Eberhard Weidner

DER REGENMANN


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zu werfen.

      »Nochmals vielen Dank, dass Sie uns Ihre Einschätzung des Falls mitgeteilt haben«, sagte die KDD-Beamtin zum Abschluss. »Wir werden Ihren Hinweisen natürlich nachgehen und in den Krankenhäusern nachfragen, ob heute Nacht eine Frau mit Stichwunden eingeliefert wurde. Und wir werden sämtliche Angehörigen, Freunde und die Nachbarn befragen. Allerdings habe ich, ehrlich gesagt, nicht allzu viel Hoffnung, dass wir den Fall bis zum Ende unserer Schicht lösen werden, sodass Ihre Kollegen von der Vermisstenstelle sich morgen früh nach Dienstbeginn damit herumschlagen dürfen.«

      »Die werden sich sicherlich freuen«, sagte Anja.

      Zum ersten Mal, seit Anja sie kannte, zeigte ihr Melissa Schubert ein echtes Lächeln. »Das glaube ich auch.«

      14

      Wieder zu Hause suchte Anja, sobald sie ihre Schuhe ausgezogen hatte, als Erstes sämtliche Lieblingsaufenthaltsorte ihres Katers ab. Die zusammengefaltete Decke auf der Couch im Wohnzimmer, die Yin vor allem für seine ausgiebigen Nickerchen während des Tages benutzte, war leer. Auch Anjas Bett im Obergeschoss, in dem das Tier gewöhnlich schlief, nachdem es von seinen anstrengenden nächtlichen Streifzügen zurückgekehrt war, war verwaist. Er saß auch nicht auf dem Fensterbrett ihres Arbeitszimmers, das sie kaum noch betrat, weil es zu viele unangenehme Erinnerungen an ihren an diesem Ort verstorbenen Mann erweckte. Yin wiederum nutzte es gern als Aussichtspunkt, denn von dort hatte er einen hervorragenden Ausblick über sein Reich, das vermutlich aus ihrem Grundstück und den angrenzenden Gärten der Nachbarn bestand. Vor der Terrassentür, wo er immer dann teils sehnsüchtig, teils missmutig hinaus starrte, wenn es draußen zu ungemütlich für ihn war, weil es regnete, stürmte, blitzte oder donnerte, hockte er ebenfalls nicht. Er war auch nicht in der Küche, einem weiteren seiner Lieblingsorte, weil dort unter dem Fenster seine Näpfe mit Wasser und Katzenfutter standen. Und auch sonst war nirgends eine Spur von Yin zu entdecken. Sie ging daher davon aus, dass er noch immer draußen unterwegs war.

      Angesichts des Schicksals, das die Katze der verschwundenen, vermutlich getöteten Carina Arendt getroffen hatte, machte sie sich inzwischen natürlich große Sorgen um den Kater. Allerdings rief sie sich in Erinnerung, dass das andere Tier nicht draußen, sondern von jemandem getötet worden war, der ins Haus eingedrungen war. Das gab ihr die Hoffnung, dass Yin nichts passierte, solange er im Freien unterwegs war. Und die Wahrscheinlichkeit, dass derselbe Täter auch in ihr Haus eindrang, war vermutlich eher gering.

      Bist du dir sicher?

      Ihre innere Stimme hatte die Angewohnheit, ihr ausgerechnet die Fragen zu stellen, die Anja nicht hören und auf die sie lieber keine Antwort haben wollte. Sie ignorierte sie deshalb einfach, was in der Regel aber nicht lange funktionierte.

      Da sie momentan nichts anderes tun konnte, als darauf zu warten, dass Yin zurückkam, saß Anja am Küchentisch und grübelte.

      Sie musste immer wieder an die Nachricht denken, die sie bekommen hatte. Und natürlich an das Polaroidfoto, das noch immer in der Innentasche ihrer Lederjacke steckte. Das Foto hatte jeden Zweifel darüber beseitigt, wer ihr den Umschlag vor die Tür gelegt hatte. Wie sie es von Anfang an vermutet hatte, steckte der Mörder ihres Vaters dahinter. Die Polaroidaufnahme war der Beweis, dass es sich um mehr als eine bloße Vermutung handelte. Sie hatte seit dem letzten Mal eine geraume Weile nichts mehr von ihm gehört, aber ständig insgeheim damit gerechnet, dass er sie früher oder später wieder aufs Korn nahm.

      Damit war klar, dass der Mann, der sich Jack nannte, hinter der Geschichte steckte.

      Aber wer ist die Person, die Carina Arendt in ihrem Badezimmer angegriffen und höchstwahrscheinlich getötet hat?

      Wie in den früheren Fällen, in denen Anja es mit dem Mörder ihres Vaters zu tun bekommen hatte, bediente er sich offensichtlich auch hier wieder eines willfährigen Helfers, der für ihn die blutige Arbeit erledigte.

