Eberhard Weidner

DER REGENMANN


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und Ehemann von der Decke baumelte.

      Die schrecklichen Vorstellungen ließen sie erschaudern. Dabei wusste sie nicht einmal, was schlimmer wäre. Von einem Killer mit einer tödlichen Waffe angegriffen zu werden, oder aber erneut einen von der Decke hängenden Leichnam zu finden, was ihr öfter widerfahren war, als ihr lieb war.

      Anja nahm zögerlich die Hand von der Türklinke. Sie wollte sich abwenden und unverrichteter Dinge weggehen. Schließlich ging sie das, was in diesem Haus geschehen war, nichts an. Wieso sollte sie sich also deswegen in Gefahr begeben oder sich einem Anblick aussetzen, der ihr zu denen, die sie ohnehin bereits hatte, allenfalls weitere Albträume bescheren würde?

      Doch dann besann sie sich darauf, dass es sie als Polizistin sehr wohl etwas anging. Und das nicht nur, weil jemand eine Nachricht mit dem Foto und dem Namen der Frau vor ihre Tür gelegt hatte und sie sich deshalb verantwortlich fühlte. Außerdem wollte sie in ihrer Suche nach dem Mann, der neben ihrem Vater und ihrem Mann zahlreiche andere Menschen umgebracht hatte, endlich einen entscheidenden Schritt vorankommen. Und das schien in diesem Moment in greifbare Nähe gerückt zu sein. Aus diesen Gründen musste sie diese Tür öffnen und nachsehen, auch wenn es bedeutete, dass sie einem Killer direkt in die Arme lief oder etwas Schreckliches fand. Und abgesehen davon war sie schlicht und ergreifend neugierig.

      Also legte sie ihre Hand wieder auf die Klinke. Sie leerte ihren Verstand, um keine weiteren Schreckensszenarien heraufzubeschwören, die in diesem Augenblick wenig hilfreich wären. Dann öffnete sie kurzentschlossen die Tür.

      Innerlich hatte sich Anja auf alles vorbereitet, doch was sie vorfand, war nur ein leeres Zimmer, das sich in einem einzigen Detail von dem Zustand unterschied, in dem sie es zuvor verlassen hatte: Die Terrassentür stand nämlich weit offen.

      Anja stieß die Luft aus, die sie angehalten hatte, und ging zur Terrassentür. Sie warf einen kurzen Blick nach draußen, konnte aber niemanden entdecken. Erneut hatte sie das Gefühl, dass jemand sie beobachtete. Da sie sich im hell erleuchteten Wohnzimmer wie auf dem Präsentierteller vorkam, kehrte sie eilig in den Flur zurück.

      Auf dem Weg zur Eingangstür kam sie an einem mannshohen Garderobenspiegel vorbei. Beiläufig warf sie einen Blick hinein. Doch was ihre Aufmerksamkeit erregte, war nicht ihr eigenes Spiegelbild, sondern das Foto, das in Augenhöhe auf der Spiegelfläche klebte.

      Anja blieb abrupt stehen. Sie erschauderte erneut, und ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Automatisch sah sie sich um, doch außer ihr war noch immer niemand im Flur. Sie richtete ihren Blick wieder auf das Foto am Spiegel und ging dann langsam näher heran, als widerstrebte es ihr, sich ihm zu nähern.

      Je mehr die Distanz zwischen ihr und dem Foto schrumpfte, desto mehr Einzelheiten konnte sie erkennen. Dabei hatte sie bereits beim ersten Blick gewusst, um was es sich handelte und was sie darauf sehen würde.

      Es handelte sich um die Aufnahme einer Polaroid-Sofortbildkamera. Anja hatte ein ähnliches Foto, das sich kaum von diesem hier unterschied, bei sich zu Hause. Der Widersacher hatte es für sie am Grab ihres Vaters auf dem Waldfriedhof hinterlegt, in einem ähnlichen Umschlag wie dem, den sie heute auf ihrer Türmatte gefunden hatte.

      Auch auf der Aufnahme am Spiegel war das Gesicht ihres Vaters zu sehen. Er hatte eine Schlinge um den Hals und blickte voller Angst und Panik in die Kamera. Es musste wenige Minuten, wenn nicht sogar Augenblicke vor seinem Tod aufgenommen worden sein.

      Da Anja das erste Polaroidfoto bereits so oft angesehen hatte, dass sie es in- und auswendig kannte, bemerkte sie sofort die Unterschiede, auch wenn diese nur geringfügig waren, da die Aufnahmen rasch hintereinander erfolgt sein mussten. Auf dem Foto am Spiegel hatte ihr Vater den Kopf ein wenig mehr nach links geneigt. Außerdem stand sein Mund offen, als hätte er etwas gesagt, seinen Mörder womöglich um Gnade angefleht.

      Anja, die nur noch wenige Zentimeter von dem Foto trennten, blieb stehen. Bei dem furchtbaren Anblick ihres Vaters unmittelbar vor seinem Tod traten ihr Tränen in die Augen. Für einen Moment schloss sie die Augen, worauf die Tränen über ihre Wangen liefen. Sie hob die Hand und wischte sie mit dem Ärmel weg.

