Eberhard Weidner

DER REGENMANN


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ein oder als hätte sie sogar Verständnis dafür.

      »Haben Sie eine Vorstellung, wer Ihnen die Nachricht geschickt haben könnte? Und aus welchem Grund sie ausgerechnet auf Ihrer Fußmatte lag?«

      Anja zuckte mit den Schultern. »Das habe ich mich auch gefragt.« Sie dachte kurz nach. Von ihrem begründeten Verdacht, dass der Umschlag von derselben Person stammte, die ihr schon früher Nachrichten geschickt und ihren Vater ermordet hatte, konnte und wollte sie den beiden Kollegen vom KDD nichts erzählen. Deshalb nannte sie eine weitere Möglichkeit, die sie sich während der Wartezeit überlegt hatte. Sie klang plausibel und war darüber hinaus viel leichter zu glauben. »Unter Umständen liegt es daran, dass ich hier in der Nähe wohne und bei der Vermisstenstelle arbeite. Der Absender könnte das gewusst haben und ließ mir die Nachricht deshalb zukommen. Schließlich steht über dem Foto der Frau mit der Katze das Wort ›VERMISST!‹. Es handelt sich also allem Anschein nach um eine Art anonyme Vermisstenanzeige, ohne dass der Anzeigenerstatter den offiziellen Weg beschreiten und persönlich in Erscheinung treten musste. Vielleicht hat er gute Gründe, weswegen er inkognito bleiben will.«

      »Möglicherweise handelt es sich um den Liebhaber der Frau, die hier wohnt«, spann Plattner den Gedanken weiter. Er hatte eine erstaunlich tiefe Stimme. »Und weil er verheiratet ist, will er nicht in polizeiliche Ermittlungen hineingezogen werden. Klingt für mich plausibel.«

      Seine Kollegin dachte darüber nach, und sah sich dabei um. »Das ist durchaus denkbar«, sagte sie nach einer Weile, klang aber alles andere als überzeugt. »Trotzdem …«, begann sie dann und schüttelte den Kopf. »Irgendetwas an der Sache kommt mir merkwürdig vor.« Sie richtete ihre Augen wieder auf Anja und sah diese mit einem inquisitorischen Blick durchbohrend an, als erwartete sie, Anja würde daraufhin sogleich zusammenbrechen und alles gestehen.

      Anja fühlte sich unter dem Blick der Frau durchaus unbehaglich. Es kam ihr so vor, als könnte Melissa Schubert bis in ihre Seele blicken und dort Dinge entdecken, die Anja nicht auszusprechen wagte. Das war natürlich ausgemachter Blödsinn, dennoch wurde Anja das Gefühl nicht los, dass die andere Frau genau wusste, dass sie ihr nicht die vollständige Wahrheit erzählt hatte und mit einem entscheidenden Detail hinter dem Berg hielt. Sie erschauderte innerlich, bemühte sich aber, sich von ihren Gefühlen nichts anmerken zu lassen. Sie zuckte erneut mit den Schultern und gab sich nach außen unbeeindruckt. »Ich finde diese Geschichte ebenfalls merkwürdig, ja geradezu mysteriös. Aber genau so, wie ich es Ihnen erzählte, hat es sich abgespielt.« Das war nicht einmal eine Lüge, sondern die Wahrheit. »Mehr kann ich Ihnen dazu beim besten Willen nicht sagen. Außer …«, sagte sie dann, als ihr plötzlich etwas einfiel, »… dass ich, als ich hierherkam, das unangenehme Gefühl hatte, als würde mich jemand beobachten.«

      Plattner sah sich daraufhin automatisch um. Er entdeckte aber nichts, das seinen Argwohn erregte.

      Melissa Schubert hielt ihren Blick weiterhin auf Anja gerichtet, als befürchtete sie, diese könnte sich in Luft auflösen, wenn sie sie nicht ständig aufmerksam im Auge behielt. »Haben Sie dieses Gefühl noch immer?«

      Anja schüttelte den Kopf. »Als ich ums Haus herumging, verschwand es. Seitdem hatte ich es nicht mehr.«

      »Na schön«, gab sich die andere Kriminalbeamtin schließlich zufrieden und seufzte schwer, als trüge sie die Last der ganzen Welt auf ihren Schultern. »Ich habe momentan keine weiteren Fragen an Sie, Frau Spangenberg. Mein Kollege wird sich Ihre Adresse notieren, während ich mich einmal hinter dem Haus umsehe. Anschließend können Sie kurz nach Hause gehen und die Klarsichthülle mit der Nachricht holen. Aber halten Sie sich bitte weiterhin zu unserer Verfügung, denn nach der Besichtigung des Hauses und des potenziellen Tatorts habe ich sicherlich noch ein paar Fragen an Sie.« Melissa Schubert schenkte ihr zum Abschied ein knappes Nicken, verzog dabei aber immer noch keine Miene, und marschierte davon.

