Eberhard Weidner

DER REGENMANN


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nicht herausgefunden haben, was hier passiert ist, ob also ein Mordfall, eine Körperverletzung oder nur ein Vermisstenfall vorliegt, wissen wir nicht einmal, welchen Kollegen wir den Fall aufs Auge drücken können. Dann bleiben wir vielleicht sogar darauf hocken. Dabei haben wir auch so schon mehr als genug Arbeit.«

      »Tut mir leid«, sagte Anja und zuckte hilflos mit den Schultern. »Aber ich kann leider auch nichts dafür.«

      »Ich weiß. Ich gebe Ihnen ja auch gar nicht die Schuld.«

      »Ihre Kollegin scheint da anderer Ansicht zu sein.«

      Plattner schüttelte den Kopf. »Da täuschen Sie sich. Es kommt einem nur so vor, wenn man sie nicht kennt. So wie ich Melissa nach den anderthalb Jahren, die wir nun bereits zusammenarbeiten, einschätze, macht ihr vor allem zu schaffen, dass sie momentan noch nicht erkennen kann, welche Rolle Sie bei der Geschichte spielen.«

      »Das weiß ich, ehrlich gesagt, selbst nicht«, meinte Anja und erntete ein mitfühlendes Lächeln. »Und das beunruhigt mich ebenfalls.«

      »Sie können ja die Ermittlungen weiterführen, wenn es sich nur um einen Vermisstenfall handeln sollte«, schlug Plattner vor. »Schließlich sind sie ja in gewisser Weise bereits damit befasst und müssen sich nicht mehr einarbeiten.«

      Anja schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber da müssen Sie sich an meine Kolleginnen und Kollegen in der Vermisstenstelle wenden.«

      »Wieso das?«

      »Ich habe momentan Urlaub.«

      »Sie Glückliche«, sagte Plattner und seufzte. »Und obwohl Sie Urlaub haben, reagieren Sie dennoch auf geheimnisvolle Vermisstenmeldungen, die vor Ihre Haustür gelegt werden, und schleichen durch fremde Häuser, anstatt dass sie sofort die armen Kollegen zu Hilfe rufen, die keinen Urlaub haben.«

      »Das nennt man Pflichtbewusstsein«, antwortete Anja. »Eine bayerische Kriminalbeamtin ist schließlich immer im Dienst.«

      »Das nenne ich vorbildlich«, meinte er anerkennend und grinste dabei. »Gefällt Ihnen Ihre Arbeit bei der Vermisstenstelle?«

      Anja nickte. »Sehr sogar. Ich möchte nirgendwo anders arbeiten. Und Sie? Was hat Sie zum Kriminaldauerdienst verschlagen?«

      Er zuckte mit den Schultern und überlegte kurz. »Die Arbeit ist ungemein abwechslungsreich, das gefällt mir vor allem daran«, sagte er dann. »Auf der Rückfahrt von einem Einbruch in ein Einfamilienhaus in Bogenhausen bekommen wir beispielsweise die Meldung über eine Polizeileiche im Münchner Westen.«

      Als Polizeileichen wurden Tote bezeichnet, bei denen noch nicht geklärt werden konnte, ob ein natürlicher oder ein gewaltsamer Tod vorlag.

      »Wo waren Sie, bevor Sie zum Kriminaldauerdienst kamen?«, fragte Anja.

      »Ich war für Körperverletzung, Sachbeschädigung, Nötigung, Bedrohung und Waffenrecht zuständig.«

      »Und das war Ihnen zu langweilig?«

      »Sagen wir eher, es war mir nicht abwechslungsreich genug. Außerdem interessiere ich mich eher für Todesfälle. Deshalb wollte ich ursprünglich auch zur Mordkommission. Ich habe mich da auch auf eine freie Stelle beworben, aber daraus wurde leider nichts. Aber vielleicht klappt es ja beim nächsten Mal.«

      Anja hob die Augenbrauen. Sie fragte sich unwillkürlich, wie jemand sich für Todesfälle interessieren konnte. Allerdings reagierte nicht jeder dermaßen empfindlich wie sie auf den Anblick von Leichen.

      Ihr Unverständnis musste auch in ihrer Miene zum Ausdruck gekommen sein, denn Plattner lachte. »Jetzt sehen Sie mich an, als wäre ich ein Perverser, den der Anblick von Leichen in sexuelle Erregung versetzt«, meinte er.

