Bridget Sabeth

Sandy - Entwurzelt zwischen den Kontinenten


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Hause drastisch reduziert. Er kam meist nur an den Wochenenden kurz heim.

      Zudem gab es einen weiteren Grund für seine Abwesenheit, der war weiblich, blond und langbeinig: ein hübsches Mädchen namens Petra. Erst unlängst hatte Sandra ein Foto von Marios Flamme als Hintergrundbild auf seinem Handy entdeckt.

      Bitte, sag vorerst nichts den Eltern. Es ist noch alles ziemlich frisch und neu für mich, hatte er gebeten. Sandy blieb nicht unbemerkt, dass Mario absolut in das Mädchen verschossen war. Seine Augen bekamen einen besonderen Glanz, den sie nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Sandra lächelte. Sie würde sicher nicht ausplaudern, dass ihr großer Bruder bis über beide Ohren verliebt war, auch wenn es ihr schwerfiel.

      »Ich bin im Turnunterricht von allen am weitesten gesprungen«, erzählte Sandy zwischen zwei Bissen. Erwartungsvoll schaute sie ihren Vater an.

      »Aha«, brummte der gedankenverloren.

      »Hallo, Erde an Vater. Du hörst mir ja gar nicht zu!« Trotzig schob sie die Unterlippe nach vorne.

      »Dein Vater hat zurzeit einiges um die Ohren. Sei ihm bitte nicht böse«, griff ihre Mutter besänftigend ein.

      »Was nun? Im Institut wohl kaum, sonst wäre er ja nicht daheim. Hat er ja selber gesagt!«, meinte Sandra bockig. Was ist los? Warum sind beide so komisch?

      »Entschuldige, mein Kleines.« Manfred suchte den Blick seiner Tochter. »Ich bin sehr stolz auf dich. Es tut mir leid, wenn ich es nicht immer zeige.«

      »Schon gut.« Sandy klang versöhnter. Sie aß von ihren Nudeln. Die schmecken heute auch weicher und pampiger als sonst. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann Mama das letzte Mal ein Gericht misslungen ist. Sie kocht normalerweise hervorragend.

      Manfred verstrubbelte Sandys braunes kurzes Haar.

      Das hat er lange nicht mehr gemacht! Sandra schluckte irritiert. Sämtliche Alarmglocken schrillten in ihr. Sie fühlte die veränderte Stimmung, die sich in jeder Pore ihres Körpers auszubreiten schien. »Bist du traurig?«

      »Mach dir keine Sorgen«, wich ihr Vater aus.

      »Stimmt irgendetwas nicht?«

      Ihre Eltern wechselten untereinander Blicke aus, die Sandy kannte, wenn sie etwas angestellt hatte. Momentan war ihr Gewissen diesbezüglich rein. »Was ist los? Jetzt sagt schon!«, beharrte sie dickköpfig.

      Ihre Eltern schwiegen nach wie vor.

      »Ich bin kein kleines Kind mehr. Wenn es wichtig ist, sollte ich darüber Bescheid wissen!«

      Manfred räusperte sich, legte das Besteck zur Seite. »Über gewisse Dinge solltest du tatsächlich Bescheid wissen. Zur Sicherheit. Aber du darfst es niemandem erzählen. Und wenn ich niemandem sage, dann meine ich niemandem!« Seine Stimme klang schärfer als beabsichtigt.

      »Ein Geheimnis für mich allein?!« Sandy rutschte aufgeregt auf ihrem Stuhl hin und her. Wieso zur Sicherheit?

      »Höre deinem Vater genau zu! Bitte«, mahnte Mary.

      Augenblicklich saß Sandy still, langte zur goldenen Kreuzkette, die um den Hals baumelte. Der Schmuck war ein Erbstück ihrer Ur-Großmutter und zugleich eine Art Talisman. Mama wirkt so angespannt! Ein fröstelnder Schauer ergriff Sandy. Sie rieb sich die Unterarme, wurde von einer neuen Woge gefüllt mit Unbehagen überrollt.

      »Dein Onkel Kurt ist im Land. Er hat mich im Institut aufgesucht, und es gab Streit«, erklärte ihr Vater missmutig.

