Hans-Jürgen Kampe

Vatter - es kostet nix


Скачать книгу

noch Alma, hatten irgendjemand etwas von ihrer gemeinsamen Leidenschaft erzählt. Und da sie um fünf Uhr merkte, dass sie sowieso nicht mehr einschlafen konnte, beschloss Fräulein Saurbier am frühen Morgen, noch einige Soloübungen zu absolvieren.

      Sie holte einige ältere Schallplatten aus dem Musikschrank ihrer längst verstorbenen Eltern und begann mit einem langsamen Walzer.

      Sie steigerte sich zu einem Cha Cha Cha, dann eine langsame Rumba, die sie verträumt mitsummte, ein Tango von Rudi Schurike, zu dem ihre Eltern schon geschwoft hatten, dann ein Jive, bei dem sie sich fast der Länge lang hingelegt hatte, weil die Teppichkante störte, und am Schluss wurde Hildegard sehr wagemutig.

      Zu den Klängen von Modern Talking, von denen sie sich heimlich eine CD gekauft hatte, ließ sie sich zu einem Disco Fox hinreißen.

      Fräulein Saurbier kannte sich selber nicht mehr.

      Denn ihre längst verblichene Mutter hatte der jungen Hildegard fast täglich Argumente geliefert, doch auf einen Tanzkurs zu verzichten. Und am besten ganz die Finger von jungen Männern zu lassen, die alle doch nur das Eine wollten!

      Also hatte die jugendliche Hildegard ihre ganze Energie zur Freude ihrer Eltern in die Schule und dann in eine solide Ausbildung beim Finanzamt gesteckt.

      Und sie hatte es weit gebracht.

      Als eine von wenigen Steuerprüferinnen prüfte sie Bilanzen, Gewinn- und Verlustrechnungen und alle Belege sehr akribisch, was dem Staat einiges an Extraeinnahmen ein­brachte.

      Korrekt, penibel, unnachgiebig, fleißig.

      Fräulein Saurbier ging in fünfundvierzig Dienstjahren voll in ihrem Beruf auf.

      Nur ihr Privatleben kam zu kurz.

      Sie blieb ledig, wohnte bei ihren Eltern und fuhr jedes Jahr als graue Maus mit den Eltern nach Grömitz an die Ostsee.

      Anfangs beobachtete Fräulein Saurbier die neuen Nachbarn sehr skeptisch. Zumal Klaus auch noch Steuerberater war und Steuern sparen wollte.

      Aber die kleinen Thaler Kinder und später das Hundebaby Mila öffneten das Herz der sonst so reservierten Pensionärin.

      Die Wende in Fräulein Saurbiers eintönigem Leben kam an dem Tag, als sie Alma, Klaus‘ verwitwete Mutter, kennen­lernte.

      Durch sie hatte sich Hildegard überwunden, mit der ganzen Familie Thaler eine Familien-, Weihnachts- und Silvester­feier im kleinen Ferienhaus von Thalers in La Herradura in Andalusien zu feiern. Und danach war sie erstmals offen für Neues.

      Alma hatte sie nicht nur überredet, sich erstmals einen Hosenanzug zu kaufen. Fräulein Saurbier hatte sich auch sehr schnell überzeugen lassen, in Almas Wanderverein einzutreten.

      Denn Alma war nach dem frühen Tod ihres Mannes Man­fred nicht nur eine sehr liebevolle und belastbare Großmutter, sondern auch eine sehr engagierte Wander­führerin.

      Für jeden Mittwochnachmittag hatte die stets analog arbeitende Alma mit ihrer Reiseschreibmaschine eine Wandertour ausgearbeitet, die sie kopierte und den Mitgliedern, meist ältere, verwitwete Damen, mit der Post zuschickte. Dabei tippte Alma das Programm stundenlang mit zwei Fingern geduldig ab. Klaus nannte das nur Almas „System Columbus“ – jeder Buchstabe eine neue Entdeckung.

      Und nach dem „Abenteuerurlaub“ in Südspanien, wo Hildegard die überaus netten Nachbarn von Thalers kennenlernen durfte, wurde Fräulein Saurbier so locker, dass sie sich Almas Wandergruppe spontan anschloss.

      Unter Almas einfühlsamer Regie verwandelte sich die schnöde Raupe, die nur graue Kostüme, Lodenmantel und derbe, aber bequeme Schuhe aus der Kollektion: „Die Heide blüht“ trug, im Laufe eines Jahres in einen ansehnlichen, sogar recht hübschen Schmetterling.

      Selbst den Thaler Kindern fiel die wundersame Veränderung ihrer Nachbarin auf.

      „Papi, die Saurbier sieht irgendwie ganz neu aus“, kommentierte Emma ihren Eindruck beim gemeinsamen Frühstück.

