Nadja Christin

Samuel, der Tod


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Totgeweihten zu verschonen.

      Tief in seinem Sessel vergraben, das spärliche Haar wirr um seinen Schädel, und ein Glas mit köstlicher, bernsteinfarbener Flüssigkeit gefüllt, wirft er den Kopf in den Nacken und lacht laut und herzhaft.

      Kapitel Zwei

      Nachdem das Tier seine Mahlzeit beendet hat, schlägt es sich tiefer in die Büsche. Dort hat es seine Anziehsachen versteckt. Es versucht sich zu konzentrieren, aber es will nicht recht gelingen. Sein Magen ist voll und der Geist viel zu überladen mit Eindrücken und Empfindungen, sodass es ihm schwerfällt, sich in seine menschliche Gestalt zurück zu verwandeln.

      Nach einigen Anstrengungen gelingt es dem Tier dann doch. Sein gesamter Körper verändert sich. Wird kürzer. Die Schultern wandern an ihre ursprüngliche Stelle, die krallenbewehrten Pranken, mit denen es eben noch Maurices kalten Körper festhielt, verschwinden und formen sich zu ganz normalen Händen. Das riesige Maul, mit den messerscharfen Zähnen, scheint zu schrumpfen und verformt sich zu einem normalen Kopf. Zuletzt verschwindet das braune, zerrupfte Fell und zum Vorschein kommt die helle und reine Haut eines Mädchens.

      Rasch schlüpft sie in ihre bereitliegenden Sachen, bindet sich die langen Haare zu einem Pferdeschwanz und geht leise pfeifend durch das Gebüsch in Richtung Straße.

      Kurz vor dem Haus der DuMonts tritt sie aus dem Buschwerk und schlendert wie ein ganz normaler Passant auf dem Gehweg entlang.

      Das Mädchen sieht so völlig normal und uninteressant aus, dass weder Madame DuMont, noch der Postbote, der gerade heftig mit Madame flirtet, sie beachten.

      Du wirst gleich eine schreckliche Nachricht erhalten, denkt das Mädchen gehässig.

      Denn ihrem aufmerksamen Gehör, ist nicht der leise Schrei entgangen, der die Auffindung von DuMonts angefressenem Leichnam begleitete. Gleich ist es aus, mit dem Flirten.

      Schon sind die hektischen Schritte auf dem Asphalt zu hören, die Madame die grausige Nachricht überbringen werden. Aber bis Florence DuMont aufseufzend in die dargebotenen Arme des Postboten sinken darf, vergehen noch ein paar Minuten und bis dahin wird Alice bereits über alle Berge sein.

      Es ist zehn Uhr vormittags, als das Mädchen die Tür zu ihrem Laden aufdrückt. Die nostalgische Klingel über dem Eingang gibt ein heiseres Gebimmel vom sich.

      Ein junger Kerl, der gerade in einer großen Kiste mit Büchern wühlt, hebt den Kopf.

      »Na endlich, das wurde auch mal Zeit«, begrüßt er sie rüde und erhebt sich.

      Lässig geht er auf sie zu, drückt ihr einen Kuss auf die Wange.

      »Hey, lass das, Liam«, sagt Alice und drückt ihn an den Schultern zurück. »Ich mag das nicht, wie oft soll ich dir das noch sagen?«

      Der junge Mann feixt und meint:

      »Noch fünfhunderttausend Mal, Alice. Ich kann es nicht oft genug hören.«

      »Du bist ja völlig bescheuert«, murmelt sie und geht zu der Bücherkiste, die der Junge bei ihrem Eintreten so aufmerksam durchwühlte.

      »Klar«, erwidert Liam. »Würde ich sonst hier arbeiten? Hier muss man ja auch total durch geknallt sein.«

      Alice ignoriert seine Antwort und sieht stattdessen die einzelnen Buchtitel durch.

      »Ist was Interessantes dabei?«, fragt sie ihn und kniet sich vor die gigantische Holzkiste.

      »Nicht wirklich.«

      Liam geht hinter die lange Theke, die den kleinen Laden beinahe in zwei Hälften teilt. Er öffnet einen winzigen, unter dem Tresen verborgenen, Kühlschrank und nimmt sich nach einigem Herumwühlen einen der darin befindlichen Blutbeutel. Mit der Schere schneidet er eine Ecke des Kunststoffbeutels ab und gießt den Inhalt in ein großes Glas. Mit einem Plastiklöffel rührt er um und gibt das Ganze in eine Mikrowelle. Begierig starrt er auf den sich drehenden Teller, wartet geduldig die fünfzehn Sekunden ab, die das Blut braucht, um sich auf Körpertemperatur zu erwärmen. Das leise Pling ist kaum verklungen, als er bereits die Türe öffnet und das Getränk heraus nimmt. Sachte schwenkt er das Glas, die rote Flüssigkeit hinterlässt an den Rändern einen öligen Film.