      »Onkel Kurt?«, wiederholte Sandra, »den kenne ich nur von einem Foto. Lebt der nicht irgendwo in Amerika?«

      »So ist es.« Manfred unterdrückte ein Stöhnen. »Kurt hat in Erfahrung gebracht, dass wir eine Formel für ein neues Medikament entdeckt haben, eine Art Droge. Du weißt, was das ist, oder?«

      Sandy nickte. »Wir hatten erst letztens ein Referat über das Suchtverhalten und die zer­störerischen Auswirkungen von Drogen. Weshalb entwickelst du so etwas?«

      Eine tiefe Querfalte bildete sich auf Manfreds Stirn. »Das war nicht beabsichtigt. Es ist kein Geheimnis, dass das Flavonoid Wogonin unterstützend in der Krebstherapie eingesetzt wird. Es entstammt aus dem Helmkraut. Ich habe eine Zusammensetzung gefunden, die für Krebskranke zum Heilmittel werden könnte. Es ist mir gelungen, die positive Wirkung der Pflanze zu vervielfachen. Die Versuchsreihen an den Mäusen und Ratten sind vielversprechend. Vor allem wäre dieses Mittel ebenso für Kinder oder Schwangere geeignet, sowie bei Menschen, deren Immunsystem geschwächt ist.«

      »Das klingt doch gut.«

      »Ja, an sich schon«, bemerkte Manfred gedrückt. »Die Dosis gehört allerdings abgestimmt, auf Alter, Größe und Gewicht. In der Therapie wird die Lösung injiziert, also gespritzt. So kann sich die volle Wirkkraft entfalten. Das Mittel reichert sich in der Blutbahn an, gelangt zum Tumor, schädigt diesen, bis er zerfällt. Zweckentfremdet stellt es jedoch eine Gefahr dar. Dem Helmkraut wird eine ähnliche Wirkungsweise wie dem Marihuana nachgesagt. Und was passiert, wenn es mit anderen Pflanzenextrakten, wie dem Aztekensalbei, kombiniert wird, daran möchte ich gar nicht denken.«

      »Meinst du damit Nebenwirkungen, oder wie das heißt?«, hakte Sandra nach.

      »Ja. Drogen machen abhängig. Durch die konzentrierte Form des Mittels kommt es zu einem rascheren und intensiveren Drogenrausch. Das zeigt sich in psychischen Veränderungen wie: Wahnvorstellungen, Halluzinationen … Dabei haben manche schon gedacht, sie könnten fliegen. Was dann ein Flug in den Tod war. «

      Sandy schluckte betroffen. In der Klasse hatten sie beim Referat die Folgen einer Abhängigkeit näher erörtert. Es von ihrem Vater zu hören, mit diesem Vibrieren in der Stimme, war etwas ganz anderes.

      »Zu hohe Dosen wirken negativ auf den Körper«, fuhr Manfred fort. »Der Kreislauf kann zusammenbrechen, oder es kommt zu Fieber, das in weiterer Folge zu einer Austrocknung, einer sogenannten Dehydration führt. Das erhöht das Risiko von Herzrhythmusstörungen. Auch die können tödlich sein. Deswegen darf so ein Mittel nur unter Aufsicht und mit entsprechender Indikation eingenommen werden! Süchtigen ist das egal. Der Körper sowie der Geist gaukeln ihnen vor, dass sie diese Substanz benötigen, brauchen immer höhere Dosen. Dafür tun manche Menschen alles: Verkaufen sich, die eigene Familie, Freunde …«

      »Du … du sprichst doch von einem Medikament und nicht der Pflanze? Muss das nicht ein Arzt verschreiben?«

      Manfred lächelte bitter. »Stimmt, es ist auch noch nicht zugelassen. Doch jeder, der die Formel, das nötige Wissen, Equipment oder Geld besitzt, kann die Substanz theoretisch herstellen. Vielleicht gab es einen Insider-Tipp … Zumindest ist die Drogenmafia darauf aufmerksam geworden.«

      »Du meinst Onkel Kurt, oder?«, kombinierte Sandra, obwohl es in ihrem Kopf von den ganzen Informationen regelrecht surrte.

      Ihr Vater nickte.

      »Wie kann er davon wissen?«

      »Er ist böse!«, stieß Mary haltlos aus.

      »Böse?«, echote Sandy verständnislos. Statt einer Erklärung registrierte sie, wie ihre Mutter die Lippen zu einem dünnen Strich zusammenpresste, während ihre Augen verräterisch nass glänzten. Hat sie Angst? Sie ist ganz blass!

      Manfred sprach hastig weiter. »Im Wald, unweit von der Höhle entfernt, steht der neue Hochsitz. Wir sind vor einem Monat daran vorbeigegangen.«

      »Ich weiß, welchen du meinst. Du hast Herrn Schmied beim Bau geholfen.«

      »Stimmt. Die linke Seitenwand ist doppelt eingezogen, dahinter befindet sich ein Hohlraum. Dort sind in einer blauen Folie meine Aufzeichnungen über die Formel versteckt. Falls deiner Mutter oder mir irgendetwas passieren sollte, bitte ich dich, die Unterlagen zur Adresse zu bringen, die auf dem Umschlag steht. Du darfst sonst mit niemandem darüber sprechen. Es schon gar nicht Kurt erzählen!«

      »Wovon redest du da? Du hast gesagt, dass ich mir keine Sorgen machen soll!« Sandys Stimme überschlug sich, ihre Emotionen fuhren Achterbahn. Fuck,