Bridget Sabeth

Sandy - Entwurzelt zwischen den Kontinenten


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Er langte in der Innentasche seiner Jacke nach dem Handy, um die Polizei sowie die Feuerwehr zu verständigen. Während der Wagen losfuhr, setzte er den Notruf ab.

      Sandy starrte auf die verdunkelte Trennscheibe, die den vorderen Bereich der Limousine vom hinteren abgrenzte, sodass sie nicht hindurchschauen konnte. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, die Fingernägel gruben sich tief in das eigene Fleisch. Sie wollte schreien, weinen, um sich schlagen … Sandra saß wie erstarrt da. Immer wieder schob sich das Bild der toten Eltern in ihre umherwirbelnden Gedanken. Sie lagen inmitten eines blutigen Sees.

      Mussten beide wegen der Formel so grausam sterben? Bin ich die Nächste? Hätten die Kerle mich mitgenommen, wenn sie meinen Tod wollen würden? Was haben sie vor? Die Formel aus mir herauspressen? Etwas anderes? – Hast du eine Ahnung, wie viel Geld gewisse Männer mir für eine kleine Jungfrau bieten?, hörte sie Kurts Stimme gedanklich in ihrem Ohr. Sandra schluckte. Das klang bedrohlich, sehr sogar. Wäre da der Tod nicht besser?

      »Endlich sind wir vereint: Vater und Tochter.«

      »Mein Papa ist Manfred Berger.«

      »Er war ein lausiger Vater, ein viel größerer Narr, konnte nicht einmal seine Familie beschützen.«

      »Auf so ein Stück Scheiße, wie du es bist, kann jede Familie verzichten«, wisperte Sandy.

      Kurts Hand schnellte vor, quetschte ihre Wangen schmerzhaft zusammen. Seine Augen glitzerten kalt. »Du wirst noch lernen, vor mir Respekt zu haben!«

      »Bring mich doch um«, presste Sandy hervor.

      »Das kann warten. Stattdessen darfst du dich auf meinen Freund Diego freuen. Der ist ganz vernarrt in hübsche, junge Dinger. Da ich nicht die abnorme Leidenschaft meines Vaters – deines Großvaters – teile, wird er dich bändigen müssen. Dabei bleibe ich im Hintergrund, beobachte und genieße, wie er aus dir ein zahmes Lämmchen macht. Und später wirst du in Marys Fußstapfen treten, die einstigen Kunden in London haben ihren Weggang nach Österreich bestimmt bedauert. Bedanken kannst du dich bei deinem V a t e r! Hätte er sich nicht so geziert, würdet ihr alle noch leben.« Er ließ sie los.

      Sandy hielt unbewusst den Atem an. Ein eisiges Beben kroch durch ihren Körper, sie schlang schützend die Arme um sich.

      »Manfred meinte, die Formel wäre in der Nähe von eurem Haus? Weißt du davon?« Sein Blick war lauernd.

      Kein Wort wird er von mir erfahren! Sandra antwortete nicht, sondern drückte sich tiefer in die Ecke der hinteren Sitzbank.

      »Glaub mir Kleine, es kommt der Zeitpunkt, da wirst du zwitschern wie ein Vögelchen. Als Mister Night bin ich der Herrscher über die Abgründe der Menschheit«, höhnte Kurt.

      Das Mädchen drehte den Kopf zur Seite. Es blickte zum Seitenfenster hinaus. Die Augen waren auf den Mittelstreifen, einen durchgehenden weißen Strich, der Straße geheftet. In Sandys Kehle steckte ein dicker Kloß, der sie kaum atmen ließ.

      »Willst du eigentlich wissen, wo ich dich hinbringe?«

      Sie zuckte flüchtig mit den Schultern. Spielt das eine Rolle?

      »Sieh mich an!« Erst, als er die Waffe in ihre Seite drückte, kam sie seinem Befehl nach.

      »Du begleitest mich nach Kanada. Mir wird momentan dieses Pflaster hier zu heiß.«

      Sandra versteifte sich unwillkürlich. Nein! Nein! Nein!

      »Dein Pass fiel mir sozusagen vor die Füße. Es schien, als hätte er gewartet, von mir gefunden zu werden«, raunte er ihr ins Ohr. Während sein Lachen stetig lauter wurde, schloss sie gequält die Lider und ihr Körper wurde von stummen Schluchzern gebeutelt.

