Bridget Sabeth

Sandy - Entwurzelt zwischen den Kontinenten


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er den Chauffeur wütend, nahm die Verfolgung auf.

      Sandra lief blindlings über die Fahrbahn, zwängte sich zwischen den stehenden Autos hindurch. Der Unfall blockierte ein Weiterkommen auf beiden Fahrtrichtungen.

      »Haltet das Mädchen!«, rief Kurt.

      Sandy wurde von einer Hand erfasst. Sie schrie panisch auf, blickte in das Gesicht eines Schwarzafrikaners, der die Scheibe heruntergelassen hatte. Sie wollte sich losreißen, schaffte es nicht. Kurt kam immer näher. Instinktiv beugte sie sich hinunter, biss dem Kerl fest in den Unterarm. Überrascht ließ der sie los, stieß einen derben Fluch aus.

      Weiter, rasch! So schnell ihre Beine sie trugen, schlängelte Sandra sich zwischen den Passanten hindurch.

      »Sie darf nicht entkommen!«, hörte sie hinter sich Kurt rufen. Keiner der Fußgänger griff ein. Sie begutachteten bloß neugierig die dargebotene Szene.

      »Sorry!«, stieß Sandy frustriert aus, als sie jemanden anrempelte. Kurt war ihr nach wie vor auf den Fersen, obwohl sich zwischen ihnen etwas Distanz aufgebaut hatte. Sandra atmete schwer, griff sich an die Flanke, in der es schmerzhaft stach. Bald würde sie keinen Schritt mehr laufen können. Er darf mich nicht erwischen! Lieber sterbe ich, als aufzugeben! Sie mobilisierte die letzten Reserven. Es muss hier ein Versteck geben. Sie bog um die Ecke.

      »Nein! Eine Sackgasse!« Verzweifelt blickte Sandra auf die steinerne Wand, die einige Meter von ihr entfernt emporragte. Es war zu spät, um kehrtzumachen. Jeden Moment konnte Kurt auf­tauchen. Hilfesuchend sah sie sich um. Sie sprintete zu der einzigen Innentür, neben der sich ein kleines Fenster befand. Entschlossen drückte Sandra die Klinke hinunter. Verschlossen!

      »Verdammt!« Sie trat frustriert dagegen, rüttelte daran in einem Anflug grenzenloser Verzweiflung. Die Tür bewegte sich keinen Millimeter! Der zweite Hieb fiel bedeutend sanfter aus, zeugte von ihrer Resignation. Hoffnungslos lehnte sich Sandra mit dem Rücken gegen das Türblatt. Sie fühlte die Kühle des Metalls, wusste bereits jetzt, dass das kein Versteck war und er sie in wenigen Sekunden wegziehen würde. Der keuchende Atem von Kurt drang hörbar zu ihr, ehe sie ihn überhaupt sehen konnte. Sie presste sich tiefer in die Nische hinein.

      Plötzlich schwang die Tür auf. Sandra stolperte rücklings. Jemand stützte sie von hinten, zog sie ins Innere des Gebäudes. Ihr Mund wurde von einer Hand umschlossen. Sandys Herz raste vor Panik und Anstrengung. Sie war kurz davor aufzuschreien.

      »Psst!«, erklang es bestimmt. Ihr Gegenüber ließ von Sandra ab, verriegelte rasch die Eingangstür.

      Langsam wurde Sandy ruhiger. Meint diese Person es gut mit mir? Ihre Augen gewöhnten sich an die Düsternis im Vorraum. Sie erkannte eine ältere Frau. Das Gesicht zeigte tiefe Falten und das graue Haar war zu einem dünnen Zopf gebunden.

      Als jemand an der Türklinke riss, zuckte Sandra erschrocken zusammen. Sie presste ihre Faust in den Mund, um keinen verräterischen Laut zu entlassen.

      »Verflixt! Sie kann sich nicht in Luft aufgelöst haben!« Kurt trat forsch gegen die Metalltür. »Ich hab ihre Stimme gehört.«

      Bald darauf vernahm das Mädchen weitere Geräusche, offensichtlich warf draußen Kurt die Mülltonnen zur Seite. Die alte Frau und Sandra blieben stumm. Noch einmal rüttelte er an der Tür. Sandy verschanzte sich zitternd unter dem Stiegenaufgang, der eine Lücke bot.

      Die Alte öffnete das schmutzige Fenster einen Spalt, es drang kaum Helligkeit ins Gebäudeinnere. »Ruhe, sonst hole ich die Cops!«, rief sie hinaus. Sandy hörte, wie Kurt unverständlich brummte, er wohl gezwungenermaßen kehrtmachte.

