H. G Götz

Caromera


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bekam sie an der Jacke zu fassen und zog sie hoch. Mit schnellem entschlossenem Griff nahm er das Mädchen auf. Es schien fast nichts zu wiegen. Jetzt, da ein wenig Licht von der Straße auf das Gesicht des Mädchens schien, konnte er sie genauer betrachten. Er hatte noch nie ein solch abgemagertes Gesicht gesehen. Die Haut des Mädchens schien durchscheinend zu sein. Blaue Adern zeichneten sich unter der blassen Haut ab. Das Haar wild zerzaust und verklebt hing ihr ins Gesicht. Der säuerliche Geruch, der von dem Kind ausging, ließ Bogwin unweigerlich die Luft anhalten.

      Kaum hatte er das Mädchen hochgehoben, fielen ihm die Augen zu und es begann am ganzen Körper zu zittern.

      Bogwin nannte sich selbst einen Narren, weil er mit dem Kind am Arm so unschlüssig dastand.

      Mit dem Mädchen auf dem Arm trat er schnell aus der

      Gasse, ging die kurze Distanz zur Eingangstür seines Hauses und stieß energisch mit seinem Fuß dagegen.

      Es dauerte ihm zu lange, bis die Tür geöffnet hatte.

      Wieder stieß er mit dem Fuß dagegen.

      Endlich wurde diese geöffnet.

      Seine Frau Rosalie stand in der Tür und sah, im ersten Moment erzürnt auf denjenigen der um diese Zeit einen solchen Lärm verursachte.

      Bevor sie laut zu protestieren begann, erkannte sie ihren Mann im Halbdunkel.

      „Was …“; sagte sie erstaunt.

      „Um Gottes Willen“, rief sie erschrocken aus, als sie das Mädchen sah.

      „Schnell komm herein!“

      Bogwin betrat das Haus, während seine Frau hinter ihm die Tür schloss.

      „Was ist denn mit dem Kind los“, fragte sie ihn erstaunt.

      „Und woher hast du sie?“

      Bogwin war in der Zwischenzeit in das Wohnzimmer vorausgegangen, wo er das Mädchen auf das Sofa legte. „Schnell, bring mir ein paar Decken, und etwas Warmes zu trinken“, forderte er seine Frau auf.

      Diese verschwand in der Küche, wo sie Milch in einen

      Topf füllte, um sie zu erwärmen. Dann lief sie in das Schlafzimmer, griff sich aus einer Truhe eine Decke und kam zurück in das Wohnzimmer, wo sie die Decke ihrem

      Mann reichte.

      „Willst du mir jetzt wohl sagen, wo du das Kind gefunden hast und was mit ihm los ist!“

      Bogwin schlug die Decke um das Kind, bettete den Kopf des Mädchens auf ein Kissen, dass das Ganze stumm und mit großen Augen über sich ergehen ließ. „Ich habe sie in der Gasse zum Keller gefunden“, antwortete er auf die Frage seiner Frau. „Ein Straßenköter hat sich gerade an sie herangemacht!“ „Herr im Himmel“, stieß sie erschrocken aus. Bogwin hüllte das Mädchen mit der Decke ein bis nur mehr der Kopf daraus hervorschaute.

      „Hast du an die Milch gedacht“, fragte er sie.

      „Herr …ja!“

      Schnell eilte sie zurück in die Küche. Gerade noch rechtzeitig bevor die Milch überzukochen begann. Mit der Milch, in der sie vorsorglich etwas Honig gerührt hatte, kam sie in das Wohnzimmer zurück.

      „Hier“, sagte sie und hielt ihm die Tasse hin.

      Bogwin nahm die Tasse in eine Hand, streichelte das Kind mit der anderen sanft über die Wange und sagte:

      „Hier kleines Mädchen. Du musst etwas Warmes trinken!“ Mit einem plötzlichen Ruck den Bogwin ihr nicht zugetraut hätte, setzte sie sich auf, dabei versuchend die Decke von ihrem Oberkörper zu streifen. „Langsam. Immer mit der Ruhe“, sagte Bogwin in beschwichtigendem Ton zu ihr.

      „Trink das in kleinen vorsichtigen Schlucken!“ Das Mädchen hatte beide Arme von unter der Decke hervorgestreckt und griff gierig nach der Tasse. Kaum, dass sie ihren Mund darangesetzt hatte, nahm sie einen großen Schluck und begann augenblicklich die Milch wieder auszuspucken.