      Anja wartete, bis sie um die Ecke verschwunden und damit außer Hörweite war. »Was ist denn mit Grumpy Cop los?«, fragte sie dann Andreas Plattner, der ein Notizbuch aus der Innentasche seines Sakkos holte, um sich Anjas Adresse zu notieren. »Ist Ihre Kollegin immer so schlecht gelaunt, oder habe ich irgendetwas Falsches gesagt?«

      Er lachte und schüttelte den Kopf. »Nein, Sie haben überhaupt nichts Falsches gesagt. Und der Name Grumpy Cop ist gar nicht mal so abwegig, denn Melissa ist heute einfach nur besonders mies drauf.«

      »Hat das einen bestimmten Grund?«

      Er seufzte. »Sie ist auch an guten Tagen nicht unbedingt ein Ausbund an Fröhlichkeit und guter Laune, vor allem, weil wir immer alle Hände voll zu tun haben. Aber heute Nacht hatten wir besonders viel Stress und hetzten von einem Einsatz zum nächsten. Seit wir unsere Schicht begonnen haben, gab es für uns bereits zwei Einbrüche, einen ungeklärten Todesfall in Untermenzing, einen Raubüberfall auf eine Tankstelle und eine versuchte Vergewaltigung. Und als wir uns dann im Aufenthaltsraum eine Pause gönnen und die bestellte Pizza essen wollten, kam prompt ein Anruf aus dem Aquarium, und wir wurden hierher geschickt.«

      Anja wusste, dass die KDD-Beamten ihre Einsatzzentrale in der Ettstraße als Aquarium bezeichneten. Krämers und Schuberts Schicht hatte dort um 17 Uhr begonnen. Da sie in 12-Stunden-Schichten arbeiteten, war sie erst um 5 Uhr morgens zu Ende. Die Mitarbeiter des KDD hatten nämlich Dienst, wenn sie und ihre Kollegen der Fachkommissariate Feierabend oder am Wochenende frei hatten. Sie übernahmen dann die Aufgaben aller 55 Kriminalkommissariate und waren unter anderem für ungeklärte Todesfälle, massive Körperverletzungen bis hin zu Tötungsdelikten, Sexualstraftaten, Raubdelikte und Wohnungs- und Geschäftseinbrüche zuständig. In Vertretung der Fachkommissariate führten sie dann vor Ort die maßgeblichen Sofortmaßnahmen einschließlich der ersten Auswertungs- und Ermittlungsarbeit durch. Bei Bedarf zogen sie die Kollegen der Kriminaltechnik hinzu. Die Weiterbearbeitung und Nachermittlung der Fälle erfolgte dann allerdings regelmäßig in den zuständigen Fachdienststellen.

      »Und als wäre das noch nicht genug«, fuhr Plattner fort, »haben wir es hier auch noch mit einem reichlich mysteriösen Fall zu tun. Angefangen bei dem Klopfen an Ihrer Tür und der geheimnisvollen Nachricht auf Ihrer Fußmatte. Daraufhin kommen Sie, zufälligerweise auch noch eine Kollegin von der Vermisstenstelle, hierher und finden die Terrassentür einladend offen vor. Sie folgen den Fußspuren, die Sie geradewegs zu einem potenziellen Tatort führen. Allerdings hat der Täter das Opfer und fast alle Blutspuren beseitigt, als wollte er die Tatsache verschleiern, dass es sich um einen Tatort handelt. Dabei übersieht er trotz aller Gründlichkeit aber nicht nur ein paar Blutspritzer, sondern lässt sogar den blutigen Bademantel hängen, den das Opfer vermutlich getragen hat.« Er schüttelte den Kopf. »Melissa hat schon recht: Irgendwie passt das alles nicht zusammen. Finden Sie nicht auch?«

      Anja signalisierte ihre Zustimmung mit einem Nicken, sagte jedoch nichts.

      »Die Situation ist dermaßen verworren, dass wir momentan noch nicht einmal wissen, womit wir es hier zu tun haben. Die Nachricht, die Sie erhielten, spricht lediglich von einem Vermisstenfall. Von daher ist es durchaus einleuchtend, dass die Mitteilung ausgerechnet an Sie gegangen ist, auch wenn die Art und Weise völlig unkonventionell und merkwürdig war. Die Blutspritzer und die von ihnen beschriebene Menge von Blut am Bademantel lassen hingegen eher auf ein Gewaltdelikt, unter Umständen sogar auf einen Mord schließen. Aber wieso hat der Täter dann einerseits das Badezimmer gereinigt, andererseits den Bademantel hängen lassen? Und warum hat er, als er schon dabei war, nicht auch gleich die Fußspuren und Wasserflecken im Haus beseitigt, die direkt zum Tatort führen? All diese Ungereimtheiten und offenen Fragen bereiten nicht nur mir, sondern auch meiner Kollegen Kopfschmerzen. Und deshalb ist Melissa heute Nacht besonders mies drauf.«

      »Sie machen mir allerdings keinen so missmutigen Eindruck wie Ihre Kollegin.«

      »Ich bin eben von Haus aus eher eine Frohnatur«, sagte er grinsend. »Aber trotzdem wünschte ich mir, wir hätten diesen Fall nicht zugeteilt bekommen und stattdessen unsere Pizza essen können.« Er rieb sich den Bauch. »Ich hab ein komisches Gefühl im Magen, und das liegt nicht nur am Hunger.«

      »Wenigstens sind Sie den Fall spätestens dann los, wenn das zuständige Fachkommissariat morgen früh wieder seinen Dienst antritt.«

      Er