Caroline Sehberger

LEBENSAUTOBAHN


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Menschen nur nach einer Momentsituation zu beurteilen, gar zu verurteilen. Das war nie mein Stil. Ich lernte die Erdenbürger immer erst gerne kennen, um mir ein Urteil zu bilden. Denkbar, dass sie ja nur einen deprimierenden Tag hatte, was durchaus vorkommet. Angesichts der glücklichen Stimmung im Lokal, hing ich nicht länger der Dame nach, ließ Kopfkino, Kopfkino sein und wandte mich wieder den Kollegen zu. Im Trubel war die komische Vertreterin des schönen Geschlechts schnell vergessen und draußen wurde es längst hell. Eine letzte Brezel und das letzte Glas Wein, dann aber ab nach Hause. Das Bett ruft.

      Der Sonntagmorgen war längst angebrochen. Die Wochenenden sind nach einer ausgiebigen Feier immer äußerst kurz. Geschlafen wurde bis zum Nachmittag. Wir krabbelten aus dem Bett. Die Kinder waren bei den Großeltern bestens versorgt, so dass wir den restlichen Sonntag in Ruhe haben ausklingen lassen. Am frühen Abend trotteten wir mit den Kindern zeitig zu Bett. Schlafdefizit nachholen. Kaum wieder Montag rasten die letzten Tage des Oktobers nur so dahin. Aufträge satt, Schreibtisch voll. Alle waren gespannt auf unseren „NEUEN“. Getuschel an jeder Ecke und einzelne Kollegen versuchten, in ihrer Neugierde irgendetwas über ihn heraus zu bekommen. Beim Oktoberfest haben wir ihn äußerst gesellig kennengelernt. Er knüpfte schnell Kontakt und schien ein echter Sonnenschein mit Humor zu sein. Aber das war der inoffizielle neue Kollege. Meistens sind die private und die berufliche Seite eines Menschen belegt von zwei unterschiedlichen Personen. Wie wird er so sein, fragten sich die Kollegen, die ihm ab November unterstellt waren, denn sie waren angehalten, mit ihm in Zukunft zu arbeiten. Gott sei Dank, zerbrach ich mir hierüber den Kopf nicht. Mein Chef war und blieb der Eigentümer. Den Kollegen wünschte ich nur ein sozialverträgliches Kerlchen. Ein Bär von Mann war er ja schon, und Bären sind ja die friedlichen und kuscheligen Vertreter in der Tierwelt. Nur bitte nicht reizen, es heißt, das sei ungesund. Alle waren wir gespannt. Der November, einer der nicht so angenehmen Monate, brach an. Niesel, Nebel, Niesen – eben ein Monat mit vielen N-Wörtern. Und was passt da perfekt hinein: Der NEUE! Es war Montag, die erste volle Arbeitswoche im November. Nicht nur ein diesiger Tag, nein, sondern einer, wo jeder es liebt, eher im Bett zu bleiben. Stattdessen setzen sich alle in irgendein Auto und fahren ins Büro. Aber wer lässt sich schon den „NEUEN“ entgehen. Pünktlich, 10 Minuten vor Arbeitsbeginn, traf er ein und der Chef stellte ihn jedem einzelnen Mitarbeiter mit Handschlag vor. Meine Bürotür öffnete sich und beide traten an den Schreibtisch. Jetzt war ich an der Reihe. „Caroline, ich darf dir Herrn Kramer vorstellen. Er wird der Manager der technischen Abteilung.“ Der Chef drehte sich zu ihm und sprach weiter: „Und für Sie, Herr Kramer. Das ist Frau Sehberger. Meine rechte Hand.