      Doch dann rief sie sich wieder in Erinnerung, dass sie sich an einem potenziellen Tatort befand, was ihr dabei half, sich zusammenzureißen. Sie öffnete die Augen, atmete einmal tief durch und richtete den Blick wieder auf das Foto.

      Immerhin hatte sie jetzt die absolute Gewissheit, dass ihr alter Widersacher hinter der Nachricht vor ihrer Tür steckte und bei dieser Sache seine dreckigen Finger im Spiel hatte.

      Anja griff nach dem Foto, das mit einem Klebestreifen auf der Spiegeloberfläche befestigt war, und riss es ab. Sie drehte sich um und besah sich die Rückseite, doch dort standen im Gegensatz zum ersten Foto, das sie bekommen hatte, keine Worte. Ohne die Vorderseite noch einmal anzusehen, steckte sie es in die Innentasche ihrer Jacke. Ihr war bewusst, dass sie damit ein Beweisstück von einem Tatort entfernte. Doch ihr Entschluss, den zuständigen Ermittlern nichts von Jack zu erzählen, stand längst fest. Ihrer Meinung nach hatte er die Frau, sofern sie erwiesenermaßen tot war, ohnehin nicht eigenhändig umgebracht. Sollten sich die Kollegen daher ruhig auf die Suche nach dem wahren Täter machen, während sie weiterhin nach dem Mörder ihres Vaters suchte, der es wie immer vorzog, im Hintergrund die Fäden zu spinnen und im Verborgenen zu bleiben.

      Allerdings war es gut möglich, dass er bis soeben noch hier gewesen war. Höchstwahrscheinlich hatte er die Polaroidaufnahme an den Spiegel geklebt, als Anja oben im Badezimmer gewesen war, und war erst dann verschwunden.

      Erneut überlief sie ein eiskalter Schauder, als sie daran dachte, wie nah sie ihm unter Umständen gewesen war. Und doch war er ihr wie ein glitschiger Fisch ein weiteres Mal durch die Finger geflutscht.

      Anja seufzte, bevor sie sich schließlich abwandte und ihren Weg zur Haustür fortsetzte. Sie zog die Überzieher von den Schuhen, bevor sie das Haus verließ und nach draußen in den Vorgarten trat. Dort holte sie ihr Handy heraus und überlegte, wen sie anrufen sollte.

      Am liebsten hätte sie Kriminalhauptkommissar Peter Englmair von der Mordkommission informiert. Sie hatte bereits mehrere Male mit ihm zusammengearbeitet, und obwohl sie seinen Partner, Kriminaloberkommissar Anton Krieger nicht besonders leiden konnte, schätzte sie Englmair dafür umso mehr. Allerdings hatten die Mordermittler längst Feierabend und wären wahrscheinlich alles andere als erfreut, wenn Anja sie jetzt störte. Außerdem war es noch gar nicht erwiesen, dass es sich im vorliegenden Fall um einen Mord handelte. Und selbst wenn es so war, wurde der Fall möglicherweise nicht Englmair und Krieger, sondern einem anderen Ermittlerteam übertragen.

      Aus diesen Gründen beschritt Anja den offiziellen Weg und rief in der Einsatzzentrale in der Ettstraße an. Sie erklärte dem Beamten am anderen Ende der Leitung in knappen Worten, worum es ging, und bat ihn dann, ein Team des Kriminaldauerdienstes vorbeizuschicken.

      Sobald sie das Gespräch beendet und ihr Handy wieder weggesteckt hatte, sah sie sich um. Doch es war noch immer niemand zu sehen, weder auf der Straße noch in einem der Fenster der Nachbarhäuser. Abgesehen von den Straßenlaternen und den Lichtern in den Fenstern wirkte die Straße wie ausgestorben. Wenigstens hatte es inzwischen vollständig zu regnen aufgehört. Die Wolkendecke war aufgerissen, und durch den Riss, der an eine offene Wunde erinnerte, waren Sterne und der sichelförmige Mond zu sehen.

      Immerhin hatte Anja nicht das Gefühl, dass sie momentan beobachtet wurde. Dennoch kam sie sich hier vor dem Haus im Licht der Lampe über der Tür wie bereits im Wohnzimmer so vor, als säße sie auf dem Präsentierteller. Sie fröstelte unwillkürlich, allerdings nicht vor Kälte, und hob die Schultern. Dann zog sie sich hinter einen dichten, übermannshohen Strauch zurück, wo sie von der Straße und den benachbarten Häusern nicht sofort gesehen wurde, selbst aber alles beobachten konnte. Dort wartete sie ungeduldig auf die Kollegen vom Kriminaldauerdienst und knabberte an ihrer Unterlippe.

      12

      Es dauerte fünfzehn Minuten, die Anja mindestens doppelt so lang vorkamen, bis endlich drei Fahrzeuge am Ende der Straße um die Kurve kamen und langsam in ihre Richtung fuhren.

      Es handelte sich