Rückkehr nach Berlin gereist und wollte wenigstens eine Woche fortbleiben. In Susannes Abwesenheit nahm auf Gräfin Theas Wunsch der Kandidat Wetzel meist den Tee in ihrer Gesellschaft. Sie liebte es, mit dem jungen Manne über allerlei Dinge zu plaudern und auch über Erziehungsfragen zu debattieren. Susanne kümmerte sich aus einem gewissen Trotz gar nicht mehr um Lothars Erziehung, weil man ihr Wetzel aufgenötigt hatte als Erzieher ihres Sohnes. —
Auch heute stellte sich der Kandidat pünktlich zur Teestunde in Gräfin Theas Wohnzimmer ein. Er hegte eine große Verehrung für die alte Dame, während er Gräfin Susanne nur den schuldigen Respekt erwies.
In seiner frischen, ungezierten Art neckte er sich erst noch ein wenig mit Lothar, nachdem er Gräfin Thea die Hand geküßt hatte. Ein Diener rollte den Teetisch herein und Grill servierte den Tee. Gräfin Thea liebte es nicht, andere Dienerschaft um sich zu haben, wenn sie in ihren Gemächern weilte. Ein anderer als der Kandidat Wetzel hätte wohl, der Trauerstimmung des Hauses angemessen, einen ernsten oder gar melancholischen Ton angeschlagen. Aber er plauderte frisch und lebendig, scherzte mit Lothar und ließ keine trübe Stimmung aufkommen. Auch bei den gemeinsamen Mahlzeiten hielt er es so. Gräfin Susanne hatte deshalb sein Benehmen roh und taktlos genannt ihrer Schwiegermutter gegenüber. Gräfin Thea hatte jedoch die Absicht des Kandidaten erkannt und gebilligt:
»Lothar ist jetzt in einem gefährlichen Alter. Gemütsbedrückungen in dieser Zeit haben oft die schlimmsten Folgen. Lothar muß daher in seinem Schmerz um den schweren Verlust abgelenkt werden, um seine körperliche und geistige Frische nicht zu verlieren!« So hatte Gräfin Thea den Kandidaten verteidigt. Susanne rümpfte jedoch nur die Nase und sprach von Plebejermanieren und leeren Ausflüchten.
Lothar zuliebe stimmte Gräfin Thea in den munteren Ton mit ein und Lothar befleißigte sich wieder, seine geliebte Großmama aufzuheitern. So halfen sie sich gegenseitig über die traurige Stimmung fort. Der Tee war eingenommen worden und Grill war geräuschlos hinausgegangen, als sie nicht mehr gebraucht wurde.
Aber gleich darauf trat sie mit lebhaft gerötetem Gesicht wieder ein und überbrachte ihrer Herrin eine Visitenkarte.
»Der Herr wartet unten im kleinen Empfangssalon,« sagte sie mit einem bedeutsamen Blicke.
Gräfin Thea nahm die Karte und richtete sich überrascht auf, als sie gelesen hatte. »Anton Völker« stand auf der Karte.
Sie erhob sich sofort.
»Ich muß dich jetzt mit dem Herrn Kandidaten allein lassen, Lothar. Eine wichtige geschäftliche Angelegenheit ruft mich ab. Der Regen hat aufgehört, vielleicht machst du einen Spaziergang.«
Sie küßte Lothar, nickte Wetzel freundlich zu und ging schnell hinaus.
Wenige Augenblicke später trat sie zu Völker in den kleinen Salon neben der Halle.
»Sie kommen selbst — und so bald — darf ich das für ein gutes Zeichen halten?« fragte sie erregt. Völker hatte sie artig begrüßt und nun nahmen sie, sich gegenübersitzend, Platz.
»Was bringen Sie mir?« fragte die alte Dame dringend und suchte schon im voraus die Antwort von seinem unbeweglichen Gesicht abzulesen.
»Ich bringe Ihnen genaue Auskunft, gnädigste Frau Gräfin.«
Sie starrte ihn ungläubig an.
»Genaue Auskunft? Nein — das ist doch unmöglich. So bald schon — nein, ich kann es nicht glauben.«
Völker lächelte.
»Vor vier Tagen, als Sie mir den Auftrag gaben, hätte auch ich einen so schnellen Erfolg für unmöglich gehalten. Und hätte mich nicht ein Zufall begünstigt, so wären wahrscheinlich langwierige Nachforschungen nötig gewesen.«
»Sprechen Sie — o bitte — sprechen Sie — was haben Sie in Erfahrung gebracht? Sie können sich meine fieberhafte Unruhe denken.«
Völker zog sein Notizbuch hervor und gab einen kurzen, klaren Bericht.