“ Wir reichten die Hände zur Begrüßung und schauten uns dabei tief in die Augen. Es war kein Gefühl, sondern ein Gefühlschaos, das der Blick in der Sekunde in mir auslöste. Herzrasen, Pulschlagerhöhung und eine wärmende, aufsteigende Hitze durchströmten den gesamten Körper. Auf mystische Art sank mein Blick tief hinab in seine Männerseele. Alles war so vertraut, fast geheimnisvoll. Es war ein Wechselbad der Gefühle. „Guten Morgen, Frau Sehberger. Freue mich außerordentlich auf unsere Zusammenarbeit“, sagte er mit weicher, sanft klingender Stimme. „Guten Morgen Herr Kramer. Herzlich willkommen und ich freue mich ebenfalls auf eine angenehme Teamarbeit“, sagte ich leise, völlig irritiert und hypnotisiert. Der Klang seiner Stimmbänder war erotisierend. Ja, eine erotische Stimme hatte er. Sie zog mich auf irgendeine Art und Weise unerklärlich in ihren Bann. Chef und Kramer waren fast wieder auf dem Weg zur Türe hinaus, da holte ein Telefonklingeln mich aus meinen verwogenen Gedanken. Kunden haben eben Vorrang. Ab heute gehörte also Herr Kramer zum Mitarbeiterstamm und leider hatte der reizende Arbeitsbeginn des „NEUEN“ für mich einen unschönen Beigeschmack. Ich wurde vorab höflich aufgefordert, mein heißgeliebtes Büro auf der ersten Etage zu räumen. Alleinlage/Ruhe/Küche direkt gegenüber/Kaffee so oft mir nach dem Heißgetränk war und das auf dem kürzesten Weg. Das Büro war Luxus pur. Jetzt zog Kramer dort ein und mich platzierte man ins Erdgeschoß. Seine Augen und seine erotische Stimme trösteten über den „kleinen Verlust“ hinweg. Sie stimmten versöhnlich mit dem Umzug in die neuen Räumlichkeiten. Na ja, man kann eben nicht alles haben. Bis heute ist es nicht erklärbar, was mich bei ihm so in den Bann gezogen hatte. Es wurde nicht nur der berufliche Start eines neuen Kollegen! Es wurde der Beginn meines neuen Lebens. Etwas, dass sich lange Zeit nicht in Worte kleiden ließ. Rückblickend, heute, nach all den Jahren der gemeinsam gelebten Zeitreise, beschreibe ich es treffend mit einem Wort: Liebe. Aber dazu später. Die Zeit verging an Kramers Premierentag wie im Flug. Ebenso der Monat November. Die Auftragsbücher waren voll, der Büroalltag ausgefüllt. Schon stand der Dezember und der 1. Advent vor der Tür. Das ist immer meine Lieblingszeit, erst recht in der Firma. Die Adventszeit. Das Ende eines stressigen Jahres rückt mit der Vorweihnachtszeit in greifbare Nähe. Herr Kramer hatte in der kurzen Phase seiner Zugehörigkeit eine Neuerung eingeführt. Jeden Montagmorgen um 09.00 Uhr fand eine Besprechung, ein Jour Fix statt, bei dem alle Mitarbeiter anwesend waren und Bericht erstatteten. Firmentransparenz nannte er das. Ich kannte solche wöchentlichen Auftaktbesprechungen aus meiner beruflichen Vergangenheit. Eine sinnvolle Einführung zum Wochenauftakt, aber ich glaube, dieser Meinung waren nicht alle. Ebenso an diesem Montag nach dem 1. Advent. Die Büros waren geschmackvoll weihnachtlich geschmückt. Die Chefin hatte ein Händchen für das Dekorative und holte zu den alljährlichen Festzeiten ihre phantasievollen Dekorationen heraus und schmückte die gesamten Räumlichkeiten der Firma. Im aktuellen Jahr hatte ich den Eindruck, dass die Büros festlicher und erleuchteter schienen. Woran das lag? Ich war in Hochstimmung. Alle Räume waren mit hellen Lichterketten und dunklem Tannengrün dekoriert. Sogar ein Tannenbaum stand in der Eingangshalle. Atmosphäre schaffen nannte sie das. Für die Mitarbeiter war es das Einstimmen auf das private Weihnachtsfest. Mein Handy summte und erinnerte mich an den neu eingeführten Fixtermin. 