Andreas Egger

Die Zweite Welt


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Dieses Wort, Rekar, stellte gleichermaßen den Namen für den Gott der Zwerge wie für den Stein, den ein jeder von ihnen bei sich trug. Es war der Stein, mit dem das Zwergenkind am liebsten spielte. Dieser Stein war das Symbol der Liebe zu Stein und Erdreich, Feuer und Metall. Es war der wichtigste Besitz eines jeden Zwergs. Niemals würde er freiwillig weggegeben werden. Garantors Rekar-Stein war ein einfacher Klumpen Eisenerz. Er trug ihn normalerweise an einer Lederschlinge um den Hals. Nun hielt er ihn in seiner Linken, fest umschlossen. Dumpf stierte er in die Flammen, die buschigen Augenbrauen zusammengezogen, die Lippen geschürzt. Die rechte Hand fuhr langsam, mit mechanischer Konstanz, über seinen Bart. Wie so oft saß er alleine da, und wie so oft wusste keiner um seine Gedanken. Es war keineswegs so, dass sich niemand zu ihm setzten wollte. Im Gegenteil. Ein jeder seiner Mannen hegte größten Respekt für ihn. Alle die mehr als einige Mondwechsel im Trupp waren, schätzten Garantor als hervorragenden Strategen und Kämpfer. Viele würden ihn sogar als Freund bezeichnen. Dennoch setzte sich keiner zu ihm. Der Zwerg schätzte keine Gesellschaft; schon gar nicht, wenn er am Feuer saß. Und alle wussten das. Irgendwann, kurz vor der dritten Wache, begab sich Garantor zur Ruhe und legte sich auf eine große Steinplatte mitten im Lager. Er streckte sich auf dem kalten Basalt, legte seine Handflächen auf den rauen Untergrund und schlief ein.

       Auch Meisterlich schlief. Wenn auch lange nicht so gut wie der Zwerg. Finstere Gedanken schlichen sich in seinen Geist. Visionen von Tod und Verderben ließen ihn immer wieder aufschrecken. Schweißgebadet quälte er sich durch die kalte Nacht.

       Am Morgen stand er sehr früh auf und entfernte sich ein wenig vom Lager in Richtung Naars Auge. Die Wachen im Norden und Nordosten verrichteten zu diesem Zeitpunkt Dimite und Kalad. Die beiden Söldner sahen zwar, wie sich Meisterlich aus dem Lager entfernte, unternahmen aber nichts dagegen. „Egal“, raunte Dimite durch seinen Bart an Kalad gerichtet. Auch jener hatte nichts dagegen. Der Tag war angebrochen und etwaige Gefahren der Nacht waren nicht mehr zu fürchten.

       Meisterlich blieb stehen und sah zu, wie die Sonne aufging. Die Nacht hatte ihn müde zurückgelassen. Getroffen stand der alte Mann da. Der Wind fuhr ihm in die Haare, blies sie ihm in die Augen. Das war Meisterlich egal. Er wischte sie nicht, wie gewöhnlich, aus dem Gesicht. Leichtes Fieber hatte ihn befallen, gesellte sich zu Angst und Ermattung. Keine aufmunternde Mischung für ein desolates Nervensystem wie das seine.

       Wolken zogen von Osten her auf. Es würde wohl bald regnen. Immer noch waren seine Augen nach Norden gerichtet, so als wolle er ersehen, was sich bei Naars Auge tat. Das Brüllen Garantors nach seinen Mannen zog an Meisterlichs Ohren vorbei. Das Lager machte sich zum Aufbruch bereit.

       Mit kräftiger Stimme gab der muskelbepackte Cebrid Anweisungen. Der Hüne war nach Mauran Falkenflug der dritte Mann der ziehenden Schar. Neben seinen erstklassigen kämpferischen Fähigkeiten zeichnete er sich vor allem durch ein beobachtendes Auge aus. Oft war er der erste, der einen Missstand erkannte und meistens behob er ihn ohne größeres Aufsehen. Auch jetzt war er es, der Meisterlichs seelische Verfassung richtig einschätzte und ihn auf die bestmögliche Art versuchte zu unterstützen. Schnell spannte er die Maultiere des Händlers an und übergab den Wagen samt Gespann an Kalad. Kurz bevor die Mannen weitermarschierten, ging Cebrid voran, um mit Meisterlich zu reden.

       „Morgen ...“, sagte er. Meisterlich antwortete nicht.

       Wenige Momente verstrichen. Immer noch wehte der Wind, unangenehm und stetig. Nachdem Cebrid den Händler eindringlich gemustert hatte, sprach er mit fester Stimme: „Wir werden durchkommen, sorgt euch nicht. Ihr habt den besten Trupp, den man für Geld kriegen kann.“

       Der Händler sagte nichts, drehte sich aber langsam zu Cebrid. Er sah ihm in die Augen, die eigenen glasig und matt. Durchdringend musterte er Cebrid einige Zeit, als wolle er den Wahrheitsgehalt der Aussage prüfen. Cebrid begegnete dem Blick mit einem zuversichtlichem Lächeln.

