Bridget Sabeth

Sandy - Entwurzelt zwischen den Kontinenten


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verließ den Essraum. Er verschaffte sich einen Überblick der Räumlichkeiten. Seine Männer hatten die Zimmer durchforstet, Matratzen aufgeschlitzt und Wäsche aus den Schubladen befördert. Abfalleimer waren umgedreht, Blumentöpfe zerborsten, Vasen zerschmettert. Bücher lagen verstreut vor den Regalen. Er trat achtlos auf Blüten, Blätter und Erde, kontrollierte jeden Schrank, fand Dokumente, die für ihn ohne Belang waren.

      »Formel und Mädchen unauffindbar, ich hätte schwören können …« Achtlos warf er eine Keramikfigur, die er sich nicht genauer besah, auf den Fußboden, wo sie zerschellte. Obwohl … Kurt hielt inne, bemerkte einen am Boden liegenden Reisepass. Er hob ihn auf, öffnete diesen. Sandras Pass! Kurzerhand steckte er ihn ein. Er ging zurück in den Vorraum, da fiel sein Blick auf eine Holztruhe, die mit Kleidungsstücken zum Teil verdeckt war. Hat darin noch niemand nachgesehen? Er eilte darauf zu.

      Sandra kauerte in ihrem Versteck. Geschockt, verwirrt … Ihre Faust im Mund, um die aufsteigenden Schluchzer zu dämpfen. Was haben sie gesagt? Mum war in einem freizügigen Eta… Eta irgendwas? Paps soll unfruchtbar, und ich Kurts Tochter sein? Wie konnten meine Eltern mich lieben und umarmen? War Mama deshalb an meinen Geburtstagen oft so bedrückt?

      Sandys Körper bebte unkontrolliert. Mit einer Hand umklammerte sie ihre goldene Kette. Die Wangen waren klitschnass von ihren Tränen, über den Rücken rann Schweiß. Durch die feinen Ritzen in der Truhe konnte sie ihre Mutter sehen, die bewegungslos auf dem Boden lag, umgeben von Blut, verdammt viel Blut …

      Ringsum klang es so, als würden die Kerle die gesamte Einrichtung des Hauses kurz und klein schlagen. Flieh!, geisterte es durch ihren Kopf. Ich kann nicht! Statt den Deckel anzuheben, schloss sie matt die Augen. Sei still, egal was passiert, formte sie tonlos mit den Lippen die Worte ihres Vaters. Verzweifelt verbarg sie das Gesicht hinter den Händen. Sind mittlerweile Minuten oder Stunden vergangen? Sie sollen verschwinden … Bitte, guter Gott …

      Sandy erschrak, als sie über sich ein Geräusch hörte. Nun ist alles aus! Sie rollte sich weiter zusammen, hielt unbewusst den Atem an.

      »Wir sollten los, bevor uns jemand entdeckt!«

      Nach dem autoritären Klang der Stimme konnte es nur Kurt sein. Er musste unmittelbar neben ihrem Versteck stehen.

      »In Ordnung«, kam es zurück.

      Sandy schluckte, tiefer Hass schoss empor. Mörder! Sie biss die Zähne zusammen, um nicht laut loszuschreien.

      »Also, Abmarsch … Und draußen legen wir ein Feuerchen, um alle Spuren zu verwischen.«

      Feuer! Nein! Sandra riss die Augen auf.

      Die Entführung

      Die Haustür wurde zugezogen, kratzte dabei hörbar über den Fliesenboden. Sandy verharrte horchend. In ihren Ohren rauschte der rasende Puls. Vorsichtig traute sie sich aus ihrem Unterschlupf. Sie schob den Deckel hoch, einige Kleidungsstücke fielen herab, die ihr Versteck getarnt hatten.

      Ungelenk kletterte das Mädchen hinaus. Es spürte die Steifheit der Gliedmaßen, bedingt durch die unbequeme Position im Inneren der Truhe. Sandra schluchzte, trocknete ihr Gesicht notdürftig mit dem T-Shirt und hinterließ dunkle nasse Flecken darauf.

      »Mama? Papa?«, hauchte Sandy heiser, obwohl ihr bewusst war, dass beide nicht mehr leben konnten. Ich muss sie sehen, aus nächster Nähe, um es zu begreifen. Langsam bewegte das Mädchen sich vorwärts, der Blutlache entgegen. Es erblickte die Eltern, unnatürlich verdreht am Boden, die Augen starr und voller Qual aufgerissen, als würden sie eine stumme Anklage in die Welt schreien.

      Sandra stützte sich zittrig an der Wand ab, versuchte, nicht in die blutige Pfütze hineinzutreten, bis ihre Beine den Dienst versagten und sie auf die Knie sank. Sie krabbelte zu ihrer Mutter hin. Zumachen! Zumachen! Sandy ertrug nicht länger dieses Starren, fuhr mit bebender Hand über die Augenlider, um sie zu schließen.