      »Das ist doch das Beste auf der Welt«, flüstert Liam vor sich hin. Er setzt das Glas an seine Lippen und stürzt in einem gewaltigen Schluck das Blut hinunter. Lautstark stellt er den Trinkbecher auf die Theke zurück, wischt sich mit dem Handrücken über den Mund und schließt für einen Moment die Augen.

      Auch wenn es lediglich ein Erythrozyten-Konzentrat war, welches nur aus den roten Blutkörperchen des Spenders besteht, so weiß Liam doch sofort, dass es von einer Frau stammt, die allerhöchstens zwanzig Jahre alt ist, bereits ein Kind geboren hat und gelegentlich einen Joint raucht, aber sonst kaum einem Laster frönt. Er ahnt, dass sie blondes Haar hat und wahrscheinlich groß ist, ausgestattet mit langen Beinen. Zu gerne würde er ihr jetzt auf der Stelle begegnen, aber das ist leider nicht möglich, da die Konserven allesamt aus England stammen, auch ist das Blut schon ein paar Monate alt.

      Wenn der Zufall nicht gerade seine schmierigen Finger nach Liam ausstreckt, dann wird ihr und sein Weg sich niemals kreuzen. Und das ist auch gut so, der Blutsauger würde kurzen Prozess mit ihr machen und seine scharfen Zähne in die junge Frau schlagen, nur um ihr das gesamte Blut aus dem schönen Körper zu saugen.

      »Hey, Liam«, Alice reißt den Vampir aus seinen schönen Vorstellungen. »Wach wieder auf und steck das Zeug gefälligst weg.«

      Er reißt mit einem Ruck die Augen auf und blickt sich um.

      Tatsächlich, er steht immer noch in dem schäbigen Bücherladen, namens Alices Wunderland, in der Rue Denfert Rochereau, in Boulogne-Billancourt, einer kleinen Gemeinde, unweit von Paris.

      Vor ihm steht die schöne Alice, mit einem Stapel Bücher in der Hand und blickt ihn wütend an.

      »Stell dir vor, es kommt jemand rein. Wie zum Teufel soll ich das denn erklären?« Sie zeigt auf die Dinge, die verstreut auf der Theke, inmitten einiger Blutflecke liegen.

      »Ja, ja«, knurrt Liam. Er ärgert sich, dass sie ihn so abrupt aus seinen Tagträumen gerissen hat.

      »Ich mach das schon.«

      Er wischt die Flecken weg, spült die Schere unter fließendem Wasser ab, wirft den Beutel in den Müll und stellt das Glas in die Spülmaschine.

      Ein flüchtiger Rundumblick, er hebt die Arme an.

      »Bist du nun zufrieden?«

      »Nein!«, antwortet Alice. »Zufrieden bin ich erst, wenn ich wieder zurück in England wäre.«

      Nicht schon wieder das, denkt sich Liam und wendet sich demonstrativ den Büchern in ihrem Arm zu.

      »Hast du da was Interessantes gefunden?« Er greift blindlings nach einem der Wälzer, die Alice auf die, nun wieder saubere Theke, legt.

      Die Bücher sind allesamt gebraucht, aber noch in einem guten Zustand. Sie werden hier abgegeben, meist geschenkt, oder für einen solch lächerlich geringen Preis von Alice gekauft, dass Liam sich manchmal für diese fiese Geschäftspraktik schämt. Immerhin verkauft das Mädchen sie zu einem recht ordentlichen Preis wieder weiter. Ihre Gewinnspanne beträgt gut und gerne bis zu dreihundert Prozent. Das muss der Vampir dem Mädchen lassen, geschäftstüchtig ist sie. In Alices Wunderland gibt es schließlich nicht nur Bücher zu kaufen, sie bestreitet ihren Lebensunterhalt mit allerlei Kuriositäten: Kleinkram, besonders zu Halloween, Geschenkartikel, vom Nippes bis zur Schwarzwälder Kuckucksuhr, esoterisches Zeug, vor allem Heilsteine und Tarot. Auch alte Waffen, Heilkräuter und eben auch jede Menge antike Bücher, finden in dem kleinen Laden ihren Platz.

      Liam kennt die kleine Alice bereits seit über zwanzig Jahren, da war ihr Geschäft noch nicht so vollgestopft, sie hielt sich beinahe ausschließlich an den Verkauf von Büchern. Er war damals auf der Suche nach einem ganz speziellen Wälzer und suchte es ausgerechnet