Hans-Jürgen Kampe

Vatter - es kostet nix


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Anton hielt in seiner rechten Hand den scheck­kartengroßen Führerschein.

      Klaus war vollkommen verblüfft. Im ersten Moment fehlten ihm die Worte. Und außerdem war er vollkommen aus dem Atem.

      „Das geschieht Dir aber recht, Vatter. Nach den an­strengenden Stunden mit Dir, wollte ich selber den Lappen schnellstens kriegen. Also hab‘ ich mit Lutscher und Emil die Theorie gelernt und mit Mama in ihrem Auto heimlich geübt. Und gestern hatte ich dann Prüfung.“

      „Junge“, Klaus war ganz gerührt, „ich bin ja richtig stolz auf Dich. Das hast Du ja toll hingekriegt. Und Ihr alle habt dichtgehalten. Superleistung. Obwohl - ich hätte eben fast kollabiert vor Schreck.“

      Klaus nahm seinen Ältesten in die Arme und klopfte ihm unbeholfen auf die Schulter.

      Obwohl es Anton unangenehm war, ließ er diese spontane Geste väterlicher Vertrautheit und Zuneigung doch über sich ergehen. Es sah ja keiner zu. Und außerdem war er ja selber stolz auf sich und wahnsinnig erleichtert.

      Der Druck war weg, und er konnte sich jetzt ganz auf die Vorbereitung für sein Abitur im Mai konzentrieren.

      Und Klaus rechnete schnell in Windeseile zusammen, dass der Führerschein vielleicht doch nicht ganz so teuer werden würde.

      Vielleicht hatte er Frau Grube ja doch etwas Unrecht getan.

      Auf jeden Fall durfte Anton seinen Vater jetzt zu Aldi fahren, wo Klaus in einem Akt selbstloser Großzügigkeit gleich zwei leicht angewelkte Sträuße Tulpen zum Preis von Einem für Andrea kaufte.

      Und die ganze Fahrt über korrigierte Klaus seinen Ältesten kein einziges Mal.

      4

      Emil, der sehr strukturiert arbeiten und lernen konnte, bekam heimlich von Andrea eine Zusage. Er würde ein innigst gewünschtes Snowboard bekommen, wenn er mit Anton für dessen Abi lernen und sein älterer Bruder die Prüfung auch gut bestehen würde.

      Und Anton verzog sich sogar jeden Abend ohne zu murren mit Emil und Lutscher, der sich der Lerngruppe ange­schlossen hatte, in Emils gemütliches Dachzimmer.

      Das letzte Schuljahr für Anton war auch deshalb ein besonderes Jahr, weil Emma in die fünfte Klasse auf dem­selben Gymnasium eingeschult worden war.

      Alle drei Thaler Kinder gingen jetzt auf eine Schule. Das „Thaler-Gymnasium“, wie die rundliche Direktorin lachend bemerkte.

      Was Anton etwas peinlich war, weil Emma regelmäßig in den großen Pausen mit ihren Freundinnen zu seiner Clique kam, um den Freundinnen ihren großen Bruder zu präsentieren. Unangenehm, vor allem, wenn Anton gerade eine der zahlreichen hübschen Abiturientinnen anbaggern wollte.

      Emil freute sich hingegen, wenn er seine kleine Schwester auf dem Schulhof traf oder wenn sie morgens mit der Straßenbahn zusammen in die Schule fahren konnten.

      Während die Jungs also in Emils aufgeräumten Zimmer lernten, was in Antons ungelüftetem, vermüllten Zimmer kaum möglich war, fuhr Andrea jeden Samstagmorgen mit Emma auf den Pferdehof. Misten, Pferde pflegen, Ausreiten und mit den anderen reitbegeisterten Müttern und Töchtern ein ausführliches Schwätzchen halten.

      Klaus hingegen verabredete sich jeden Samstagnachmittag, Sonntagvormittag und Dienstagabend mit drei Freunden, Willi, Uwe und Stephan zum Joggen.

      Das Ziel der drei Lauffreunde war der Kasseler Halb­marathon, der jedes Jahr im Herbst durch die meisten Bezirke ihrer Stadt führte.

      Und zum Training konnte er ideal Mila mitnehmen, die gerne lief. Das hatte zwei Vorteile.

      Zum einen lenkte Mila andere Hunde ab, sodass kein anderer Hund die drei Läufer verfolgte.

      Denn Klaus war vor Jahren mal von einem giftigen kleinen Terrier in die Wade gebissen worden, der eigentlich nur spielen wollte. So sein Herrchen, das Klaus noch Vorwürfe machte, weil er seinen Liebling unnötig erregt hätte. Auf die hilflosen Rufe des Herrchens: „Hiiiiieeerher, Hiiiiiiieeerher, Pfuiii, Pfuiii“, hatte der sonst angeblich so artige Rüde nur mit Ignoranz und einem gesteigerten Jagdtrieb reagiert.

