Bridget Sabeth

Sandy - Entwurzelt zwischen den Kontinenten


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das ist für den Notfall gedacht«, beschwichtigte Manfred. »Deine Mutter möchte mit dir für ein paar Tage wegfahren, bis sich alles beruhigt hat. Wenn Mario hier ist, weihen wir ihn ein. Bis dahin bleibt es unser Geheimnis.« Ihr Vater versuchte, sie aufmunternd anzulächeln. Das misslang gründlich, wirkte stattdessen verzogen und grimassenhaft.

      Sandra stierte unglücklich auf ihren halbgefüllten Teller Spaghetti. Lustlos stocherte sie in dem mittlerweile kalt gewordenen Lieblingsessen herum. Sie registrierte rote Soßen­spritzer am weißen Tellerrand. »Was ist mit deinen Kollegen in der Forschungsabteilung? Können die nicht mehr mit diesen Infos anfangen? Warum gibst du sie denen nicht weiter, sondern versteckst sie?«

      »Du weißt, dass Markus vor zwei Wochen gestorben ist«, sprach Manfred mit brüchiger Stimme.

      Obwohl es wie eine Feststellung klang, nickte Sandy.

      »Es war eine Über­dosis. Nicht wegen der neuen Substanz aus dem Helmkraut, falls du dich das fragst. – Ich vermute … Nein, eigentlich bin ich mir sicher, dass jemand nachgeholfen hat. Deshalb traue ich zurzeit keinem. Auch niemandem im Institut.«

      »Oh!« Sandys Augen weiteten sich entsetzt. Das ist neu! Gibt es zwischen Markus, den Drogen und dem Auftauchen von Kurt einen Zusammenhang? Das kann kein Zufall sein! Bin ich in einem Krimi? Oder ist das ein absurder Traum? Sandy zwickte sich in den Unterarm. Der Schmerz bewies ihr, dass sie sich im Hier und Jetzt befand. Ihre Zunge fühlte sich unnatürlich lahm an. Sie scheute sich davor, ihre Fragen auszusprechen.

      Wann habe ich die beiden derart down erlebt? Bei Ur-Oma Annelieses Tod vor zwei Jahren … Sandra dachte an die alte Dame. Sonntags, nach dem Gottesdienst, waren die Besuche bei ihr in der Pflegeeinrichtung ein Fixum gewesen. Zuvor hatte die Ur-Oma bei ihnen im Haus gelebt. Bevor sie zur Belastung wurde, ist sie ausgezogen. Oma hat sich selber um einen Platz im nächstgelegenen Seniorenheim gekümmert, stand eines Tages mit gepackten Taschen in der Tür. So leer ist das Haus anfangs ohne sie gewesen.

      Sandy erinnerte sich an das lebendige Strahlen von Ur-Omas blauen Augen. Sie vermisste die Geschichten, die meist von früher handelten. Sie war im Krieg aufgewachsen, in einer Zeit voller Entbehrungen. Für Ur-Oma Anneliese bedeutete Glück, etwas zum Essen sowie ein trockenes Plätzchen zum Schlafen zu haben. Derart bescheiden war sie auch als alte Dame gewesen, klagte nie.

       In den Monaten vor Ur-Omas Tod wurde sie merklich schwächer, sie schlief die meiste Zeit. Immer öfter bin ich ferngeblieben, traf mich lieber mit meinen Freundinnen. Auf einmal ist sie nicht mehr dagewesen … Sondern irgendwo da oben … Bei den Großeltern von Mum und Paps, die ich nie kennengelernt habe … Der Sarg wurde in die dunkle Erde hinabgelassen.

      Sandy gruselte es. Sie schaute auf. »Mama, Papa – ich hab euch lieb«, stieß sie aus.

      »Ach, mein Schatz«, Mary schloss sie spontan in die Arme. »Wir lieben dich.«

      Manfred erhob sich wenige Momente später, umarmte seine beiden Frauen. Sie hielten einander ganz fest.

      Sandy kämpfte mit den Tränen. Mist, irgendetwas stimmt hier mit Sicherheit nicht!, pochte es in ihr.

      Vehement klopfte es gegen die Tür, irgendjemand rüttelte daran. »Manfred, mach auf!«, rief eine männliche Stimme mit einem kanadischen Akzent. »Ich weiß, dass du da bist!«

      Die drei fuhren auseinander. Sandy entdeckte auf den Gesichtern ihrer Eltern Panik.

      »Oh, mein Gott!«, stieß Mary aus und sah sich um. »Du musst dich verstecken!« Sie schob kurzerhand ihre Tochter vorwärts.

      »Psst«, zischte Manfred, »hier rein.«

      Ihr Vater hielt den Deckel einer Holztruhe auf, die sich im Vorraum befand. Rasch kletterte seine Tochter hinein. Mahnend schaute er sie an. »Sei bitte still, egal was passiert«, sprach er beschwörend, »egal was passiert!«

      Zitternd brachte Sandy ein Nicken zustande. Der Deckel senkte sich, tauchte ihre Umgebung in Dunkelheit. Eingepfercht in der Kiste dröhnte der verängstigte Herzschlag in ihren Ohren. Sie konnte kaum atmen. Unweigerlich dachte sie an Ur-Omas Sarg. Hilfe … Hilfe … Nicht auffallen … Ruhig bleiben … Sandra kauerte sich zusammen, und lauschte.

