Caroline Sehberger

LEBENSAUTOBAHN


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war es nicht allzu weit und ab dann hatte ich eine knappe Stunde Autofahrt vor mir, um ihn endlich sehnsüchtig in die Arme zu schließen. Genug Zeit, um auf der Anfahrt situationserklärend in die Vergangenheit zurückzublicken.

      Thomas kam im Herbst des zurückliegenden Jahres zu uns in die Firma mit dem Prädikat: der „NEUE“. Wir schreiben das Kalenderjahr vor dem Millennium. Alles fing damit an, dass der Chef Entlastung brauchte. Die Umstrukturierungen innerhalb der Firma liefen auf Hochtouren. Die Stellenanzeige wurde geschaltet. Wir suchten einen dynamischen Mitarbeiter mit Führungsqualitäten und einer Menge technischem Verstand. Eine Vielzahl von Anwärtern bewarb sich, kamen zu Vorstellungsterminen und verließen das Haus wieder. Der „NEUE“, wie ihn alle nannten, sollte im selben Jahr, im November, die Stelle antreten und den Mitarbeiterstamm vergrößern. Gewiss hatten einige andere Bewerber einen bleibenden Eindruck hinterlassen, aber Thomas erhielt den Zuschlag. Es trug sich wie folgt zu. Es war ein diesiger Dienstagmorgen Anfang Oktober. Das Telefon schellte und ich hob ab. „Kramer. Guten Morgen Frau Sehberger. Ihr Chef wünscht, mich ein weiteres Mal zu sprechen, und ich würde mit Ihnen gerne einen Termin in Ihrem Hause festlegen. Sind Sie in der Lage, mir schon einen Möglichen zu nennen?“ Fragte er. „Guten Morgen Herr Kramer. Das freut mich zu hören. Gerne. Ich öffne nur rasch den Kalender und lege Sie mitsamt dem Telefonhörer kurzzeitig zur Seite“, antwortete ich und legte den ihn auf den Schreibtisch. Öffnete den Terminkalender auf dem Bildschirm und nahm den Hörer wieder in die Hand. „So, Herr Kramer. Kalender geöffnet. Mein erster Vorschlag für sie wäre der morgige Mittwoch, um 14.00 Uhr. Passt das?“ Fragte ich. „Gerne, das ist perfekt. Richten Sie Ihrem Chef bitte freundliche Grüße aus und wir sehen uns demnach am morgigen Tag um 14.00 Uhr. Bis dahin frohes Schaffen“, so seine Zusage. „Ja, dann bis morgen. Richte Ihre Grüße gerne aus. Auf Wiederhören.“ Nach Beendung des Telefonats stieg ich die Treppe hinauf, betrat das Büro des Chefs, um ihm von seinem morgigen Bewerbungstermin mit Herrn Kramer zu berichten. Alles passte perfekt. Seine Bewerbung lag schon auf seinem Schreibtisch, dem Termin stand nichts mehr im Wege. Am nächsten Tag, so gegen Mittag, kündigte Herr Kramer mit einem weiteren Anruf seine pünktliche Ankunft an. Wie immer war ich die Erste am Telefon. „Guten Tag Frau Sehberger. Kramer hier. Ich avisiere Ihnen kurz die Ankunftszeit in Ihrem Hause, die ich auf meinem Navi ablese. Wenn nichts dazwischenkommt, bin ich um 13:50 Uhr bei Ihnen, demnach in 20 Minuten,“ kam aus dem Hörer. „Vielen Dank für Ihre Info, Herr Kramer. Der Chef wird da sein. Wir freuen uns,“ erwiderte ich. „Auf Wiederhören.