       Nun sprach Meisterlich: „Es scheint alles so unwahrscheinlich. Der Händler, der uns begegnete ... er zog durch Naars Auge, ohne einen einzigen von Grors verfluchten Ogern zu treffen.“

       Cebrid wollte antworten, aber Meisterlich war noch nicht fertig mit seinen Ausführungen.

       „Wir sind nach Rekars Ehr gezogen und wieder zurück. Ich hab die wertvollste Fracht, die sich je in meinem Besitz befand bei mir und keiner will sie mir nehmen ... das gibt es nicht!“ Die letzten Worte stieß er leicht hysterisch hervor.

       Cebrid nickte und erwiderte: „Ja, es ist höchst ungewöhnlich. Wir hatten praktisch keinen Kampf bis jetzt.“ Schnell fügte er noch hinzu: „Das will nicht heißen, dass wir bei Naars Auge auf eine Übermacht Oger treffen werden.“

       Meisterlich straffte die Schultern, wie zum Trotz: „Ich habe mich mit allem abgefunden. So oder so, diese Reise wird ihr Ende bald finden.“ Mit diesen Worten drehte er sich nach Süden und wollte zum Lager zurückkehren.

       Cebrid packte den Händler an der Schulter und bedeutete mit festem Wort: „Wir sollten unser Glück schätzen, anstatt nach Grors Kreaturen zu flehen!“

       Meisterlich wollte sich losreißen. Cebrid hielt ihn fest und sprach weiter: „Und eines sag ich euch. Gnade dem Oger, der auf uns trifft! Seit vollen achtzig Mondwechseln bin ich zusammen mit meinem Bruder Brube unter Garantors Söldnern. Kein Oger, den wir trafen hat überlebt, kein ...“

       Unvermittelt unterbrach ihn der Händler: „Einen verdammten Oger ... ich fürchte mich vor …“ Nun stoppte Cebrid den Händler: „Das braucht ihr nicht!“

       Meisterlich hielt inne. Ein Funke Hoffnung keimte in seinen Augen. Er ließ seinem Gegenüber die Zeit, um weiterzusprechen. Cebrid war sich nun seines Zuhörers sicher und setzte an, mit bedächtiger Stimme, tief und klar: „Es gibt keine großen Ogerhaufen. Sie sammeln sich niemals in größeren Gruppierungen.“ Nun gedachte er seine Ausführungen mit einer rhetorisch anrührenden Frage zu unterstreichen. „Was ist die größte Sippschaft, von der ihr gehört habt?“

       Der alte Händler sprach ohne nachzudenken: „Eine Familie von gut vierzig Ogern, mehr als die Hälfte von ihnen ausgewachsen, bei Naars Auge und sagt jetzt nicht, das wären nicht genug, um uns auszulöschen!“

       Cebrid antwortete nicht sofort, sah verlegen nach hinten. Der Trupp würde sie in wenigen Augenblicken eingeholt haben. Meisterlich sah den Hünen noch kurz an, und ging dann zurück zu seinem Wagen. Nun stand Cebrid da und stierte ins Nichts. Er wollte dem Händler Trost spenden, Mut einflößen. Er hatte versagt. Ohne ein weiteres Wort schloss er sich den anderen Mannen an, und marschierte ebenso stumm wie gedankenverloren weiter.

       Die näher kommenden Wolken kündeten mit Donner und vereinzelten Blitzen vom nahenden Gewitter und schon bald versanken Tag und Nacht im unbarmherzigen Treiben der Natur.

      Kein leichter Weg

      Kapitel 2

       „Was für ein Ausblick ... bei Naar ...“ Kalad war mit dem jugendlich aussehenden Bogenschützen Gaal ein wenig über den verschlammten Steppenboden vorausmarschiert. So waren sie die ersten, die direkt neben dem Ausläufer von Naars Auge standen. Eine kalte Mittagssonne beleuchtete die Ebene und den Riss in der Welt. Die gewaltige Schlucht lag kaum fünf Schritt vor ihren Füßen und schlängelte sich südöstlich weiter ins Land hinein. Nach Norden wand sie sich hin zum Herzen der gespaltenen Welt, zu Naars Auge.

       Auch Gaal war sichtlich überwältigt und stierte mit offenem Mund auf den scheinbar unendlichen Abgrund. Die beiden jungen Söldner sahen zum ersten Mal in ihrem Leben eine der Klüfte im Land. Kalad ging bedächtig zwei kleine Schritte nach vorne und beugte sich leicht vornüber, um nach unten zu spähen. Leise sprach er, fast ehrfürchtig: „Mein Vater hat mir von Naars Auge erzählt, auch von den Schluchten, die zu ihm führen, hat er mir berichtet. Nie ... niemals hätte ich etwas derart Gewaltiges erwartet.“

       Gaal hatte dem nichts hinzuzufügen. Er folgte mit seinen Augen dem schier unendlichem Nichts, das sich nach Norden wandte.

       Der restliche Trupp hatte sie beinahe eingeholt und mehrere der Männer kamen zu Kalad und Gaal. Brube war einer der ersten, die sich zu ihnen gesellten. Dunkel brummend, baute er sich hinter Gaal auf. Brube überragte den