Nadja Christin

Samuel, der Tod


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weg und zieht sie anschließend glatt.

      Auch wenn Francesco nahe der siebzig ist, so wirkt er doch, als sei er höchstens fünfzig, mit einem sportlichen Körperbau, geschmeidigen Bewegungen und einer sanften Stimme, die jeden in seinen Bann zieht.

      Francesco wirft einen Blick durch seine kleine Kirche, obwohl sie eigentlich bereits geschlossen ist, so halten sich hier doch noch drei Gläubige auf.

      Eine ältere, vertrocknete Dame, die bei den Trauerkerzen betet, ein junger Mann, der in den Bankreihen scheinbar etwas verloren geglaubtes am Boden sucht, und eine Hausfrau, die die Statue der Jungfrau Maria anbetet.

      Der Pfarrer hofft inständig, dass die drei bald diese Kirche verlassen werden, denn er erwartet heute hohen Besuch. Sein Gast kommt jedes Jahr zur gleichen Zeit und nur zu einem Zweck: um zu beichten.

      Seit nun schon vierzig Jahren nimmt Pfarrer Francesco seinem alten Freund die Beichte ab. Jedes Jahr ist er aufs Neue entsetzt von den Dingen, die er ihm berichtet und doch werden dem Büßer jedes Mal die schrecklichsten Sünden vergeben.

      Der Geistliche blickt auf seine Uhr, Punkt acht Uhr.

      Mit einem heiseren Quietschen schwingt die Doppeltüre auf, kalte Novemberluft strömt in die Kirche, lässt die drei Gläubigen erschauern. Als packe sie etwas im Genick, drehen sie ihre Köpfe gleichzeitig in Richtung Tür, wer mag zu so später Stunde noch die Kirche heimsuchen?

      Auch Francesco sieht seinem späten Besucher entgegen, sein Mund verzieht sich zu einem Lächeln. Er hat sich wahrlich kein bisschen verändert, denkt der Pfarrer, er sieht noch genauso aus, wie vor vierzig Jahren:

      Die schlanke Gestalt, das schmale Gesicht, braune Haare, alles noch wie damals, er ist kein bisschen gealtert. Nur die Sonnenbrille, stellt Francesco schmunzelnd fest, ist diesmal eine andere. Er passt sie der jeweiligen Mode an und die besagt in diesem Jahr, dass sie schmal und länglich zu sein hat.

      Selbst an seiner Kleidung hat der späte Besucher nichts verändert. Der lange Wollmantel verbirgt die schmale Gestalt, darunter, kaum noch sichtbar, ein maßgeschneiderter, grauer Anzug, mit unauffälliger Krawatte und schwarzen Schuhen.

      Kaum hat die alte Dame, nahe den Trauerkerzen, einen Blick auf den späten Gläubigen geworfen, schlägt sie ein Kreuzzeichen, erhebt sich und verlässt eiligst die Kirche, dabei versucht sie möglichst zu verhindern, dass sich ihr Weg und der des Neuankömmlings kreuzen.

      Ebenso die dicke Hausfrau, die beim Blick auf den Fremden ein leises Keuchen erklingen lässt, schlägt das Kreuz vor der Jungfrau und strebt eiligst dem Ausgang zu.

      Nur der junge Mann, in den Bänken, scheint immer noch etwas Wichtiges am Boden zu suchen.

      Erleichtet, da sein Gotteshaus nun fast leer ist, geht Francesco auf seinen Besucher zu, streckt die Hände aus, um ihn zu begrüßen.

      »Mein Sohn«, sagt er und ergreift die kalten Hände seines Gegenübers.

      »Sei mir gegrüßt. Es ist lange her, seit du das letzte Mal den Weg zu mir fandest.«

      »Francesco«, es klingt so, als könnte seine Stimme Glas zerschneiden. »Es freut mich, dich wohlbehalten anzutreffen.«

      Jetzt endlich scheint auch der junge Mann in den Sitzreihen aufmerksam geworden zu sein. Erst zieht er den Kopf zwischen die Schultern, als wehe erneut ein eisiger Wind durch die Kirche, dann dreht er sich mit einem entsetzten Gesichtsausdruck um. Seine Augen zucken zwischen dem Pfarrer und dem Fremden hin und her. Der leibhaftige Teufel ist in diese Kirche eingedrungen, stellt der Mann voller Panik fest. Wieso unternimmt Pfarrer Francesco nichts dagegen?

      Rasch erhebt er sich, strauchelt und fällt beinahe zwischen die Bänke.

      »P-Pfarrer«, stottert er und kann sich nur mit Mühe auf den Beinen halten.

