Bridget Sabeth

Sandy - Entwurzelt zwischen den Kontinenten


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Papier, das normalerweise zum Händeabtrocknen gedacht war, tupfte sie sich die Tropfen aus dem Gesicht.

      Erneut pochte ihr Onkel an die WC-Tür. Sie hatte keine andere Wahl, als ihm entgegenzutreten. Er lachte boshaft, als er sie sah. Sandy wusste, dass es an ihrem jämmerlichen Aussehen liegen musste. »Ach, ist dir etwas übel, das tut mir leid«, spottete er.

      Sie antwortete nicht. Wie kann es Menschen geben, die sich am Schmerz eines anderen erfreuen? Sie schwankte. Du wirst büßen, für alles! Bei der nächsten Gelegenheit fliehe ich, versprach sie sich. Niemals will ich bei Kurt oder diesem Diego enden! Das halte ich nicht aus! Mit zittrigen Knien ging sie Richtung Sitzplatz zurück, deutlich spürte sie den Onkel im Rücken. Meine Eltern dürfen nicht umsonst gestorben sein …

      Der Flug nach Nordamerika dauerte Stunden. Kurt warf Sandra einen prüfenden Seitenblick zu. Eigentlich hatte er ein eingeschüchtertes Mädchen erwartet. Aber die Kleine saß aufrecht neben ihm, knabberte an einem Schinken-Käse-Brötchen. Dir wird dein Hochmut vergehen! Sein Mund verzog sich zu einem hämischen Grinsen. Spätestens dann, wenn Diego dich zähmt.

      Trotzdem fühlte er sich im Inneren sonderbar aufgewühlt. Das verdammte alte Haus mit all den Erinnerungen! Es war mittlerweile eine halbe Ewigkeit her, in der er sich geschworen hatte, jeden Einzelnen der familiären Sippe auszulöschen. Obwohl die nächtlichen Übergriffe des Vaters seit Kurts zwölften Lebensjahr ausgeblieben waren, ertrug er ihn nicht länger.

      Ständig meckerte der Alte, betitelte ihn mit den widerwärtigsten Schimpfwörtern, kommandierte ihn wie ein Oberfeldwebel herum, der er tatsächlich früher in Kriegszeiten war. Die Anweisungen des Vaters konnte er ohnehin nie zu dessen Zufriedenheit ausführen. Jeder Tag wuchs der Hass auf ihn ein Stückchen mehr. Im Kopf nahmen die Gedanken konkrete Formen an, wie er sich ihm entledigen könnte.

      Die Manipulation am Auto der Eltern war ein Leichtes gewesen. Er hatte das Bremsseil angeritzt, sodass es kontinuierlich an Flüssigkeit verlor. Die Alten waren mit dem Wagen über einen Abhang hinabgestürzt, dürften auf der Stelle tot gewesen sein. Dass sein Erzeuger einen rasanten Fahrstil besaß, wusste jeder im Ort. Die Nachforschungen konnten ein Selbstverschulden nicht ausschließen, so wurde es als tragischer Unfall abgehakt. Damals war Manfred zwölf Jahre alt und er knapp vierzehn gewesen. Sie blieben in der Obhut der Großeltern zurück.

      Eigentlich hätte Manfred im Unfallwagen sein sollen! Zu einem der seltenen Besuche in der Stadt, bei denen es Eis oder Kuchen gab. Solche Ausflüge standen ausschließlich dem Lieblingskind zu. Ob er die Manipulation am Auto mitangesehen hat? Offensichtlich, sonst hätte er unmöglich davon wissen können! Warum warnte er damals die Eltern nicht? Hat Manfred mich geschützt? – Was für ein absurder Gedanke! Kurts Mund fühlte sich sonderbar trocken an. Keine Schwäche zeigen!, mahnte er sich stumm.

      Der Großvater kam wenige Wochen nach dem Unglück in eine Pflegeeinrichtung. Der Tod des eigenen Sohnes und der Schwiegertochter führten bei ihm zu einem starken, psychotischen Schub. Eine Obsorge zu Hause konnte nicht mehr gewährleistet werden. Und Großmutter musste sich um uns, um zwei pubertierende Teenager, kümmern. Wie traumatisiert wir Brüder waren, das überspielte die alte Dame gekonnt. Doch sie ebenfalls aus dem Weg zu räumen, hätte uns jemand Außenstehenden als Vormund eingehandelt. Ein unkalkulierbares Risiko, das ich nicht bereit war, einzugehen.

      Kurt lugte zu Sandy. Das verdammte Elternhaus ist zerstört! Nun ist das zu Ende gebracht, was ich einst begonnen habe. Niemals mehr werde ich einen Fuß hineinsetzen müssen. Dorthin, wo selbst die Wände ihm mit Vaters Stimme zuflüsterten, dass er ein Niemand sei. Es musste weg, wie alles, was mich an die Vergangenheit erinnert! Er unterdrückte ein Ächzen. Kurt hatte erwartet, dass er erleichtert wäre, aber dieses Gefühl wollte sich nicht einstellen. Ob es am Mädchen liegt? Kurt schüttelte widerwillig den Kopf. Ich bin zwar genetisch gesehen dein Erzeuger, deshalb hasse ich dich nicht weniger als den Rest der Sippe! Du, ja du, wirst mich für all die Jahre entschädigen, die mir mein Vater geraubt hat!

