Nadja Christin

Samuel, der Tod


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Kraft durch seine Eingeweide, auf der Suche nach seinem Herzen, um es unbarmherzig zu zerquetschen.

      Francesco schnappt ein paar Mal nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er kann seine Augen einfach nicht aus Samuels Blick lösen, so gerne er das auch möchte. Ein lautes Keuchen entschlüpft ihm und er sinkt auf seinem harten Stuhl in sich zusammen.

      »Verzeih«, murmelt Samuel und sieht erneut auf die gefalteten Hände. »Ich vergesse immerzu, dass du nur ein Mensch bist.«

      »Schon gut«, Francesco räuspert sich verhalten. »Ich … ich habe selbst schuld.«

      Ein leichtes Lächeln überzieht das Gesicht seines Freundes. »Da gebe ich dir recht.«

      »Also, wo waren wir?«, der Pfarrer streicht sich über das spärliche Haar, versucht sich zu sammeln.

      »Du wolltest wissen, warum es im letzten Jahr so wenig Sündenfälle waren«, erinnert ihn Samuel.

      »Ach ja«, Francesco hat das merkwürdige Gefühl, völlig neben sich zu stehen. »Also? Wieso so wenige?«

      »Ich begann die größte Sünde, in dem ich gegen meinen eigenen Kodex verstieß«, antwortet Samuel leise. »Ich ließ sehr viele Anwärter einfach ziehen. Kinder, ganze Familien, junge Männer, auf die zu Hause eine kleine Kinderschar wartete … nun ja«, Samuel zuckt flüchtig mit den schmalen Schultern. »Eben solche Menschen.«

      »Du … du hast sie verschont?« Francesco ist völlig erstaunt.

      »Ja«, sagt sein Freund schlicht.

      »Verzeih mir die Frage, mein Sohn. Aber … wieso hast du das getan?«

      Ein weiteres Mal zuckt Samuel mit den Schultern.

      »Einen genauen Grund kann ich nicht angeben.

      Es …«, er seufzt kurz. »Ich habe mich einfach besser dabei gefühlt.«

      »Besser gefühlt?«, wiederholt Francesco leise den Satz. Dann schüttelt er ungläubig den Kopf.

      »Ich verstehe nicht«, sagt er nach einigen Sekunden. »Du lässt sie einfach … gehen? Meinst du das so?«

      »Ich gebe ihnen einen Aufschub«, antwortet Samuel. »Zehn Jahre. Sie sollen ihre zusätzliche Zeit weise nutzen.«

      Völlig fasziniert schüttelt der Geistliche erneut seinen fast kahlen Schädel.

      »Pater Francesco«, sagt sein Freund in seine angestrengten Überlegungen hinein. »Sprecht mich bitte von meinen Sünden los.«

      »Nennt mich nicht immer Pater, Samuel. Ich bin nur Pfarrer, aber das habe ich dir bereits hundertmal gesagt.«

      Ein leichtes Lächeln erscheint auf seinem Gesicht.

      »Weißt du noch, wie oft du einen der Anwärter laufen ließt?«

      Der Büßer hebt den Kopf, rasch blickt Francesco auf seine Hände, die gefaltet in seinem Schoß ruhen. Nicht noch einmal will er in diese roten Augen sehen, dieses Glühen, das anscheinend direkt aus der Hölle entsprungen zu sein scheint, diesmal wird es ihn umbringen.

      »Es hält sich ungefähr die Waage, mein Freund«, sagt Samuel.

      Also darum ist in diesem Jahr die Zahl so niedrig, denkt Francesco. Er erinnert sich an all die Jahre davor, da belief sich die Zahl von Samuels Opfer auf mindestens drei-oder vierhundert.

      Dem Pfarrer fällt noch etwas anderes auf, sein Freund ist noch wortkarger, als sonst. Samuel hat noch nie viel gesprochen, aber heute muss er ihm jeden Satz förmlich aus der Kehle zerren.

      »Samuel, was ist los mit dir? Bedrückt dich etwas? Sprich mit mir, du weißt, dass du mir alles anvertrauen kannst.«

      »Es ist … nichts. Ich bin nur müde«, erwidert er.

      Der Geistliche lässt ein heiseres Kichern vernehmen.

