Eberhard Weidner

DER REGENMANN


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war, blieb sie stehen. Sie wandte sich um und wartete auf Schubert und Plattner.

      Sie sah, dass die Tür zum Wohnzimmer offen stand und die anderen beiden Kriminaltechniker darin zugange waren. Die Frau fotografierte die Fußspuren, während der Mann bestimmte Bereiche der Terrassentür mit Rußpulver einstäubte, um Fingerabdrücke zu sichern. Anja bezweifelte, dass er dort auch die des Täters finden würde, und war froh, dass sie selbst in diesem Haus nichts mit bloßen Händen angefasst hatte.

      »Nun?«, fragte Melissa Schubert, sobald sie und ihr Kollege Anja erreicht hatten. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah Anja an, als erwartete sie endlich das längst überfällige Geständnis von ihr.

      Anja zuckte mit den Schultern. »Was wollen Sie von mir wissen?«

      »Was halten Sie von dem, was wir gesehen haben?«

      Anja hob überrascht die Augenbrauen; sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Kollegin sie nach ihrer Meinung fragen würde. Sie sortierte rasch ihre Gedanken, bevor sie antwortete: »Der Zustand des Bademantels ließ bereits darauf schließen, dass dort oben eine Menge Blut vergossen wurde. Der Einsatz des Luminols hat das meiner Meinung nach bestätigt. Aufgrund der momentanen Sachlage, die sich aus alldem ergibt, gehe ich daher davon aus, dass dort oben jemand nach dem Duschen mit einem Messer angegriffen und mindestens schwer verletzt, wenn nicht sogar getötet wurde. Höchstwahrscheinlich handelt es sich bei dem Opfer um Carina Arendt. Und der Täter ist die Person, die auch die Fußabdrücke und Tropfspuren im Haus hinterlassen hat.«

      Schubert nickte nachdenklich, als wäre sie mit Anja einer Meinung, während Plattner wie immer grinste.

      »Womit haben wir es hier Ihrer Meinung nach also zu tun?«, fragte Schubert.

      Anja seufzte. »Mit letztendlicher Sicherheit lässt sich das natürlich momentan noch nicht sagen. Auf jeden Fall scheint zumindest eine gefährliche Körperverletzung vorzuliegen. So viel steht aufgrund der Blutspuren und der Löcher im Bademantel meiner Meinung nach schon einmal fest. Ob Carina Arendt, falls sie tatsächlich das Opfer war, den Angriff überlebt hat oder nicht, lässt sich hingegen nicht verlässlich feststellen. Im Augenblick können wir daher noch nicht zwangsläufig von einem Tötungsdelikt ausgehen. Unter Umständen können Ihnen in dieser Hinsicht ja die Blutspurenanalysten weiterhelfen, falls sie anhand der durch das Luminol sichtbar gewordenen Spuren feststellen können, wie viel Blut das Opfer in etwa verloren hat und ob dieser Blutverlust letztendlich tödlich war.«

      Anja verstummte einen Moment, während sie rekapitulierte, was sie darüber wusste. Eine durchschnittliche Frau besitzt ungefähr vier bis fünf Liter Blut. Verliert sie sehr schnell eine große Menge Blut, ist bereits ein Verlust von 20 Prozent, also etwa ein Liter kritisch.

      »Da das Opfer spurlos verschwunden ist«, fuhr Anja fort, »egal, ob es noch lebt oder nicht, liegt zumindest eindeutig ein Vermisstenfall vor.«

      »Also schlagen Sie uns vor, den Fall morgen früh zur weiteren Bearbeitung an die Vermisstenstelle weiterzuleiten?«, wollte Schubert wissen.

      Erneut zuckte Anja mit den Schultern. »Ohne das Opfer ist nicht einmal die Körperverletzung erwiesen. Aber da es definitiv verschwunden ist, liegt auf jeden Fall ein Vermisstenfall vor. Von daher ist es momentan naheliegend, den Fall an die Vermisstenstelle zu übergeben. Sie beide wissen natürlich selbst, was in so einem Fall zu tun ist. Zunächst einmal muss anhand einer DNA-Analyse des Blutes am Bademantel überprüft werden, ob es sich bei dem mutmaßlichen Opfer tatsächlich um die Bewohnerin des Hauses handelt. Außerdem müssen Nachforschungen in den Krankenhäusern der Umgebung vorgenommen und sämtliche Angehörige und Bekannte der Frau befragt werden. Vielleicht ist es ihr ja gelungen, schwer verletzt aus dem Haus zu fliehen, und sie wurde dann irgendwo aufgelesen und ins Krankenhaus gebracht. Oder sie konnte sich zu Freunden flüchten.«

      Schubert schüttelte den Kopf. »Das halte ich für unwahrscheinlich. Dann hätte sie sich ja vorher den Bademantel ausziehen und nackt weglaufen müssen.«

      »In ihrer Todesangst wäre ihr das vermutlich egal gewesen«, meinte Anja.