      Sandra war verdammt zum Stillsein. Sie rührte sich kaum, streckte manchmal die steifen Glieder etwas aus. Bald würde die Dunkelheit hereinbrechen. Noch wehrte sich die Sonne mit ihrer Kraft. Sandy spähte hinaus. Der blutrote Horizont ließ die Ereignisse der letzten Stunden hochlodern. Die leblosen Augen ihrer Mutter, der seltsam verdrehte Kopf vom Vater, das viele Blut, Rauch, Flammen …

      Das Mädchen presste die Lippen aufeinander, um die zitternden Schluchzer nicht hervorzulassen. Sandy krallte ihre Finger tief in die Oberschenkel. Minute um Minute wurde das Licht schwächer, verblasste, ein letztes Aufflackern, ehe die Umgebung in ein dunkles Grau überging.

      Die Geräusche im Flugzeug hatten an Intensität verloren. Sandy konnte Kurts Atem hören. Ob alles abgebrannt ist? Werde ich auch für totgehalten, umgekommen im Feuer? Und Mario? Sucht einer von Kurts Komplizen nach ihm? Lebt er oder spielt mein Onkel mit mir, damit ich mich ruhig verhalte? Sie stieß einen gequälten Seufzer aus. Denk an etwas anderes. Sonst wirst du verrückt …

      Sandy schloss die Augen, spürte neuerlich ihre Kette auf der Haut. Vater unser im Himmel, formten ihre Gedanken das Gebet. In dieser Aussichtslosigkeit erkannte Sandy den wahren Grund, weshalb das Leben ihrer Eltern mit Religiosität ausgefüllt war, der sonntägliche Kirchenbesuch zur Pflicht gehörte. Sie suchten Hoffnung, Ruhe, Zuspruch, Kraft bei Gott sowie in der Gemeinschaft.

      … geheiligt werde dein Name …

      Das Gebet schenkte ihr ein kleines Stück Vertrautheit.

      Ottawa – Die Flucht

      Ein schwarzer SUV mit getönten Scheiben stand bereit. Der Chauffeur nahm das Gepäck ent­gegen und verstaute es im Kofferraum. Kurt dirigierte Sandra auf die Rückbank, setzte sich neben sie, um achtzugeben. Er hielt seine Pistole auf sie gerichtet, versteckt unter einer Zeitung.

      Sandy sah fasziniert und gleichermaßen eingeschüchtert zum Seitenfenster hinaus. Unzählige Fahrzeuge zwängten sich durch die Straßen. Als Mädchen vom Land fand sie eine Stadt wie Graz bedrohlich, das hier übertraf all ihre Vorstellungskraft. Irgendwo hatte sie ein Schild mit Ottawa gelesen. Ist das nicht die Hauptstadt Kanadas?

      Häuser standen dicht gedrängt, ragten in die Luft empor, sodass sie nicht einmal den First erkennen konnte. Hastig eilten hell- und dunkelhäutige Menschen dem Bürgersteig entlang. Die Unterhaltung zwischen Kurt und dem Chauffeur wurde auf Englisch geführt. Die schnelle Aussprache und den Akzent war sie nicht gewohnt, sodass sie es bald aufgab, dem Gespräch zu folgen. Im Hintergrund erklang Musik, die wirkte zumindest kaum fremd und entsprach jener, die sie meist zu Hause gehört hatte.

      Sandy schluckte. Der unbekannte Kontinent ängstigte sie weniger als Kurt. Ob er mich zu diesem Diego bringt? Die Orientierung hatte sie längst verloren. Der Geländewagen nahm scheinbar wahllos eine Abzweigung nach links oder rechts. Er fädelte sich durch den Verkehr mit einer Geschwindigkeit, die sie beängstigend fand. Sie krallte ihre Fingernägel in die Sitzbank. Plötzlich ging ein Ruck durch den gesamten Wagen, sie wurde hart in den Gurt gepresst. Während sie zu realisieren versuchte, was passiert war, erklang im Hintergrund ein heilloses Durcheinander von Huplauten. Sandy schaute bei der Scheibe hinaus. Sie standen mit dem Wagen inmitten der entgegenkommenden Fahrbahn.

      »Shit!«, fluchte der Fahrer in der Landessprache. »Mister Night, geht es Ihnen gut?«

      »Zur Hölle!«, erklang es neben ihr von Kurt.

      Mister Night, echote es in Sandras Gedanken. So nannte er sich selbst!

      »Wofür bezahle ich dich, wenn du es nicht einmal schaffst, mich auf dem schnellsten Weg aus dieser verfluchten Stadt hinauszubringen?« Kurt ächzte, wischte sich mit dem Handrücken über die blutende Stirn.

      »Der Idiot hat uns voll gerammt!«, rechtfertigte sich der Fahrzeuglenker entrüstet. Er vermied den Augenkontakt über den Innenspiegel.

      Die Waffe ist weg!, durchfuhr es Sandy. Aus einem Impuls heraus zog sie am Türgriff. Er ließ sich öffnen, und