Nadja Christin

Samuel, der Tod


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… Bitte. Ich will noch nicht sterben … Ich bin verheiratet, habe zwei süße kleine Kinder … die … die brauchen mich doch … BITTE …«

      In seiner Verzweiflung fängt der dicke Monsieur zu weinen an. Er heult so sehr, dass ihm ein wahrer Wasserfall die Wangen hinunter rinnt.

      »Bitte … nicht …«

      Er schluchzt und zieht die Nase hoch.

      »Ich soll dich verschonen, weil du … kleine Kinder hast?«, ertönt es spöttisch aus der Kapuze heraus.

      Hektisch nickt Maurice mit dem Kopf, Tränen und Rotz fliegen um ihn herum.

      »Ja, ja. Genau … bitte … ich bin noch zu jung zum sterben. Meine Mädchen sind erst zehn Jahre, sie brauchen mich doch noch.«

      Hart stellt der Tod den Menschen auf den Gehweg zurück. Beinahe wäre Maurice hingefallen, da seine Beine einfach nachgeben wollten, mit letzter Kraft hält er sich aufrecht.

      »Zehn Jahre«, sagt der Tod düster und beugt sich näher zu Maurice. »Zehn lausige Jahre gebe ich dir. Mach das Beste daraus. Sonst …«

      Monsieur DuMont faltet die Hände, als wollte er beten, in seinem Kopf erklingt nur der eine Satz: zehn Jahre. Er hat einen Aufschub bekommen. Innerlich jubelt er bereits.

      Da zieht der Fremde seine Kapuze zurück. Was zum Vorschein kommt, lässt Maurices Herz beinahe stillstehen. Den Mund zu einem stummen ›O‹ geformt, starrt er sein Gegenüber an.

      Der blanke Knochenschädel glänzt hell im trüben Morgenlicht. Aus den Augenhöhlen starren unerbittlich zwei glühenden Kohlestücke auf ihn herab. Als der Totenschädel spricht, hat Maurice das Gefühl, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Der knochige Kiefer bewegt sich nur ein wenig, im Inneren ist keine Zunge zu sehen. Also, überlegt Maurice flüchtig, womit spricht dieser Kerl denn eigentlich.

      »Ich hole dich vor deiner endgültigen Stunde, wenn ich sehe, dass du deine Zeit nicht sinnvoll nutzt.«

      »Ja … ja … ja«, erneut wackelt DuMont hektisch mit dem Kopf, als wollte er ihn sich selbst von den Schultern schleudern.

      Ohne ein weiteres Wort dreht der Tod sich um und geht den Weg, den Maurice gekommen ist.

      Monsieur DuMont lässt langsam die Atemluft entweichen, er ist sich nicht sicher, ob er das gerade alles nur geträumt hat, oder ist er wirklich soeben dem Tod von der Schippe gesprungen. Er sieht an sich herab, alles wirkt normal. Nur an seinem Handgelenk ist die Haut ein wenig rot. Probehalber bewegt Maurice das Gelenk, so als wollte er jemandem winken, alles gut, scheint nichts gebrochen oder verstaucht zu sein, nichts, was ihn heute von der Arbeit abhalten könnte.

      Schon strafft er die Schultern, hebt den Fuß an, um sich endlich in Richtung Arbeit aufzumachen.

      Vor sich sieht er, durch den leichten Dunst hindurch, den Rücken einer bekannten Gestalt. Sein Arbeitskollege, Henri Sabatier. Vielleicht nicht gerade sein Lieblingskollege, aber jetzt wäre ihm sogar seine Schwiegermutter recht – Hauptsache ein Mensch.

      Maurice hebt einen Arm, vollendet seinen letzten Schritt und öffnet bereits den Mund, um Henri lautstark zu begrüßen.

      Da schießt etwas von links auf ihn zu, stößt ihn weiter hinter die Büsche. So unerbittlich und schnell, dass Maurice es noch nicht einmal richtig mitbekommt. Er ist nicht mehr in der Lage einen Schrei hinaus zubrüllen.

      Bei dem Zusammenstoß bricht mit einem leisen Knacken sein Genick. Das erleichterte Lächeln, über Henris Auftauchen, noch auf den Lippen, die Luft noch in seinen Lungen, stirbt Monsieur Maurice DuMont einen raschen Tod. Ohne zu erfahren, wer oder was ihn tötete.

      Henri Sabatier dreht sich flüchtig um, runzelt die Stirn. Ihm ist so, als habe er irgendetwas gehört.

      Aber hinter ihm ist nur die leere und dunstige Straße. So zuckt er mit den Schultern, schimpft sich selbst einen ängstlichen Idioten und schwört sich, zum wiederholten Mal, ab morgen mit dem Trinken aufzuhören.