      „Ich sagte doch, langsam“, ermahnte Bogwin sie. „Die gehört ganz allein dir. Niemand nimmt sie dir weg.“

      Das Mädchen sah mit großen erstaunten und plötzlich hellwachen Augen auf Bogwin. Langsam setzte sie wieder ihren Mund an die Tasse. Nahm kleine Schlucke. Wohlig schloss es die Augen.

      Sie trank so lange, wie es ihr Atem erlaubte. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Mundwinkel ab, achtete darauf, dass kein Tropfen verloren ging.

      Leben kehrte in ihre Augen zurück. Sie sah zuerst ihn, dann seine hinter ihm stehende Frau an. „Danke“, sagte sie.

      Bogwin strich ihr vorsichtig über die Wange.

      „Sag, wo sind denn deine Eltern?“

      Ein Nebel schien sich über die Augen des Mädchens zu legen, kaum dass sie die Frage gehört hatte.

      „Tot“, sagte sie. „Sie sind schon vor langer Zeit verhungert!“

      Er wollte es nicht. Doch die Worte des Mädchens ließen ihn erstarren. Erst als er die Hand seiner Frau auf seiner Schulter spürte, erwachte er wieder daraus.

      „Trink weiter deine Milch.“

      „Heute Nacht bleibst du auf jeden Fall hier. Ist das in

      Ordnung für dich?“

      Das Mädchen sah ihn mit zweifelndem Blick an. Sie schien nicht glauben zu können, was sie aus seinem Mund gehört hatte. Noch einmal nahm sie einen Schluck von der warmen Milch.

      Dann endlich nickte sie.

      Das Lächeln in ihren Augen würde Bogwin für lange Zeit im Gedächtnis bleiben.

      Rosalie hatte für das Kind, ein wenig Rindersuppe heiß gemacht, zu der sie das Kind überreden konnte. Mit Mühe war es ihr gelungen, das Kind aus einem Schlaf zu wecken, in das es gefallen war, kaum dass sie die Milch ausgetrunken hatte.

      Der Versuch, das Kind in die Badewanne zu bekommen gelang ihr jedoch nicht. Kaum hatte das Mädchen, das auf den Namen Edna hörte, die Suppe aufgegessen, fiel es auch schon wieder in das Kissen zurück, wo es augenblicklich eingeschlafen war.

      Rosalie gelang es, ihr die Jacke auszuziehen, um sie dann wieder in die wohlig warme Decke einzuwickeln. Es bestand kein Zweifel, dass Edna bis zum nächsten Morgen durchschlafen würde.

      Bogwin hatte sich in der Zwischenzeit in die Küche begeben, wo Rosalie ihn vor einer Tasse Tee sitzend vorfand. Er hatte sich eine seiner selten gewordenen Pfeifen angezündet und saß mit nachdenklichem Gesicht am Küchentisch.

      Rosalie sagte beim Betreten der Küche: „Was für ein Glück, dass du die Kleine gefunden hast. Mein Gott, sie ist ja vollkommen fertig. Ich hab noch nie ein so abgemagertes Kind gesehen!“

      Bogwin stieß den Rauch seiner Pfeife aus, hob seinen Kopf und sah seine Frau an. Sein Gesicht zeigte tiefe Furchen.

      Ohne auf die Worte seiner Frau einzugehen, sagte er: „Ich hätte niemals gedacht …, es auch nur für möglich gehalten, dass es in Prudencia einmal so etwas geben würde. Ein Kind, das auf der Straße leben muss. Halb verhungert!“ Er schüttelte den Kopf. „Ich frage mich, wie sie es geschafft hat so lange, ohne Eltern zu überleben.“

      Rosalie sah Tränen in den Augen ihres Mannes.

      Wann hatte sie ihren Mann das letzte Mal weinen sehen?

      Sie konnte sich nicht daran erinnern.

      Mit langsamen leisen Schritten ging sie auf ihn zu, legte ihre Hände auf seine Schultern und küsste ihn auf die Stirn.

      Sie wusste nur zu gut, was in diesem Moment in ihm vorging.

      „Ja, es ist furchtbar“, erwiderte sie. „Wer hätte gedacht, dass es in unserem Land einmal so etwas geben könnte?“ Sie schüttelte verwundert den Kopf. Rosalie kniete sich neben ihren Mann hin, umfing ihn mit ihren Armen und legte ihren Kopf auf seine Beine. Bogwin