      »Kein … kein Wort wird er … erfahren«, brachte sie stockend hervor.

      Ein Schatten hinter dem Fenster ließ sie zusammenzucken. Mist! Sie wollen alles abfackeln!, schoss es ihr. Sandys Blick fiel auf Mutters Medaillon, das unter der Kommode hervorlugte. Bebend griff sie danach. Es war aufgesprungen. Sandra sah in der Herzform ein Foto aus einst glücklichen Tagen: ihre Familie, lächelnd, alle vier … vereint.

      Sandy drückte es entschlossen zu, löste ihre eigene Goldkette vom Hals, deren Glieder an einen zierlichen geflochtenen Zopf erinnerten. Sie schaffte es, mit zittrigen Fingern das Medaillon aufzufädeln, das neben dem schlichten goldenen Kreuz Platz fand. Mit der Hand umschloss sie das Herzmedaillon mitsamt dem Anhänger.

      »Ihr werdet immer bei mir sein«, flüsterte Sandra. Sie rappelte sich empor, hielt kurz inne, bis die schwarzen Punkte vor ihren Augen verschwanden. »Reiß dich zusammen!« Brandgeruch schob sich in ihre Nase. Ich muss hier raus! Vor dem Fenster stiegen erste Rauchschwaden auf.

      Hilfe … Hol Hilfe! Sandra griff instinktiv in die hintere Hosentasche, in der sie zumeist ihr Handy verstaut hatte. Leer – Mist! Wo hab ich es hingetan? Sie konnte sich im Wirrwarr ihrer Gefühle nicht daran erinnern. Sandra rannte in den Vorraum, starrte einen Augenblick benommen auf das heillose Durcheinander. An der Wand lugte ein loses Kabel hervor. Sie hatten das Telefon heraus­gerissen.

      Zum Nachbarn! Mario anrufen … Polizei! Sandy lief zur Hintertür, riss sie auf, prallte gegen einen Männerkörper.

      »Feuer treibt jegliches Ungeziefer aus. Das ist nach meinem Geschmack, läufst mir direkt in die Arme. Weißt du, ich hätte dich aus der Truhe ziehen können, aber es gibt Umstände im Leben, da sollte man nicht den einfachen Weg verfolgen, sondern mit Strategie vorgehen, um den Reiz zu erhöhen.«

      Sandra erschauerte. Im ersten Moment dachte sie, es wäre ihr Vater. Dieser eisige Blick … Sie blieb erstarrt stehen. Hart packte Kurt das Mädchen an der Schulter.

      »Hilfe!«, rief Sandy aus einem Impuls heraus, obwohl der nächstliegende und einzige direkte Nachbar, Herr Schmied, eine Kehre weiter wohnte, die nicht einsehbar war.

      Kurt verschloss ihren Mund fest mit seiner Hand, zog sie ein Stück vom Gebäude weg. Zu den Seiten züngelten Flammen hinauf, begleitet von einem Prasseln, Fauchen und Zischen des Feuers.

      »Hör auf, dich zu wehren! Oder bist du so dumm, dass du mit Mary und Manfred verbrennen willst?« Kaum hatte er ausgesprochen, fluchte er. »Au, du verdammtes Biest, du hast mich gebissen!«

      Er verpasste ihr eine Ohrfeige. Sandras Kopf flog zur Seite. Deutlich blieben Fingerabdrücke auf der Wange zurück. Tränen füllten ihre Augen, vor Wut und Zorn, nackter Panik und Hass. Sie wollte keine Schwäche zeigen, presste ihre Lippen hart aufeinander, unterdrückte jeglichen Laut.

      »Du hast mehr von mir, als ich dachte.«

       Niemals!

      Kurt zerrte Sandra zu der schwarzen Limousine, die am Straßenrand parkte. Er stieß sie in den Fond des Wagens, zog seine Pistole aus der Tasche und zielte auf das Mädchen.

      Niemand bemerkte den Mann, der sich im Schutze eines Baumes verbarg. Er hob kurz die Hand und sein Hund setzte sich erwartungsvoll neben ihn. Der Münsterländer visierte sein Herrchen an, wartete auf ein weiteres Kommando.

      Die Kerle sind bewaffnet! Und grad heut hab ich mein Jagdgewehr nicht dabei, haderte Herr Schmied. Erschrocken zuckte er zusammen, als er Manfred sah, der seine Tochter zum Auto schleifte. Seit wann ist mein Nachbar derart grob?

      Herr Schmied griff zur Brust, hob den Feldstecher empor, der an einer Schnur um den Hals baumelte, um genauer zu sehen. Die Statur passt, das Aussehen auch … Hab ich mich in Manfred so getäuscht? Über all die Jahre? Und diese vornehme Kleidung mitten am Tag! Sonderbar … Irritiert schüttelte er den Kopf. Die dunkle Limousine war ihm fremd. Vorne hatten die schwarz bekleideten Kerle Platz genommen, einer davon war am Arm verletzt. Manfred saß mit Sandra im hinteren