      *

      Das Ding unterdessen, zieht und zerrt den toten Maurice tiefer in die dicht bewachsene Vegetation hinein. Langsam und genussvoll beginnt es den Menschen aufzufressen.

      Niemandem, der an diesem trüben Novembermorgen den gleichen Weg wie der arme Monsieur DuMont nimmt, fallen die seltsamen Geräusche auf, die das fellüberzogene Monster verursacht, als es Maurices Kopf wie eine Walnuss knackt.

      Erst als helles Blut über den Gehsteig rinnt und sich mit der Nässe vereint, lässt das Tier von seiner Beute ab.

      Satt und zufrieden legt es den massigen Kopf in den Nacken und lässt ein schauriges Heulen erklingen. Dann verschwindet es im dunstigen Frühnebel, so als hätte es nie existiert.

      DuMonts Blut fließt über den Weg, in den Rinnstein und von dort in einen Abwasserkanal.

      Die Dunkelheit legt sich bereits wie eine undurchdringliche Decke über das Land, als sich ein Paar Scheinwerfer durch die engen Straßen der kleinen Gemeinde schneiden.

      Cisai-Saint-Aubin bietet einem Reisenden nicht viel, weder im Sommer, noch jetzt, im kalten und tristen November. Das kleine Dorf hat eine überschaubare Anzahl von Einwohnern, ein Geschäft und eine Schankstube, eine Handvoll Sehenswürdigkeiten und das war es bereits. Nichts, das einen Touristen lange aufhält. Saint Aubin liegt abseits der Bundesstraßen, auf halber Strecke von Paris nach Caen, nur für jene zu finden, die es auch finden wollen.

      Zielsicher biegt der Fahrer von der Le Bourg in eine kleine Seitenstraße ein, parkt nahe der Mauer und stellt den Motor ab.

      Einen Moment verharrt er im Wagen, legt die Hände auf das Lenkrad und starrt durch die Frontscheibe.

      Wie schnell doch ein Jahr vergeht, denkt er und verzieht den Mund zu einem flüchtigen Lächeln.

      Ein Blick auf seine Armbanduhr verrät ihm, dass es bis 20.00 Uhr noch drei Minuten sind. Er wird pünktlich sein, wie die vergangenen vierzig Jahre auch.

      Jedes Jahr im November wiederholt sich die Szene. Er bleibt die letzten drei Minuten wartend in seinem Wagen sitzen, begutachtet seine Finger, prüft, ob die Krawatte richtig gebunden ist und das kein Fleck die Hose verunstaltet. Beinahe so, als besuche er seine Mutter, die ihm mit einem angefeuchteten Taschentuch einen unsichtbaren Fleck aus dem Mundwinkel wischt. Dabei trifft er nur einen Freund, wenn auch einen langjährigen und sehr guten Freund.

      Ein rascher Seitenblick auf die Uhr, noch eine Minute.

      Er begutachtet sich selbst im Rückspiegel, streicht sich über die kurzen dunklen Haare und holt eine Sonnenbrille aus der Halterung.

      Trotz der Dunkelheit, die draußen herrscht, muss er seine Augen verbergen. Zu schrecklich wäre die Reaktion der Menschen, wenn sie einen Blick auf diese feurigen, roten Augen werfen könnten. Auch dass es bereits schon spät ist, schützt ihn keineswegs, die Vergangenheit hat ihm gezeigt, dass man sich auf vieles verlassen kann, nur nicht auf das Verhalten eines fleischigen Lebewesens.

      Entschlossen steigt er aus, schließt leise die wuchtige Autotür und drückt den Schlüssel. Ein kurzes Piepen, die Lichter blinken für eine Sekunde, dann ist alles wieder still.

      »Auf ein Neues«, murmelt er vor sich hin.

      Er geht die kurze Treppe hoch, an der Zypressengruppe vorbei und biegt rechts ab. Wie immer steht er viel zu schnell vor dem großen Gotteshaus. Die schwere Doppeltür ragt vor ihm in die Höhe, er streckt die Hand aus, legt sie auf die eiserne Klinke. Ein letztes Mal atmet er tief durch, dann betritt er die kleine Kirche von Saint Aubin.

      *

      Pfarrer Francesco sieht verstohlen auf seine Armbanduhr. Gleich ist es bereits acht Uhr, überlegt er, ich muss mich sputen, er wird wie immer pünktlich sein. Der Pfarrer streicht sich über den Kopf und die spärlichen Haare, die ihm noch geblieben sind. Man darf mit Gott nicht zürnen, wenn man mit großen Schritten auf die siebzig zugeht, selbst der Heilige Vater kann einem in dem Alter keine volle