      »Allerdings hätte sie in dem Fall auf ihrem Weg durchs Haus Blutspuren hinterlassen müssen«, entgegnete die andere Frau. »Es wurden aber keine gefunden.«

      Anja nickte, denn das war ein schlagkräftiges Argument, an das sie nicht gedacht hatte. Trotzdem widersprach sie: »Vielleicht hat der Täter diese Spuren ebenfalls weggewischt.«

      »Und wieso hat er dann seine eigenen Fußspuren nicht beseitigt?«

      Anja hob ratlos die Schultern und ließ sie wieder sinken. Das war eine der Schlüsselfragen, die den Fall so mysteriös machten. »Ich weiß nicht, warum er die Blutspuren im Bad, aber nicht seine eigenen Fußspuren im Haus beseitigt hat. Und ich habe auch keine Ahnung, warum er die blutige Badematte mitgenommen, dafür aber den blutbefleckten Bademantel hiergelassen hat. Das alles ergibt für mich ebenfalls keinen Sinn. Aber unter Umständen hat es für den Täter durchaus eine Bedeutung.«

      Schubert seufzte und fuhr sich mit beiden Händen durch ihr Haar. Sie wirkte müde. »Danke für Ihre Einschätzung, Frau Kollegin«, sagte sie dann und schenkte Anja zum ersten Mal, seit sie sich kannten, wenigstens die vage Andeutung eines Lächelns. »So wie ich das sehe, werden wir diesen Fall heute Nacht ohnehin nicht aufklären können und am Ende unserer Schicht an die Kollegen von der Vermisstenabteilung übergeben. Da Sie allerdings den Tatort entdeckt haben und damit unmittelbar in den Fall involviert sind, würde ich sagen, dass Sie befangen sind.«

      »Frau Spangenberg hat momentan ohnehin Urlaub«, warf Plattner ein.

      Seine Kollegin nahm das mit einem Nicken zur Kenntnis. »Kennen Sie Carina Arendt eigentlich persönlich? Immerhin wohnen Sie in der Nähe.«

      Anja schüttelte den Kopf. »Ich bin der Frau meines Wissens nach nie begegnet. Allerdings haben wir, außer dass wir beide in unmittelbarer Nachbarschaft zum Waldfriedhof wohnen, noch mindestens eine weitere Gemeinsamkeit.«

      »Und welche ist das?«, fragte die KDD-Ermittlerin interessiert.

      »Wir besitzen beide eine schwarze Katze«, sagte Anja. »Es fiel mir bereits auf, sobald ich das Blatt mit dem Fotoausdruck aus dem Umschlag genommen hatte, denn auf den ersten Blick hätte es auch ein Foto von mir und Yin sein können.«

      »Yin?«, fragte Plattner.

      »So heißt mein Kater.«

      Melissa Schubert sah Anja erneut mit durchdringendem Blick an, als verdächtigte sie die andere Frau, ihr diese Information bislang bewusst vorenthalten zu haben.

      »Das ist mir eben erst wieder eingefallen«, rechtfertigte sich Anja, die sich eigentlich nicht rechtfertigen wollte und über sich selbst ärgerte, dass sie es dennoch tat.

      »Vielleicht haben Sie ja auch deshalb die Nachricht bekommen«, meinte Plattner. »Gewissermaßen als Warnung oder Drohung, dass Ihnen dasselbe blühen könnte.«

      Anja schüttelte den Kopf. Das wollte und konnte sie nicht glauben. Außerdem widersprach es ihrer begründeten Vermutung, dass ein alter Bekannter ihr die Nachricht geschickt hatte, um erneut eine mörderische Schnitzeljagd mit ihr zu veranstalten.

      Auch Melissa Schubert schien von diesem Gedanken nicht angetan zu sein. »Das hieße ja, dass wir es hier mit jemandem zu tun haben, der es auf Frauen mit schwarzen Katzen abgesehen hat.« Sie tat die Idee mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Konzentrieren wir uns stattdessen auf die Tatsachen. Und die besagen, dass wir ein schwer verletztes, möglicherweise totes Opfer haben, das spurlos verschwunden ist.« Sie richtete ihren Blick wieder auf Anja. »Können Sie uns sonst noch etwas sagen, das uns bei unseren Ermittlungen weiterhilft, Frau Spangenberg?«

      »Tut mir leid, aber ich habe Ihnen alles gesagt, was ich darüber weiß.«

      »Falls Ihnen doch noch etwas einfällt, rufen Sie bitte meinen Kollegen an. Er wird Ihnen seine Karte geben.«

      Plattner griff gehorsam in die Innentasche seines Sakkos und brachte eine Visitenkarte zum Vorschein. Er reichte sie Anja mit dem obligatorischen Grinsen, das sie nun schon allzu gut kannte und das