      »Pfarrer, seid auf der Hut. Er … er ist der Leibhaftige.« Der junge Mann stolpert aus den Bankreihen, fällt auf den Mittelgang. Auf allen Vieren bewegt er sich rückwärts von Francesco und seinem Gast weg. Immer wieder zeigt er auf den Fremden und stottert:

      »Er ist es … der Leibhaftige … der Tod … er wird uns alle holen.«

      »Was redest du denn heute für wirres Zeug, Anton?«, sagt Francesco mit milder Stimme, »das ist ein guter Freund von mir.«

      Mit einem Ruck hilft er dem jungen Mann auf die Beine.

      »Es ist besser, du gehst nun nach Hause, Anton. Deine Mutter wird bereits auf dich warten und sich sorgen.«

      Anton nickt wie ein Besessener, seine Augen immer noch zwischen dem Pfarrer und dem Fremden hin und her werfend.

      »Ja, ja … nach Hause … nur weg hier.«

      Er reißt sich von Pfarrer Francesco los und rennt stolpernd und strauchelnd zum Ausgang.

      Mit einem lauten Knall, der in der gesamten Kirche wiederhallt, schließt sich hinter ihm die große Flügeltür.

      Der Besucher hebt fragend eine Augenbraue.

      »Das war Anton«, meint der Pfarrer, auf die ungestellte Frage hin. »Er ist ein bisschen … nun ja, anders, drücken wir es mal so aus. Geistig nicht ganz auf der Höhe, aber sonst ein gütiges Mitglied dieser Gemeinde, immer hilfsbereit und …«

      Der Fremde hebt eine Hand, was den Redefluss des Pfarrers sofort stoppt.

      »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Francesco. Ich bin es, der dich um Verzeihung bitten sollte. Immerhin räume ich deine Kirche, alleine mit meinem Auftauchen.«

      Gnädig winkt der Pfarrer ab. »Sie werden alle wiederkommen, so wie es auch die Lämmer zur Schlachtbank zieht. Sie sind nichtsahnend und … und dumm. Sorge dich nicht um mich und meine Kirche, mein Sohn.«

      »Ich sorge mich nicht, Francesco. Höchstens, dass es zu spät für meine Beichte wird.« Damit streckt er seine schlanken Finger aus und zeigt auf den reichverzierten Beichtstuhl, der an der linken Seite unschuldig auf seine Büßer wartet.

      »Pater Francesco, nehmt mir die Beichte ab, auf dass mir die Sünden der Vergangenheit vergeben werden.«

      Der Pfarrer schmunzelt erneut.

      »Mein Sohn«, meint er. »Dazu bist du doch hier.«

      Gemeinsam begeben sie sich zu dem großen Beichtstuhl, der wie ein riesiger Schrank wirkt, das Eichenholz auf Hochglanz poliert, die reichen Verzierungen glänzen matt im spärlichen Licht der Kirche. Der Pfarrer nimmt auf der linken Seite Platz, schließt die Türe und schiebt das Gitter zur Seite. Sein Besuch muss sich auf seiner Seite auf die Knie begeben. Vor dem vergitterten Trennfenster faltet er die Hände, schließt die Augen und atmet einmal tief durch.

      »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Meine letzte Beichte ist genau ein Jahr her, Francesco. Auch heute möchte ich den Heiligen Vater erneut um Vergebung meiner Sünden bitten.«

      »Dies sei dir gewährt, Samuel«, murmelt der Pfarrer. »Doch bitte ich dich zuvor, dass du in diesem Heiligen Stuhl deine Brille abnimmst. Ich möchte dir gerne in die Augen blicken, während du bereust.«

      »Francesco, du weißt genau …«

      »Bitte«, unterbricht der Pfarrer ihn. »Sei nicht albern. Jedes Jahr das Gleiche? Das ist doch nicht dein ernst.«

      Nur zögernd nimmt Samuel seine Sonnenbrille ab, verstaut sie in der Manteltasche. Den Blick gesenkt, auf seine gefalteten Hände, beginnt er seine Beichte:

      »Ich bereue, dass ich Böses getan und Gutes unterlassen habe. Erbarme dich meiner, Herr.«

      Francesco seufzt leise.

      »Wie oft im letzten Jahr hast du gesündigt, mein Sohn?«

      »Einhundert zwanzig Mal«, antwortet Samuel.

      »Oh«, meint der Pfarrer erstaunt. »Das ist viel weniger als sonst.«

      Samuel hebt langsam den Kopf, sieht durch das vergitterte Fenster direkt in Francescos