      Klaus fluchte zum Steinerweichen und wünschte dem Köter daraufhin einen vollständigen Zahnverlust, einen kom­pletten Haarausfall, eine Staupe und einen Wurmbefall. Und dem Herrchen eine 3 Tages Diarrhoe.

      Und zum anderen konnte Mila nicht verstehen, was sich die vier Freunde während des Laufs so alles erzählten.

      Da Willi und Uwe über das Intranet in ihren Dienststellen im Rathaus ständig mit den neuesten Witzen versorgt wurden, motivierten sich die vier Freunde beim Laufen regelmäßig mit aktuellen „Herrenwitzen“, für die ihre Frauen wahrscheinlich sehr wenig Verständnis gehabt hätten. Auch den üblichen Willkommensgruß von Willi: „Hallo Mädels“ an seine drei Lauffreunde hätten die Frauen nicht unbedingt als witzig empfunden.

      Die vier Freunde hatten sich einen präzisen Trainingsplan für ihr ambitioniertes Ziel aufgestellt. Dazu zählte neben den vertraulichen, humorvollen Gesprächen beim Laufen auch eine wechselnde Streckenführung.

      Am Anfang kürzere, ebene Strecken, dann längere Läufe im Bergpark von Kassel und im Habichtswald mit teilweise erheblichen Steigungen. Und dann noch Intervalltraining auf dem Sportplatz.

      Und alle achteten auf eine spezielle Ernährung, um die Kohlehydratspeicher regelmäßig zu füllen.

      Klaus nahm leider durch sein Laufen und die fettarme Ernährung ziemlich ab, was Andrea allerdings gar nicht gefiel.

      „Du erinnerst mich an ein leptosomes Klappfahrrad; kein Bäuchlein mehr und keine vollen Wangen. Und keinen knackigen Hintern mehr. Nur noch ein drahtiger Hunger­haken mit scharfen Ecken und Kanten. Nach dem Lauf nimmst Du aber wieder kräftig zu“, forderte Andrea von ihrem sehr sehnigen Mann, der mittlerweile aussah, wie Twiggy nach einer dreiwöchigen Fastenkur.

      Es war Klaus‘ Lauffreund Willi, der eines Tages vorschlug, die Sensibilität für die Strecken und den Gleichgewichtssinn beim Laufen zu stärken.

      „Dafür gibt es nichts Besseres, als einen Blindenlauf“, schlug Willi fachmännisch vor, denn er hatte im Fernsehen beobachtet, wie eine blinde Läuferin an einem Seil von ihrem Zugläufer durch den Berlin Marathon geführt wurde.

      Also trafen sich Willi und Klaus, der eine Kordel mitgebracht hatte, um blind durch den Wald zu laufen und sich nur auf ihre Ohren und auf den Zugläufer zu verlassen. Die beiden trabten an der Hessenschanze los und liefen am Waldrand entlang. Beide wurden mutiger und zogen das Tempo an. Die Kordel zwischen ihnen straffte sich auf die volle Länge von zwei Metern. Klaus war richtig stolz auf sich, wie präzise er auf dem Schotterweg blieb.

      Das ging genau zweihundert Meter gut.

      Dann stieß Klaus mit dem Kopf sehr schmerzhaft an einen Ast und öffnete erschreckt reflexhaft seine Augen.

      Vor ihm lag Willi im Graben und jammerte.

      „Wieso hast Du mich denn in den Graben gelenkt?“ schimpfte Willi verärgert und rieb sich die zerschrammte Wade.

      „Und warum hast Du mich an den Baum knallen lassen?“ entgegnete Klaus und spürte, wie er eine Beule bekam.

      „Aber Du hast doch geführt und ich war der Blinde.“

      „Im Gegenteil. Ich war der Blinde und hab‘ mich voll auf Dich verlassen“, stotterte Klaus, jetzt doch leicht verun­sichert.

      Beide hatten sich jeweils auf den anderen als Zugläufer verlassen und waren mit zusammengekniffenen Augen blind losgelaufen. Bis zur ersten Kurve.

      Als der Schmerz nachgelassen hatte, mussten beide doch herzlich lachen.

      Und sie waren sich einig, in der Zukunft nur noch mit geöffneten Augen zu laufen. Sensibilität hin, Gleich­gewichtssinn her.

      5

      Das frühe Licht am Samstagmorgen um fünf Uhr in Fräulein Saurbiers Haus hatte nicht den Grund, dass Fräulein Saurbier wie üblich altersbedingt schon wach war. Heute Morgen war Fräulein