“ Er kam pünktlich, so wie sich das gehört. Genau 20 Minuten später bog sein Wagen auf unseren Firmenparkplatz. Punktlandung. Er stieg aus, zog am Auto sein Sakko an, holte seine Aktentasche aus dem Kofferraum, schloss die Pkw-Türe hinter sich und trat ein. „Hallo Herr Kramer. Ich hoffe, die Anreise war stressfrei. Bitte folgen Sie mir. Der Chef wartet im Konferenzraum“. „Gerne. Vielen Dank junge Frau“. Beide schritten wir aus meinem Büro die Treppe hinauf. Das Gespräch dauerte geschlagene eineinhalb Stunden, bis endlich die Türe aufging und sich beide mit einem Lächeln und per Handschlag verabschiedeten. Schnellen Schrittes kam er die Treppe hinunter und lächelte mir beim Vorübergehen zu. Dann fuhr er los und alle waren gespannt, was das Resultat des ausgiebigen Gesprächs war. Zum Leidwesen der Kollegen vergingen zwei lange Tage voller Ungewissheit und Anspannung, auf wen die Wahl des Chefs wohl gefallen war. Am dritten Morgen präsentierte man mir das Ergebnis. Ich genoss das Vertrauen der Chefetage, war die Erste, die eingeweiht wurde. Das stärkte. Ich brütete wieder über eine größere Submission, bevor die Bürotür aufging, die Frau des Firmeninhabers, hereinschneite und mir einen kleinen Klebezettel auf den Tisch legte. Mit der eindeutigen Geste – „Zeigefinger auf den Mund“ – teilte sie mir freudig mit, dass ich die Erste bin, die es erfahren wird. Möge aber bitte hierüber Stillschweigen bewahren. Mit einem riesigen Fragezeichen auf dem Kopf las ich, was auf dem Zettel stand. In großen Lettern las ich: „Kramer kommt!“ Im November war sein Amtsantritt. Dieser nette, attraktive Herr wird demnach der „NEUE“. Ich für meinen Teil fand ihn reizend. Freute mich auf eine fruchtbare Zusammenarbeit. Der Rest des Tags verlief nach der positiven Nachricht wie alle anderen. Arbeitsreich, kollegial und ausgefüllt.

      Bevor der „NEUE“ seinen Job aber antrat, den Mitarbeiterstamm der Firma vergrößerte und uns kennenlernte, stand das alljährliche Firmenfest an. In regelmäßigen Abständen wurde ausgiebig gefeiert. In diesem Jahr würde es zünftig zugehen. Mitte Oktober, in einem alteingesessenen Lokal in unserer Stadt unter dem Motto „O zopft is!“ Eine Art Oktoberfest, mit Trachten, Brezeln, Weißbier, Weißwurst und zuzeln, bayrisch eben. Der „NEUE“, Herr Kramer, war schon eingeladen. Er kam mit Anhang. Ein erstes unbeschwertes Kennenlernen der zukünftigen Mitarbeiter gelingt in einer lockeren Atmosphäre wesentlich besser, so die Meinung der Chefetage. Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren. Das Herrichten des Festsaals übernahm der Gastwirt. Wir waren gespannt. Am Festtag erwarteten wir unsere Gäste ab 19:00 Uhr. Die Aufregung war groß. Ein jeder war bemüht, dass das fest gelingt. Der Wirt hatte die Räumlichkeiten des Lokals in Blauweiß geschmückt. Auf den Tischen positionierte er Brezeln, Senf und zünftige, bayrische Dekorationen. Die Saaltische waren zum Mittelgang schräg angeordnet, damit alle Gäste den einmarschierenden Bühnenstars schon beim Einzug ihre Aufmerksamkeit schenkten. Der Chef hatte drei Unterhaltungskünstler engagiert, die hinter der Bühne auf Ihren Auftritt in den Startlöchern standen. Die Uhr schlug 19.00 und die ersten Gäste trudelten ein. Eine Stunde später waren alle vollzählig erschienen und waren entsprechend dem Motto bayrisch gekleidet. Die Mitarbeiter hatten ebenfalls im Vorfeld beschlossen, sich passend zum „Oktoberfest“ zu kleiden. Wir waren vollzählig in Trachten erschienen. Die Damen trugen teilweise Dirndl, zumindest aber