      »Er ist weg«, sprach die Frau, nachdem sie sich mit einem Blick versichert hatte. Sie reichte Sandra ihre Hand. »Bei einer Tasse heißer Schokolade wirst du den Schrecken rasch vergessen.«

      Grollend blickte Kurt die Gasse entlang. Wie konnte das passieren? Nun habe ich weder die Formel noch Sandy. Was soll ich Diego erzählen? Jetzt muss ich ein anderes Mädchen besorgen, um ihn nicht zu vergraulen. »Dieses verfluchte Biest!« Wütend schlug er mit der flachen Hand gegen eine Mauer. Die Verletzung auf der Stirn schmerzte, und mit all dem Blut im Gesicht wirkte er bestimmt nicht besonders vertrauensvoll. Notdürftig drückte er ein Tuch auf die Wunde. Ich muss mich schleunigst vom Acker machen! Die Cops kann ich nicht gebrauchen, auch wenn ich Beziehungen bis in die obersten Reihen habe. Dann trommle ich meine Männer zusammen. Die sollen die Gegend nach dem Gör absuchen. Sie müssen dieses verdammte Miststück finden! Es kommt gar nicht in Frage, dass Sandy in der Gosse stirbt und mich um meine Rache betrügt! Rasch eilte er zum Chauffeur zurück.

      »Danke«, wisperte Sandy. Sie hatte die heiße Schokolade ausgetrunken. Die wärmende Süße schaffte es tatsächlich, sie etwas zu beruhigen. Ihre Retterin hielt eine graue Katze auf dem Schoß, die hörbar schnurrte und die Streicheleinheiten genoss.

      »Glaub mir, du bist nicht das erste Mädchen, das ich vor einem Drecksack rette«, sprach die alte Frau. »Ich hoffe ja, dass dieser Halunke nicht dein Vater ist.«

      Sandys Herz setzte einen Augenblick aus. Sie schüttelte schließlich den Kopf. Manfred ist mein Vater, nicht Kurt, nie und nimmer!

      »Dann solltest du rasch nach Hause gehen, damit sich deine Mutter keine Sorgen macht.«

      Mit Mühe schaffte Sandra es, ihre Tränen zu unterdrücken.

      »Wie heißt du eigentlich?«

      »Sandy«, erwiderte sie leise.

      »Du bist nicht aus dieser Gegend? Oder?«

      »Ich komme aus Österreich.«

      Die Alte lachte auf. »Kindchen, du weißt vermutlich nicht einmal, wo das liegt.«

      Abrupt erhob sich Sandra, sodass sogar die Katze einen Schrecken bekam und fluchtartig ihren Kuschelplatz verließ. Das Lachen verletzte sie. Kein Mensch wird mir glauben! Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte sie sich um und rannte aus der Wohnung.

      »Warte!«, rief die alte Frau hinter ihr her.

      Sandy reagierte nicht. Sie hastete die Stufen hinab, verließ das Gebäude und tauchte im Getümmel der Leute unter.

       Ottawa, August 2018

      »Sie hat mir nicht geglaubt, nicht geglaubt«, sprach Sandy verdattert.

      Tim kannte ihre Geschichte gut genug, um zu wissen, dass es um ihre damalige Flucht aus dem Wohnhaus ging. Nur knapp war sie Kurt entkommen. »Du hast die Frau überrumpelt. Woher hätte sie wissen sollen, dass du nicht bloß über reichlich Fantasie verfügst, sondern tatsächlich Österreicherin bist?«

      Aufgewühlt suchte Sandra seinen Blick. »Womöglich hätte sie mich zur Polizei gebracht. Mittlerweile wissen wir, wie mächtig Kurt ist und selbst dort Beziehungen hat. Somit war meine Flucht die richtige Option, obwohl es sich damals so angefühlt hat, als hätte mich die gesamte Welt verstoßen. Der Schmerz trieb mich vorwärts.«

      Tim fasste nach ihren Händen, führte Sandy vom Fenster zurück auf das Sofa, wo er sie auf seinen Schoß zog. »Du hast eine neue Familie gefunden, vergiss das nicht.«

      Zaghaft lächelte sie. »Das stimmt. Und dich … Aber meine Abstammung bleibt nicht unvergessen. Die Frage … nach …«

      »… deinem Bruder ist nie verstummt«, nahm er ihren Satz auf. Er bemerkte, wie Sandys Augen schmerzhaft flackerten.

      Lebt mein Bruder noch, oder hat Kurt ihn töten lassen? Seit Jahren quälte Sandra diese Frage, die sie nicht beantworten konnte. Zudem haderte sie damit, dass sie Reißaus genommen hatte. Kurt hat doch gedroht, dass er meinem Bruder etwas antut, wenn ich fliehen sollte … Verzeih mir, Mario, ich ertrug seine Nähe nicht! Jedes Mal, wenn ich ihn ansehen musste, schrie alles in mir: Mörder!

      Sandys Kopf sank auf Tims Schulter. Während er sanft über den Rücken strich, drehte sich ihr Gedankenkarussell weiter, zurück in die Straßen und Gassen von Ottawa.

       Ottawa, Mai 2013