      Aber wieso hatte er ihr die Nachricht geschickt und damit auf die Tat seines Handlangers aufmerksam gemacht, nachdem er sich andererseits zuvor so viel Mühe gegeben hatte, die Blutspuren im Bad zu entfernen? Außerdem hatte er auch den Bademantel hängen lassen und die Fußspuren nicht beseitigt. Wozu? Wollte er Anja in die Ermittlungen hineinziehen und erreichen, dass sie seinen Gehilfen jagte?

      Der Gedanke war abenteuerlich, aber nicht grundsätzlich abwegig. Von daher behielt Anja ihn vorerst im Hinterkopf.

      Stattdessen dachte sie über Plattner, den Kollegen vom Kriminaldauerdienst nach. Für ihre Begriffe hatte er zu oft gegrinst oder gelächelt. Vor allem angesichts dessen, was in dem Haus möglicherweise passiert war. Außerdem irritierte sie seine Faszination für Todesfälle, die sie weder begreifen noch begrüßen konnte.

      Bevor sie allerdings noch länger über den KDD-Beamten nachdenken konnte, klingelte ihr Festnetztelefon. Sie wunderte sich, wer so spät noch anrief. Doch als sie einen Blick auf ihre Armbanduhr warf, sah sie, dass es noch gar nicht so spät war, wie sie gedacht hatte. Es war ihr nur so vorgekommen, weil in den letzten zweieinhalb Stunden so viel passiert war.

      Während Anja in den Flur ging, dachte sie darüber nach, wer der Anrufer sein könnte. Vielleicht war es Tanja, die wissen wollte, was Anja herausgefunden hatte und ob es ihr gutging.

      Doch als Anja das schnurlose Telefon nahm, stand auf dem Display nicht der Vorname ihrer Cousine, sondern der ihrer Mutter. Da Dagmar wusste, dass Anja selten vor Mitternacht schlafen ging, rief sie manchmal sogar noch spätabends an.

      Anja seufzte. Während es ein weiteres Mal klingelte, überlegte sie, ob sie den Anruf entgegennehmen oder so tun sollte, als wäre sie nicht zu Hause.

      Die Gründe, die für ein Telefongespräch mit Dagmar sprachen, überwogen schließlich. Erstens würde das Telefonat sie vom Nachgrübeln abhalten, das vermutlich ohnehin zu nichts führte. Außerdem verging die Zeit dann rascher, bis Yin nach Hause kam. Im Übrigen hatte sie seit fast einer Woche nicht mehr mit ihrer Mutter telefoniert. Ein Gespräch war daher längst überfällig, denn Dagmar erwartete, dass sie regelmäßig miteinander sprachen.

      »Hallo, Mama«, sagte Anja, sobald die Verbindung stand. »Wie geht’s dir?«

      Dagmar Fröhlich erwiderte die Begrüßung. Sie erging sich zunächst in der Schilderung diverser kleinerer körperlicher Beschwerden, die Anja allesamt nicht besonders schwerwiegend vorkamen. Anschließend listete sie eine Reihe von Problemen auf, die Anja angesichts dessen, was sie heute in Carina Arendts Haus vorgefunden hatte, wie Kinderkram erschienen. Sie ließ ihre Mutter dennoch munter drauflos schwadronieren, steuerte ab und zu einen einsilbigen Kommentar bei, hörte in Wahrheit aber überhaupt nicht richtig zu.

      Dagmar war inzwischen zum zweiten Mal verheiratet. Ihr Ehemann Josef Fröhlich betrieb eine Druckerei, in der sie im Büro tätig war. Durch die Heirat hatte Anja nicht nur einen Stiefvater bekommen, den sie gern hatte, sondern mit seinem Sohn Sebastian darüber hinaus auch einen Stiefbruder, den sie von Anfang an nicht besonders leiden konnte.

      Als ihre Mutter daher von Sebastian erzählte, der in einer Einliegerwohnung in seinem Elternhaus lebte und Sanitäter war, zog Anja eine Grimasse und schaltete auf Durchzug. Sie stand mit dem Telefon am Ohr im Flur und starrte auf die Katzenklappe neben der Haustür, als könnte sie durch pure Willenskraft bewirken, dass die Klappe aufging und ihr Kater durch die Öffnung schlüpfte. Doch das passierte natürlich nicht.

      Schließlich beendete Dagmar ihren Monolog und fragte: »Und wie geht’s dir so?« Eine Frage, die automatisch eine aktivere Beteiligung Anjas an der Unterhaltung nach sich zog.

      »Mir geht’s gut«, gab Anja daraufhin ihre Standardantwort. Bis sie heute Abend den Umschlag auf ihrer Fußmatte gefunden hatte, war das sogar im Großen und Ganzen die Wahrheit gewesen. Ihre Arbeit machte ihr wie immer Spaß; abgesehen natürlich von den zum Glück spärlich gesäten Tagen, an denen sie es mit Leichen zu tun hatte. Außerdem hatte nun schon eine ganze Weile niemand mehr versucht, sie zu töten, was sich ebenfalls positiv auf ihren Gemütszustand auswirkte. Einzig ihr Privatleben könnte etwas abwechslungsreicher sein, vor allem in Bezug auf das Thema Männer. Sie war in den letzten Monaten mit mehreren Männern