      „Vatter, das Fräulein Saurbier ist wirklich nicht mehr die Alte. Früher war sie sächlich. Jetzt wird sie weiblich. Ich weiß gar nicht, ob mir das gefällt. Man kann ja gar nicht mehr über sie lästern“, stellte Anton fast bedauernd fest. Zum Leidwesen von Andrea hatten sich die Kinder in der Vergangenheit nämlich angewöhnt, regelmäßig über die kauzige Nachbarin ihre Witzchen zu machen.

      „Also dann schenken wir ihr doch zum nächsten Weihnachtsfest einen Mascara Stift und Eyeliner“, schlug der pragmatische Emil vor, denn Fräulein Saurbier wurde regelmäßig zum Weihnachtsabend bei Thalers eingeladen.

      „Oder einen Gutschein für eine Single Börse“, murmelte Klaus hinter der Zeitung Richtung Andrea, die lachend erwiderte: „Besser spät, als nie.“

      Hildegard Saurbiers Outfit änderte sich total. Hosen waren nicht mehr tabu, sondern entpuppten sich als praktisch und modisch. Den Höhepunkt von Fräulein Saurbiers Ver­wandlung bildete der revolutionäre Kauf einer Jeans und eines modischen, grünen Jacketts.

      Die grauen Haare wurden auf einmal leicht getönt und später dunkelblond gefärbt. Ein dezentes Rouge und ein unauffälliger Lippenstift ließen Hildegards ehemals herbe Gesichtszüge richtig hübsch erscheinen.

      Und der strenge Geruch nach Kölnisch Wasser, Mottenkugeln, gepaart mit Klosterfrau Melissengeist und manchmal mit einem Tuck Sagrotan, wich auf einmal dem angenehmen Duft eines gut ausgesuchten, unauffälligen Parfums.

      Die Freundschaft mit Alma führte auch dazu, dass beide in der Volkshochschule einen Theaterkurs besuchten und sich regelmäßig gemeinsam Matineen, Generalproben und Opern im Großen Haus des Staatstheaters ansahen.

      Und sie hatten sich für einen Englisch Kurs angemeldet, denn Alma hatte Brieffreunde in den USA. Fräulein Saurbier dachte sogar kurzzeitig über einen Sprachurlaub in England nach.

      Nach dem Genuss von drei Gläschen Eierlikör, Hildegards heimlicher Leidenschaft, der sie sich meist aber nur in Maßen hingab, hatten die beiden reifen Damen die grandiose Idee, zusammen einen Tanzkurs zu besuchen.

      Aber das war nicht ganz so einfach, wie die beiden unternehmungslustigen Freundinnen sich das vorgestellt hatten.

      Zwar gab es in Kassel Tanzschulen genug.

      Aber die Männer fehlten. Es gab kaum noch tanzwillige und -fähige ältere Herren. Und die wenigen Exemplare dieser sehr seltenen Spezies wurden von der Vielzahl der tanzwütigen älteren Damen förmlich überrollt.

      Was also machen?

      Aber Alma war wie immer einfallsreich und flexibel. Hildegard und Alma würden einfach zusammen tanzen. Mal tanzte die eine als Mann und mal die andere.

      Die einfühlsame Lehrerin brachte dem Kreis gleich­gesinnter, älterer Schülerinnen und Schüler geduldig die Standard Tänze bei. So lange, bis auch der unbegabteste Aspirant mithalten konnte. Das Sahnetüpfelchen waren lateinamerikanische Tänze: Rumba, Cha Cha Cha und ein gefühlvoller, heißer Tango.

      Allerdings kein Salsa. Der sollte in einem eigenen Aufbaukurs gelernt werden, nach einem von der Tanzlehrerin empfohlenen ärztlichen Gesundheits-Check für die Senioren.

      Beim Mittelball waren noch zu wenig Herren dabei. Als die erste CD reingeschoben wurde, stürzten sich die reiferen Damen rücksichtslos auf die hilflosen Senioren.

      Die Quote betrug zwei zu eins, und wer ein männliches Exemplar ergattert hatte, wollte seinen Tanzpartner am liebsten den ganzen Abend nicht mehr abgeben.

      Aber da schob Frau Riebezahl-Schondorf, die Tanzlehrerin, sehr schnell einen Riegel vor, indem nach jedem dritten Tanz eine Damenwahl angekündigt wurde.

      Hilfreich war für alle Seniorentänzer auch, dass Frau Riebezahl-Schondorf beim Mittelball den Tanz noch an­sagte, sodass jeder meistens wusste, welche Schritte er oder sie nun machen musste.

      Aber heute Abend, beim Abschlussball, war das anders. Da wurde nur Musik gespielt und jeder musste allein den richtigen Tanz raten.

      Fräulein