      »Nein, nein«, wiegelte Anja ab. »Es ist nur so, dass ich selbst es nicht so mag, wenn ich mit Leichen zu tun habe. Manchmal verlangt es der Job zwar auch, dass ich in einem Sektionsraum des Instituts für Rechtsmedizin die Leiche einer vermissten Person identifizieren muss, aber meistens habe ich es zum Glück mit lebenden Vermissten zu tun. Deshalb kann ich Ihre Faszination für Todesfälle nicht nachvollziehen. Aber wenn Sie sich auf einer beruflichen Ebene dafür interessieren, dann ist das völlig okay.«

      Plattner nickte. »Es sind auch weniger die Leichen selbst, die mich faszinieren«, erklärte er, »sondern vielmehr die Umstände, die dazu geführt haben, dass ein Mensch so weit geht, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen.«

      Da Anja keine Lust hatte, noch weiter über Leichen zu sprechen, beschloss sie, das Thema zu wechseln.

      »Und Ihre Kollegin? Was hat sie gemacht, bevor sie zum Kriminaldauerdienst kam?«

      »Melissa war ein paar Jahre Todesermittlerin und hat dabei natürlich viele Todesfälle untersucht«, antwortete Plattner. »Von ihr habe ich echt viel darüber gelernt.«

      Anja krümmte sich innerlich, weil der beabsichtigte Themenwechsel nicht funktioniert hatte und nach hinten losgegangen war, denn Plattner schien allmählich in Fahrt zu kommen und sich für das Thema zu erwärmen. Doch bevor er fortfahren konnte, wurde Anja von einem Ruf gerettet, der von der anderen Seite des Hauses kam: »Andi?«

      »Ihre Kollegin ruft nach Ihnen«, stellte Anja erleichtert fest.

      »Ich hab’s gehört.« Er öffnete sein Notizbuch und nahm den dazugehörigen Kugelschreiber aus der Schlaufe. »Zuerst sagen Sie mir aber noch Ihre Adresse.«

      Anja nannte ihm ihre Anschrift.

      Er notierte sich ihre Angaben, dann klappte er das Buch zu. »Am besten, Sie holen jetzt die Nachricht, die Sie bekommen haben, während ich zu meiner Kollegin gehe und nachsehe, was sie von mir will.«

      »Zu Befehl«, sagte Anja und salutierte zum Spaß.

      Plattner lachte leise, dann drehte er sich um und ging an der Seite des Hauses entlang, um zur Rückseite zu gelangen.

      Anja hingegen wandte sich vom Haus ab und verließ das Grundstück.

      13

      Zehn Minuten später war sie wieder zurück. Sie hatte nicht nur die Klarsichthülle geholt, in der sich neben der Nachricht und dem Umschlag auch die ursprüngliche Klarsichthülle befand, sondern die Gelegenheit auch gleich genutzt, um kurz ins Bad zu gehen und anschließend ein Glas Wasser zu trinken. Danach hatte sie nach Yin gerufen und das Haus nach ihm abgesucht. Da das Schicksal von Carina Arendts schwarzer Katze noch immer ungeklärt war, machte sie sich Sorgen um ihren Kater. Doch der war unauffindbar gewesen. Offensichtlich war er draußen und durchstreifte nun, nachdem es endlich zu regnen gehört hatte, die Nachbarschaft, um sein Revier gegen aufdringliche Rivalen zu verteidigen oder einsame Katzendamen zu umgarnen.

      Da vor dem Haus niemand war, ging sie nach hinten. Aber auch dort fand sie niemanden. Wie es aussah, hatten die Kriminaltechniker grünes Licht gegeben und die beiden KDD-Beamten ins Haus gelassen.

      Die kaputte Terrassentür, die ins immer noch hell erleuchtete, aber menschenleere Wohnzimmer führte, stand einen Spaltbreit offen. Doch Anja wagte es nicht, das Haus ohne Erlaubnis der zuständigen Kollegen zu betreten. Also ging sie wieder nach vorn und wartete dort.

      Mittlerweile hatten die Anwohner auf der rechten Seite mitbekommen, dass auf dem Nachbargrundstück etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Ein älteres Ehepaar stand am Fenster und beobachtete Anja argwöhnisch. Sie setzte ihr freundlichstes Lächeln auf und winkte den beiden alten Leuten zu. Diese zogen sich daraufhin geradezu fluchtartig zurück, als wären sie bei etwas Verbotenem ertappt worden. Sie schlossen die Vorhänge und löschten das Licht.

      Während sie wartete, vertrieb sich Anja die Zeit, indem sie im Licht der Lampe über der Eingangstür das Foto von Carina Arendt mit ihrer Katze noch einmal genauer unter die Lupe nahm. Alle paar Minuten ging das Licht aus, sodass Anja eine Bewegung machen musste, damit es wieder anging. Doch obwohl sie die ausgedruckte Fotografie Millimeter für Millimeter unter die Lupe nahm, fiel ihr nichts Ungewöhnliches daran auf.

      Auf diese Weise waren weitere