»Der frühere Rendant von Wildenfels, Karl Heinrich Horst, hat sich am 19. Juli 1893 mit seiner Frau und seiner Tochter Annie nach Newyork eingeschifft. Von dort ist er auf Veranlassung einer Gesellschaft nach Venezuela gereist und hat sich dort eine Farm gekauft für sechstausend Dollars. Diese Farm hat er mit seiner Frau und Tochter erfolgreich bewirtschaftet, so daß er mit den Jahren einen gewissen Wohlstand erreichte, obwohl ihm das Leben durch allerlei politische Unruhen und räuberisches Gesindel sehr schwer gemacht worden ist. Sieben Jahre nach seiner dortigen Ansiedelung hat sich seine Tochter mit einem Engländer, John Warrens, der die Nachbarfarm besaß, verheiratet, nachdem sich dieser schon jahrelang vergeblich um sie beworben hatte. Dieser Ehe ist ein Töchterchen mit Namen Jonny entsprossen. Bis vor kurzer Zeit haben die beiden Familien ziemlich friedlich und glücklich gelebt. Da brachen im Anfange dieses Jahres wieder Unruhen aus. Außerdem gelang es einem abgewiesenen Freier Annies, Horst und Warrens als Parteiführer zu verdächtigen. Ohne viele Umstände wurden sie erschossen.
Frau Horst wurde durch das räuberische Gesindel ermordet, die Farmen geplündert und der Grundbesitz konfisziert. Frau Annie Warrens entkam mit ihrem Töchterchen wie durch ein Wunder. Ein treuer Diener rettete sie auf heimlichen Wegen durch dichten Wald. Nichts, als die Kleider, die sie trugen und tausend Dollars etwa an Geld konnten in Sicherheit gebracht werden. Die unglückliche junge Frau hat sich dann mit ihrem Töchterchen zurück nach Deutschland begeben, um sich hier in der alten Heimat eine bescheidene Existenz zu gründen. Vor zehn Tagen ist sie in Hamburg eingetroffen.«
Gräfin Thea hatte erregt in atemloser Spannung diesem Bericht gelauscht. Nun preßte sie erschüttert die Hände ans Herz. Die Schuld ihres Sohnes wuchs riesengroß und weckte noch inbrünstiger den Wunsch in ihr, mit allen Mitteln, die ihr zu Gebote standen, gutzumachen.
Erst, nachdem sie sich mühsam gefaßt hatte, kam ihr zum Bewußtsein, wie wunderbar es war, daß Völker so schnell und ausführlich Klarheit schaffen konnte. Was enträtselte dieser Mann in wenigen Tagen. Freilich, Joachim hatte nur vorsichtig und verschwiegen forschen können, hatte wohl auch keinen so begabten und hervorragenden Auskundschafter gefunden. Aber auch für einen Mann wie Völker grenzte dieser Erfolg ans Märchenhafte,
»Sie sehen mich fassungslos, erschüttert, Herr Völker. Das traurige Schicksal dieser prächtigen Menschen greift mir ans Herz. Daß Sie mir das alles aber in so kurzer Zeit berichten konnten, ist mir unfaßbar. Ehe Sie mir aber näheres erklären, beantworten Sie mir noch eine Frage: Ging die Spur, die Sie gefunden haben, in Hamburg verloren oder wissen Sie den Aufenthaltsort der unglücklichen jungen Frau?«
»Ich weiß ihn.«
»O, mein Gott — wie dankbar bin ich Ihnen. Sie haben mir einen unschätzbaren Dienst geleistet durch Ihre hervorragenden Fähigkeiten.«
Wieder lächelte Völker.
»Gnädigste Frau Gräfin, diesmal bin ich nur durch einen glücklichen Zufall zu einem Erfolge gekommen. Darf ich Ihnen genauen Bericht erstatten?«
»Ich bitte darum.«
Völker räusperte sich ein wenig und fuhr dann fort:
»Ich hatte mich nach Hamburg begeben, um dort erst einmal mit meinen Nachforschungen zu beginnen. In einem mir von früher her bekannten guten, wenn auch nicht erstklassigen Hotel nahm ich Wohnung. Gleich in der ersten Stunde machte ich auf dem Korridor vor meinem Zimmer die Bekanntschaft eines entzückenden kleinen Mädchens von etwa sechs Jahren, das dort mit dem Zimmermädchen in einem drolligen Gemisch von deutscher, englischer und spanischer Sprache plauderte. Ich bin ein großer Kinderfreund und konnte nicht widerstehen, mich mit der Kleinen ein wenig anzufreunden.
Dabei erfuhr ich, teils von ihr, teils von dem Zimmermädchen, daß die Mutter des Kindes unwohl zu Bette lag, müde und leidend von den Strapazen einer großen Reise. Das Zimmermädchen teilte mir redselig mit, daß sie der Dame schon wiederholt geraten habe, einen Arzt zu befragen, aber diese behaupte, nicht krank, nur müde und abgespannt zu sein. Es sei ja auch möglich, denn die arme Dame käme aus Venezuela, wo sie auf schreckliche Weise ihre Eltern und ihren Mann verloren habe.