      »Müde? Du?«, er schlägt sich eine Hand vor den Mund, um einen Lachanfall dahinter zu ersticken. Es ist aber auch zu komisch, da sitzt der Tod persönlich in seinem Beichtstuhl und behauptet müde zu sein. Ein Dämon, der bereits seit Anbeginn der Zeit existiert. Rasch denkt Francesco an etwas anderes, er kennt seinen Freund, ausgelacht zu werden gehört nicht gerade zu den Dingen, die er gut ertragen kann.

      Der Pfarrer stellt sich Jesus vor, wie er in den Himmel auffährt und von Engelsposaunen dort begrüßt wird. Langsam lässt der Drang zu Lachen nach. Niemand ist darüber erfreuter, als er.

      »Verzeih«, flüstert Francesco und räuspert sich unauffällig.

      »Es freut mich, dass ich dich erheitern konnte, Pater«, meint Samuel und lächelt schief. »Aber können wir jetzt bitte fortfahren?«

      »Sicher«, verstohlen hüstelt der Geistliche in seine Faust.

      »Bereust du deine Sünden, mein Sohn?«

      »Natürlich«, antwortet der Tod. »Jede einzelne davon. Aus tiefstem Herzen.«

      »Gott, der barmherzige Vater, hat durch den Tod und die Auferstehung seines Sohnes die Welt mit sich versöhnt und den Heiligen Geist gesandt zur Vergebung der Sünden.

      Durch den Dienst der Kirche schenke er dir Verzeihung und Frieden. So spreche ich dich los von deinen Sünden im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Der Pfarrer vollzieht das Kreuzzeichen, ohne Samuel anzublicken. Er hat Angst, sich in den Höllenaugen zu verlieren und selbst in die ewige Verdammnis hinab gezogen zu werden.

      Mit rauer Stimme antwortet Samuel:

      »Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben.«

      Auch er bekreuzigt sich.

      »Danket dem Herrn, denn er ist gütig«, Francesco schiebt eine Kunstpause ein, aber der Tod nickt nur.

      »Der Herr hat dir deine Sünden vergeben. Geh hin in Frieden.«

      »Amen«, meint Samuel und erhebt sich rasch.

      »Bis zum nächsten Jahr, Francesco.« Samuel schließt die Beichtstuhltüre hinter sich und will so schnell es geht, diese Kirche verlassen. Er fühlt sich heute hier nicht wohl, hat ein merkwürdiges Gefühl, ganz so, als geschieht in absehbarer Zeit etwas Grausames, etwas Schlimmes und das genau vor seinen Augen.

      »Warte, mein Sohn.«

      Der Pfarrer beeilt sich aus dem Beichtstuhl heraus zu kommen, läuft hinter Samuel her und packt ihn am Arm. Er sieht, dass sich Muskeln und Fleisch unter seiner Hand befinden, dennoch hat er das seltsame Gefühl, als spürte er unter dem Mantel nur einen dürren Knochen. So als umgebe den Tod lediglich eine, für Menschen sichtbare Hülle, bestehend aus Haut, Muskeln und Fleisch.

      Irritiert zieht Francesco seine Hand zurück, sieht auf Samuels Arm und kann es kaum fassen was er gerade fühlte.

      »Was wolltest du noch, Pater?« Der Tod ignoriert Francescos verunsicherten Blick.

      »Ich … ich weiß es nicht mehr«, murmelt der Pfarrer. Er hat wirklich vergessen, warum er seinen alten Freund aufgehalten hat. Mit dem Griff an seinen Arm scheinen alle Erinnerungen, Wünsche und Hoffnungen, aus Francesco gewichen zu sein.

      »Wie gesagt«, sagt Samuel und wendet sich um. »Bis zum nächsten Jahr, Pater Francesco.«

      »Hm«, murmelt der Pfarrer vor sich hin und stiert weiter auf seine eigene Hand, fährt mit dem Daumen über die Finger.

      Er kann es immer noch nicht glauben, was gerade geschah.

      Erst, als sich mit einem lauten Geräusch die Kirchentüre schließt, erwacht der Geistliche aus seiner Starre.

      Mit einem leisen Aufschrei sieht er sich um, er ist völlig alleine.

      Ein Seufzer der Erleichterung erklingt aus seinem Mund. Er strafft seine Schultern und begibt sich in sein eigenes, heiliges Zimmer, um sich an einer guten Flasche Scotch zu vergreifen.

      Erst