08.45 Uhr Montagsbesprechung. Es wurde Zeit, die nötigen Unterlagen zusammenzupacken und sich im Besprechungsraum zum Jour Fix zu versammeln. Ich schaltete die Rufumleitung ein und sprintete die Treppe hinauf. Auf dem Weg zum Konferenzraum schritt ich an einer Anzahl von Büros vorbei, in denen meine Kollegen so gar keine Anstalten unternahmen, aufzubrechen. Am Sitzungszimmer angekommen war ich wie immer die Erste, die das Wort Pünktlichkeit mit der Muttermilch aufgesogen hatte und den Besprechungsraum 10 Minuten vor der Zeit betrat. Mein Blick fiel auf Herrn Kramer, der schon am oberen Kopfende des langen Konferenztisches seinen Platz eingenommen hatte. Entsetzt starrte ich hinterher auf den in der Mitte des Tisches stehenden Holzkranz, der den Adventskranz symbolisierte. Es war nicht irgendeiner, mitnichten. Eine Kollegin hatte den hölzernen Geburtstagskranz ihrer Kinder mit 4 dünnen Kerzen mitgebracht und diesen zum weihnachtlichen Dekoschmuck erklärt. Der stand in mickriger Pracht auf dem Besprechungstisch. Na ja, über Geschmack lässt sich ja nicht streiten. Hierüber aber schon. Ich verfiel beim Anblick des Kranzes sofort in lautes Gelächter. „Was ist das denn?“, sagte ich. „Wir haben Advent, nicht Kindergeburtstag. Dicke rote Kerzen, Tannengrün und Schleifen. Das ist Advent. Oder Herr Kramer?“ Kaum hatte ich meinen Unmut darüber rausgelassen, schauten wir beide uns kurz, aber intensiv an und schenkten uns dazu ein einvernehmliches Lächeln. Es durchströmte wieder der gleiche Schauer meinen Körper. Welch ein verführerisches Lachen dieser Bär von Mann hatte. Und ich ertappte mich dabei, wie meine Inspirationen versuchten, von mir Besitz zu ergreifen. Stopp, es ist Wochenbesprechung, ein kollegiales Lächeln, sagte ich gedanklich. Etwas verlegen wendete ich den Blick ab und setzte mich zur Besprechung ihm gegenüber am zweiten Kopfende des Tisches. Ein Zweiergespräch kam zwischen uns nicht so recht in Gang. Dafür tauschten wir weitere, intensive Blicke aus. Wir warteten auf die Kollegen, die langsam aus ihren Büros im Konferenzraum eintrudelten. Pünktlichkeit ist nicht jedermanns Sache. Die Besprechung dauerte eine knappe Stunde. Alle brachten ihre Anliegen vor. Das letzte Wort hatte Herr Kramer. Zum guten Schluss verteilte er seine Arbeitsanweisungen und entließ uns in den Arbeitsalltag. Wir beide liefen uns an diesem Montag noch mehrmals über den Weg und hatten kleine, zaghafte, unverfängliche Gespräche. Mit Kaffee, Keksen und ein letztes Telefonat am späten Nachmittag, läutete ich für mich den Feierabend ein. Wünschte dem Restkollegium einen stressfreien Abend und fuhr zu Mann und Kindern. Am nächsten Morgen stand zu meiner Verwunderung der Wagen von Herrn Kramer schon auf dem Parkplatz. Ich parkte direkt daneben. Eifriges Kerlchen, beurteilte ich die Lage und erzeugte in meinem Büro erst einmal eine produktive, gemütliche Atmosphäre. Ich zündete eine Kerze an und nahm mir einen Kaffee. Nach der zweiten Tasse mit Weihnachtskeks brauchte ich für einen Vorgang ältere Akten und Unterlagen aus dem Besprechungszimmer. Halbwegs wach trabte ich die Treppe