Eberhard Weidner

DER REGENMANN


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hatte, drei Mädchen mit langen dunkelbraunen Haaren entführt und wahrscheinlich getötet zu haben. Wenn es wirklich so einfach gewesen wäre, dann wäre das bereits im Rahmen der damaligen Ermittlungen der Todesermittler ans Licht gekommen. Außerdem hatte der Mörder sicherlich alles mitgenommen, was ihn belasten könnte.

      »Schade«, sagte Anja und seufzte. »Ich dachte nur, dass man … Ach egal. Ich muss jetzt ohnehin aufhören. Es ist schon spät und …«

      »Warte mal!«, unterbrach ihre Mutter sie.

      »Was ist?«

      »Mir ist da wieder etwas eingefallen.« Dagmars Stimme hatte einen nachdenklichen Tonfall angenommen, als versuchte sie, sich an etwas zu erinnern.

      »Was denn?« Anja bemühte sich, nicht allzu ungeduldig zu klingen. Erregung hatte sie jäh erfasst und ließ sie nervös im Flur hin und her laufen, während sie an ihrer Unterlippe knabberte.

      »Sein allerletztes Notizbuch haben sie damals nicht mitgenommen.«

      »Warum nicht?«

      »Entgegen seiner Gewohnheit hatte er wenige Tage zuvor ein neues Notizbuch begonnen, obwohl das vorherige noch gar nicht voll war«, antwortete ihre Mutter. »Ich weiß auch nicht, warum er das getan hat. Vielleicht hatte er sein Notizbuch kurzzeitig verlegt oder irgendwo vergessen, musste sich aber unbedingt Notizen machen. Die zuständigen Beamten nahmen deshalb nur die alten Notizbücher und das vorletzte mit. Von einem weiteren wusste damals niemand etwas, nicht einmal ich. Sie sagten, dass sie Franks Notizen zu Ermittlungszwecken benötigten. Außerdem enthielten sie vertrauliche Informationen über die Vermisstenfälle, die dein Vater bearbeitet hatte. Deshalb habe ich sie auch nicht zurückbekommen. Aber das war mir ohnehin egal. Ich hatte kein Interesse daran, Notizen über alte Fälle zu lesen. Darüber hinaus hatte ich damals anderes im Kopf.«

      »Warum wusste damals niemand etwas von einem weiteren Notizbuch?«, fragte Anja.

      »Weil es nicht wie die anderen in seinem Arbeitszimmer war.«

      »Wo war es dann?«

      »Im Handschuhfach unseres Autos. Ich fand es erst ein halbes Jahr später, als ich den Wagen zur Inspektion brachte und den Fahrzeugschein und das Serviceheft suchte.«

      Anja blieb mitten im Flur stehen, denn jetzt kam die Frage, die darüber entschied, ob sie erneut in einer Sackgasse gelandet war oder endlich einmal einen Durchbruch erzielen würde. »Und was hast du damit gemacht?«

      »Ich wollte es an die für den Fall zuständigen Beamten schicken und legte es daher in eine Schublade im Wohnzimmerschrank, damit es nicht verlorenging«, sagte Dagmar.

      »Und?«

      »Dann habe ich es aber doch vergessen und erst Monate später wiederentdeckt. Da dachte ich mir, dass es vermutlich ohnehin keinen Sinn mehr hat, es den Ermittlern zu übergeben. Also packte ich es zu den anderen persönlichen Sachen deines Vaters in einen Karton, den ich in den Keller stellte.«

      »Hast du den Karton immer noch?« Anja wagte es nicht einmal zu hoffen, aus Angst, im nächsten Moment maßlos enttäuscht zu werden.

      »Wahrscheinlich schon«, sagte ihre Mutter und ließ damit einen Stein von enormer Größe vom Herzen ihrer Tochter poltern. »Zumindest kann ich mich nicht erinnern, dass ich die Sachen weggeworfen hätte. Außer natürlich, sie sind bei unserem Umzug in dieses Haus verlorengegangen. Aber das glaube ich, ehrlich gesagt, nicht. Daher müsste der Karton eigentlich auf dem Dachboden stehen.«

      »Kann ich morgen Vormittag vorbeikommen und mir das Notizbuch holen.«

      »Morgen Vormittag?«, fragte Dagmar verwundert. »Bist du da nicht in der Arbeit?«

      »Ich hab Urlaub.«

      »Ach ja? Schön, dass ich das ganz nebenbei auch einmal erfahre.«

      »Tut mir leid, Mama, aber daran habe ich gar nicht mehr gedacht.«

      »Fährst du weg?«

      »Nein.«

      »Was hast du dann vor?«, fragte ihre Mutter. »So wie ich dich kenne, fällt dir daheim doch nur die Decke auf den Kopf, wenn du nichts zu tun hast.«

