aus dem Ofen hervorgekrochen war, stopfte er das Loch, durch das er sich hineingezwängt hatte, mit Ziegeln zu, merkte sich die Lage der Steine und schritt dann langsam davon.

      Die Knie zitterten ihm immer noch ein wenig.

      Wie wird das enden, dachte er bei sich, und sein Herz krampfte sich vor Unruhe zusammen. Lange vor Arbeitsbeginn ging er ins Elektrizitätswerk, um nur nicht zu Hause sein zu müssen. Er holte sich beim Wächter den Schlüssel und schloss die breite Tür auf, die in den Kesselraum führte. Während er ein Zugloch reinigte, Wasser in den Kessel pumpte und anheizte, dachte er: Was mag sich jetzt in der Villa von Leszczynski abspielen?

      Es war schon spätabends, gegen elf Uhr, als Shuchrai an Pawel herantrat, ihn auf den Hof hinausrief und flüsternd fragte:

      »Warum ist bei euch heute Haussuchung gewesen?«

      Pawel zuckte erschrocken zusammen.

      »Was - Haussuchung?«

      Shuchrai schwieg, dann fügte er hinzu:

      »Ja, die Sache ist faul. Weißt du nicht, was sie gesucht haben?«

      Pawel wusste es nur allzu gut. Er konnte sich jedoch nicht entschließen, Shuchrai von der gestohlenen Pistole zu erzählen. Vor Aufregung bebend, fragte er:

      »Haben sie Artjom verhaftet?«

      »Niemand ist verhaftet worden, aber sie haben im ganzen Haus das Oberste zuunterst gekehrt.«

      Bei diesen Worten wurde es Pawel ein wenig leichter, aber seine Unruhe ließ nicht nach. Einige Minuten lang hing jeder seinen eigenen Gedanken nach. Der eine, dem die Ursache der Haussuchung bekannt war, machte sich Sorgen über den Ausgang der Affäre; der andere kannte die Ursache nicht, war jedoch nicht weniger beunruhigt.

      Weiß der Teufel, vielleicht sind sie doch dahinter gekommen? Artjom weiß doch nichts von mir, warum haben sie Haussuchung bei ihm gemacht? Man muss noch vorsichtiger sein, überlegte Shuchrai.

      Schweigend gingen beide an die Arbeit.

      In der Villa herrschte tatsächlich große Aufregung.

      Sobald der Leutnant die Pistole vermisst hatte, rief er den Burschen. Als es sich herausstellte, dass die Waffe verschwunden war, versetzte der sonst korrekte und zurückhaltende Offizier dem Burschen mit aller Wucht eine Ohrfeige. Der Soldat taumelte von dem Schlag zurück, schnellte aber wie eine Sprungfeder gleich wieder vor und wartete, die Hände an der Hosennaht, mit schuldbewusstem Gesicht gehorsam das Weitere ab.

      Der zur Klärung der Angelegenheit herbeigerufene Rechtsanwalt war gleichfalls sehr aufgebracht und entschuldigte sich vielmals, dass so etwas in seinem Haus hatte passieren können.

      Viktor Leszczynski äußerte seinem Vater gegenüber die Vermutung, dass die Pistole von den Nachbarn, und zwar wahrscheinlich von dem Rowdy Pawel Kortschagin, gestohlen worden sei. Der Vater beeilte sich, dem Leutnant die Vermutung seines Sohnes mitzuteilen, und dieser gab daraufhin der Wache den Befehl, sofort eine Haussuchung durchzuführen.

      Die Haussuchung verlief ergebnislos. Der Vorfall mit der abhanden gekommenen Pistole bewies Pawel, dass sogar so gewagte Husarenstreiche manchmal glücklich ablaufen können.

      Tonja stand am offenen Fenster. Gelangweilt schweifte ihr Blick über den wohlbekannten und vertrauten Garten, über die ihn umgebenden hohen, schlanken Pappeln, die kaum merkbar im Wind bebten, und es schien ihr unfassbar, dass sie ein ganzes Jahr lang nicht zu Hause gewesen war. Es kam ihr vor, als hätte sie all diese seit ihrer Kindheit vertrauten Orte erst gestern verlassen und sei heute mit dem Morgenzug wieder heimgekehrt.

      Nichts hatte sich hier verändert. Dieselben sorgfältig beschnittenen Reihen der Himbeersträucher, dieselben geometrisch abgezirkelten Gartenwege, die von den Lieblingsblumen der Mutter - Stiefmütterchen - umsäumt waren. Alles war sauber und gepflegt im Garten. Und eben diese peinliche Sauberkeit und diese abgezirkelten Gartenwege ödeten Tonja an.

      Sie nahm ein Buch, öffnete die Verandatür, ging in den Garten hinunter, stieß das gestrichene Pförtchen auf und schlenderte die Straße entlang.

      Sie passierte die kleine Brücke und betrat die Landstraße. Diese glich einer Allee; rechts lag, von Palmweiden und dichtem Weidengebüsch umgeben, ein Teich, und links begann der Wald.

      Sie hatte schon fast die Teiche beim alten Steinbruch erreicht, als sie unten am Wasser eine ausgeworfene Angel bemerkte und stehen blieb.

      Tonja beugte sich über eine gekrümmte Weide, schob mit der Hand die Zweige auseinander und erblickte einen braungebrannten barfüßigen Jungen mit bis über die Knie hochgekrempelter Hose. Neben ihm stand eine rostige Blechbüchse mit Würmern. Der Junge war völlig in seine Beschäftigung vertieft und bemerkte Tonjas aufmerksamen Blick nicht.

      »Kann man denn da Fische fangen?«

      Pawel schaute ärgerlich auf.

      Ein fremdes Mädchen stand tief über das Wasser gebeugt und hielt sich an einer Weide fest. Es trug eine weiße Matrosenbluse mit blaugestreiftem Kragen und einen kurzen hellgrauen Rock. Die Söckchen mit dem bunten Rand um-

      spannten ein Paar schlanke sonngebräunte Beine, die Füße steckten in braunen Halbschuhen. Das kastanienbraune Haar war