      »Na gut«, erklang es, »wenn du nicht aufmachst, dann komme ich eben so rein!« Fast zeitgleich krachte es, das Schloss zerbarst unter der Wucht einer abgefeuerten Kugel. Die Tür schwang auf. Ein Mann trat in die Diele. »Ja, wen haben wir denn da?«

      Manfred kannte sein Gegenüber. Optisch ähnelten sie sich mehr, als ihm lieb war: Mit einem Meter siebzig eher klein geraten, schmächtig, mit schmalen Schultern. Man sollte sich nicht von der Optik täuschen lassen. »Kurt«, sprach er angespannt. »Mit Begleitung.«

      Neben seinem Bruder standen zwei Kerle, schwarz gekleidet, mit muskelbepackten Armen. Die Gesichter lagen verborgen hinter Masken, wiesen bloß Sehschlitze auf. Kurt machte eine flüchtige Handbewegung. Manfred bemerkte, wie Mary zusammenzuckte. Die beiden Lakaien hielten sich nicht mit ihnen auf, sondern durchsuchten die angrenzenden Räume. Hörbar gingen dabei Dinge zu Bruch.

      »Mein kleiner Bruder, ein fantastischer Forscher«, spottete Kurt. »Nach meinem Besuch am Vormittag hätte ich erwartet, dass du dich aus dem Staub machst. Heißt das, du gehst auf das Angebot ein? Wahrscheinlich bist auch du längst der Almosen überdrüssig, und vor allem dieser bescheidenen Hütte.«

      »Du irrst dich, und noch weniger kannst du mich einschüchtern! Ich bin hier, um mich dir entgegenzustellen!«

      »Falls du es nicht bemerkt hast, ich habe Verstärkung mitgebracht.« Kurt lachte gehässig. »Komm, gib dir einen Ruck. Mein Geschäft ist lukrativer. Eine Million Euro! Was du mit diesem Geld bewirken könntest. Und alles nur für ein paar Notizen von dir.«

      Angewidert beobachtete Manfred, wie sich sein Bruder über den teuren Anzug strich, der augenscheinlich maßgefertigt war. Niemals beabsichtigt Kurt, diese lächerlich hohe Summe lockerzumachen. So ein Abschaum, wie er es ist, will ich nie sein! Das schafft kein Geld der Welt! Im Hintergrund wurde hörbar eine Tür aufgebrochen, irgendeine Schublade ausgeleert. Mary stand still neben ihm. Bestimmt hofft sie so wie ich, dass sie Sandy nicht finden werden. »Du kennst meine Antwort und sie lautet: Nein!«, entgegnete er fest.

      Kurts Grinsen gefror auf dem Gesicht. »Jeder, der nicht für mich ist, ist gegen mich. Du weißt, was das für deine Familie und dich bedeutet?«

      Die maskierten Kerle kamen zurück. »Leer«, kommentierte einer knapp.

      »Leer?« Argwöhnisch zog Kurt eine Augenbraue hoch. »Ist Sandra nicht daheim?«

      »Nein. Sie übernachtet bei einer Freundin.« Manfred versuchte, das Beben in seiner Stimme zu unterdrücken.

      »Schade. So gerne hätte ich mein eigenes Fleisch und Blut gesehen.« Kurt zog eine Zigarre aus der Innentasche seines schwarzen Jacketts hervor. Dabei entging ihm nicht der gehetzte Blick, den Mary ihrem Mann zuwarf. Ist Sandy doch im Haus? Versteckt? Haben meine Leute nicht gründlich genug gesucht?

      Kurt ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, entzündete seine Brasil. Er paffte ein paar Rauchwolken in die Luft, die langsam emporstiegen und sich im gesamten Raum mit einem süßlich-würzigen Aroma ausbreiteten.

      »Hast du nicht schon genug Kummer über uns gebracht?!«, stieß Mary entrüstet aus. Sie lief in den angrenzenden Essraum, um sich von Sandys Versteck zu entfernen.

      Manfred folgte seiner Frau sogleich, zog sie an sich und suchte ihren Blick. Bitte, bleib ruhig, mahnte er sie stumm. In ihren Augen entdeckte er eine tiefe Angst, die ihn wie ein Pfeil schmerzhaft durchbohrte. Verzeih, ich hätte dich beschützen müssen! Euch in Sicherheit bringen, gleich nachdem Kurt im Institut aufgetaucht ist! Du hast recht gehabt, ich hab meinen Bruder unterschätzt. Schon wieder. Schlimmer noch, ich hab nichts aus der Vergangenheit gelernt. Die Formel hat mich blind für all die anderen Dinge gemacht. Und nun ist es zu spät.

      Die Lakaien drängten Manfred von Mary weg. Kurt trat näher, langte unter das Kinn seiner Schwägerin,