      »Zu tun habe ich genug«, widersprach Anja. »Endlich habe ich Zeit, mich um den Garten zu kümmern. Und du weißt ja, wie gern ich Gartenarbeit verrichte.«

      »Das war schon immer so«, sagte Dagmar. »Wie wäre es, wenn wir uns in den nächsten Tagen in einem Café oder Restaurant treffen?«

      Anjas Begeisterung hielt sich in Grenzen. Allerdings hatten sie sich eine Weile nicht mehr getroffen, sodass es auch dafür allmählich höchste Zeit war. Außerdem wollte sie das Notizbuch unbedingt haben. »Gute Idee«, sagte sie daher. »Ich kann dich ja in den nächsten Tagen anrufen, damit wir einen Termin ausmachen.«

      »Schön. Ich freue mich schon darauf.«

      »Und?«

      »Was und?«

      »Kann ich jetzt morgen früh kommen und das Notizbuch holen?«

      Dagmar seufzte. »Ich weiß zwar nicht, was du dir davon versprichst, aber meinetwegen. Ich brauche dieses Notizbuch ohnehin nicht. Dein Vater hat mir nie von seiner Arbeit erzählt, und ich wollte, ehrlich gesagt, auch nichts davon wissen. Auf diese Weise konnten wir seinen Beruf und unser Privatleben besser auseinanderhalten. Du solltest dir daher am besten einen Mann suchen, der nicht bei der Polizei ist. Wie sieht es damit eigentlich aus?«

      »Ich suche im Moment keinen Mann«, sagte Anja empört.

      »Solltest du aber besser«, meinte ihre Mutter. »Irgendwann hast du deine beste Zeit hinter dir und dann ist es zu spät.«

      »Mama!«

      »Schon gut.« Dagmar seufzte. »Ich sage ja schon nichts mehr. Schließlich hast du noch nie auf das gehört, was ich gesagt habe.«

      »Ich hab sehr wohl darauf gehört.«

      »Ja, natürlich. Aber nur, um dann das genaue Gegenteil davon zu tun.«

      Da ihre Mutter damit nicht unrecht hatte, beschloss Anja, das Thema zu wechseln.

      »Bist du morgen Vormittag zu Hause?« Sie hoffte nicht, denn sie wollte ihren Besuch so kurz wie möglich halten, nahm es aber in Kauf.

      »Tut mir leid, aber da bin ich in der Druckerei. Wie wäre es, wenn du am Nachmittag vorbeikommst, denn dann bin ich wieder zu Hause.«

      »Es wäre mir aber lieber, wenn ich das Notizbuch schon am Vormittag holen könnte«, antwortete Anja. »Wir sehen uns ja ohnehin in den nächsten Tagen zum Kaffeetrinken oder Essen.«

      »Ich weiß wirklich nicht, warum du es auf einmal so eilig hast«, sagte ihre Mutter. »Ein Vierteljahrhundert hat kein Mensch einen Blick in dieses Notizbuch geworfen. Bis vor wenigen Minuten wusstest du nicht einmal, dass es überhaupt existiert. Und jetzt kann es dir gar nicht schnell genug gehen, es in die Finger zu bekommen. Was hat das zu bedeuten?«

      »In dem Notizbuch stehen Dinge, die Papa wenige Tage oder sogar Stunden vor seinem Tod hineingeschrieben hat. Und bislang hat niemand sie gelesen. Womöglich ist etwas dabei, das neues Licht auf die damaligen Ermittlungen wirft und einen Ansatzpunkt für weitere Untersuchungen liefert. Wie ich bereits sagte, wurden die Fälle der drei verschwundenen Mädchen niemals aufgeklärt, und sie sind bis heute nicht wieder aufgetaucht. Wenn in dem Notizbuch etwas steht, das außer Papa niemand wusste, sodass er sein Wissen mit ins Grab nahm, und das dazu dienen könnte, die Fälle nach all den Jahren aufzuklären, dann möchte ich das so schnell wie möglich erfahren. Das bin ich nicht nur den drei verschwundenen Mädchen, sondern auch Papa schuldig.«

      »Na schön«, gab sich Dagmar schließlich geschlagen. »Komm einfach morgen früh vorbei. Du hast ja einen Schlüssel. Das Notizbuch ist in einem Umzugskarton, der mit dem Vornamen deines Vaters beschriftet ist. Der Karton müsste im Speicher stehen. Allerdings kann ich dir nicht sagen, wo genau. Du wirst also danach suchen müssen. Bring aber bitte nicht alles durcheinander.«

      »Ich