eine edelweißbestickte Trachtenbluse. Die Herren hatten hirschbedruckte Trachtenhemden an. Auf Lederhosen aber verzichteten die männlichen Exemplare, Gott sei Dank. Es war eine ausgezeichnete Bühnenshow mit bemerkenswerten Gästen. Unser Boss hatte einen edlen Geschmack bei der Wahl der Bühnen Interpreten bewiesen. Der Erste war ein altbekannter Bauchredner, der die Gäste permanent zum Lachen brachte. Es folgte ein bekanntes Gesangstrio aus dem Kölner Karneval, dass die Menge rockte und zum Schunkeln einlud, bis hin zu einem Sänger, der mir zwar gänzlich unbekannt war, aber mit seinen stimmungsvollen Schlagern zum Tanzen aufforderte. Nacheinander traten die Stars bis weit nach Mitternacht auf. Das Fest endete erst am kommenden Morgen. Es wurde ausgiebig gefeiert, getanzt und gelacht. Ein rundum gelungenes und geschmackvolles Oktoberfest. Der harte Kern, zu dem ich gehörte, stand lange zusammen an der Theke der Gaststätte und feierte. Wir hatten zu vorgerückter Morgenstunde im kleinen Kreis jede Menge Spaß. In der Zeit, in der ein Kollege einen Witz nach dem anderen zum Besten gab, schweifte mein Blick durch den Raum, um festzustellen, wer zu so später Stunde unter uns weilte. Er blieb an einer „älteren“ Dame hängen, die mit einem Weltuntergangsgesichtsausdruck auf einer Eckbank an einem Tisch saß. Das Kinn hing bildlich gesprochen bis zum Boden, ihr starrer Blick schaute ins Leere. Die personifizierte Langeweile diagnostizierte ich, auf irgendeine Weise unheimlich. Sie saß dort Mutterseelen allein. So eine Mimik hatte ich bis dato bei keinem anderen Menschen je gesehen. In Ihrem Gesicht spiegelte sich eine irre Traurigkeit wider, fast schon die Stimmung einer tiefen Depression, so empfand ich es. Langeweile war hier das Harmloseste, was ich hineininterpretieren vermochte. Ein wenig leidgetan hat sie mir schon, war es doch so ein lustiges Event und trotz der späten Stunde eine heitere und humorvolle Stimmung. Aber Spaßbremsen gibt es eben auf jedem Fest. Nur nicht weiter vertiefen, schoss es mir durch den Kopf. Trotzdem ließ mich die Dame gedanklich nicht los. Ich stellte mir die Aufgabe, zu ergründen, zu wem dieser Trauerkloß denn gehören würde. Und schon hörte ich eine mir bekannte Stimme genau diese Frage stellen. Es war mein Tonfall und ich hatte laut den Gedanken geäußert. Der Kollege, der mit seinem Bierglas in der Hand neben mir stand, antwortete prompt: Das ist die Frau von unserem „NEUEN“, dem Kramer. „Oh mein Gott“, sagte ich, „der Arme“. Manche Menschen sind eben vom Leben gestraft und sehen es nicht, formulierte ich in Gedanken. Im Gegensatz zu seiner Gattin war der „NEUE“ die komplette Feier über äußerst gesellig, lebensfroh, lustig und begeistert vom stimmungsvollen Bühnenprogramm. Er scherzte den ganzen Abend mit den neuen Kollegen. Ich betrachtete ihn immer wieder, sah ihn oft herzhaft lachen. Ich beobachtete auf dem Fest einen Mann, so schien es mir, der das Leben mit allem, was es zu bieten hatte, zu leben verstand. Und wieder schwirrte die Frage in meinem Kopf herum: „Wie kommt ein solch lebensbejahender Mensch an so eine Frau?“ Wie man eine Vorliebe für Spaßbremsen entwickelt, entzog sich mir vollends. Na ja, er