      Kurt betrat mit dem Mädchen das riesige Foyer des Grazer Flughafens. Sandy stoppte, starrte auf die monströsen Glasfronten. Zahlreiche Menschen tummelten sich in der Halle. Sie hätte sich im Augenblick nicht verlorener fühlen können. Der verletzte Kerl war beim Auto geblieben, der andere kümmerte sich um das Gepäck seines Bosses. Kurt umfasste hart Sandras Handgelenk. »Sei brav!«, zischte er ihr zu, »ansonsten knöpfe ich mir deinen Bruder vor.«

      Mario darf nichts zustoßen! Weiß er, dass ihr Bruder in Graz ist, hier studiert? Sandra gab keinen Mucks von sich. Fordernd schob Kurt sie weiter. Ihr Kampfgeist hatte sich, irgendwo zwischen ihrem Zuhause und dem Flugplatz, in Luft aufgelöst. Sandy war versucht, ihre Kette zu berühren. Sie unterließ es, spürte die fremde Last des Herzmedaillons, das mit dem feinen Kreuz ihre Haut sanft streichelte. Aber nichts konnte darüber hinwegtäuschen, dass sie bald nicht mehr in Österreich sein würde.

      Kurt besorgte die Bordkarten. Nach einer gefühlten ewigen Wartezeit, die sie schweigend verbrachten, begaben sie sich zum Gate 9. »Mach keine Faxen!«, drohte er mit Nachdruck.

      Nur mit Mühe konnte Sandra ihre Tränen verbergen. Ich will tapfer sein, ich muss tapfer sein, für Mario. Vielleicht rettet der überhastete Aufbruch das Leben meines Bruders. Bitte. Nichts wünsche ich mir sehnlicher. Außer, lass mich aus diesem Albtraum erwachen! Es war kein Traum. Ihre Hand schmerzte, da Kurt sie wie in einem Schraub­stock hielt.

      Der Kontrollabschnitt des Tickets wurde an der Perforierung abgerissen. Ein Mitarbeiter der Fluggesellschaft wünschte einen angenehmen Flug. Sandra sah weder nach links noch nach rechts. Sie ließ sich mitziehen, willenlos, unabhängig davon, in welche Richtung er marschierte.

      »Na, mein kleines Fräulein, was möchtest du trinken?«

      Verwirrt schaute Sandra auf. Vor ihr stand eine Stewardess in blauer Uniform und lächelte sie an. Bei einem Seitenblick aus dem Fenster bemerkte das Mädchen, dass der Flieger bereits abgehoben hatte. Unter ihnen lag ein Wolkenmeer, ausgebreitet wie ein weißgrauer Teppich. Sie fand in diesem Anblick keinen Trost, denn mit jeder Sekunde entfernte sie sich mit der Boeing weiter von ihrer Heimat.

      »Hast du Durst?«, hakte die Frau nochmals nach.

      »Ein Wasser«, wisperte Sandy. »Bitte.«

      »Ein stilles Wasser oder lieber Soda?«

      »Still«, mischte sich Kurt ein. »Sie fliegt heute zum ersten Mal«, erklärte er.

      »Ach, da bist du wohl etwas nervös?« Die Frau zwinkerte ihr aufmunternd zu, reichte ihr das gewünschte Getränk.

      »Danke«, erwiderte Sandra, doch die Stewardess hatte sich bereits umgedreht, widmete sich den Wünschen der weiteren Fluggäste.

      Sandy nippte am Wasser, ehe sie es vor sich in die Halterung stellte. Sie rutschte unruhig auf dem Sitz hin und her. Ob ich jemandem sagen kann, dass man mich grade entführt? »Ich muss aufs Klo«, fragte sie unsicher.

      Mahnend raunte Kurt ihr zu: »Rede ja mit niemandem, falls dir das Leben deines Bruders etwas bedeutet. Wir sind zwar nicht mehr in Österreich, aber glaub mir, ich habe Kontakte.« Sein spöttisches Grinsen unterstrich das eben Gesagte.

      Kann er Gedanken lesen?, dachte Sandra verdattert. »Ich muss aufs Klo«, wiederholte sie trotzig und frustriert.

      »Ich werde dich besser begleiten.«

      Beide erhoben sich. Kurt postierte sich vor der Toilettentür, während Sandra dahinter verschwand. Mit unverminderter Wucht brachen heiße Tränen hervor. Sie hielt bebend ihre fein­gliedrigen Finger unter den Wasserhahn, kühlte damit die Hände und schließlich das Gesicht. Sandy schaute auf. Fassungslos starrte sie ihr Spiegelbild an, strich ungelenk eine Haarsträhne hinters Ohr. Bisher habe ich gedacht, ich würde Paps ähneln. Die rundliche Nasenspitze, doch diese kühlen grauen Augen sind von Kurt … Ich ähnle einem Mörder, einem Monster!

      Sandra wurde schlecht, sie erbrach sich ins Waschbecken. »Mist!« Sie würgte einige Male, aber ihr Magen war leer. Zurück blieben ein ekelhafter saurer Nachgeschmack und ein Brennen hinter dem Brustkorb, dessen Ursache nicht allein an der ätzenden Magensäure lag.

      Es klopfte fordernd gegen die Tür. »Bist du endlich fertig, oder willst du da drinnen übernachten?«, zischte Kurt scharf.

      Rasch