Eberhard Weidner

DER REGENMANN


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vor der Terrassentür blieb sie stehen. Durch die Scheibe sah sie ins erleuchtete Innere und versuchte dabei, sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Es war allerdings keine Menschenseele zu sehen; und auch von der Katze fehlte jede Spur.

      Anja holte die Einweghandschuhe, die sie vorher benutzt hatte, um das DIN-A4-Blatt aus dem Umschlag zu holen, aus der Tasche des Kapuzenpullis und streifte sie über. Anschließend hob sie die rechte Hand und drückte mit den Fingern gegen den hölzernen Rand der Glastür. Sie rechnete mit Widerstand, weil sie glaubte, diese Tür wäre ebenfalls verschlossen. Doch die Terrassentür gab sofort nach und schwang geräuschlos nach innen.

      Erschrocken zuckte Anjas Hand zurück.

      Ihre düstere Vorahnung, die bislang allenfalls ein vages Gefühl drohenden Unheils gewesen war, verfestigte sich zu einer handfesten Befürchtung. Ein verlassenes Haus für sich allein genommen war noch nichts, wegen dem man sich übermäßige Sorgen machen musste. Ihr fielen auf die Schnelle ein Dutzend harmlose Erklärungen dafür ein. Aber ein verlassenes Haus, in dem Licht brannte und darüber hinaus die Terrassentür offen war, war etwas anderes.

      Anja wandte sich ab und sah sich aufmerksam um. Der Lichtschein aus dem Wohnzimmer reichte nur wenige Meter weit. Dahinter herrschte nahezu undurchdringliche Finsternis. Darüber hinaus boten mehrere Büsche am hinteren Ende des Grundstücks, unmittelbar vor dem Grenzzaun zum Nachbarn, zusätzliche Deckung.

      Irgendwo dort hinten musste sich jemand zwischen den Büschen verborgen gehalten haben, um die Bewohnerin des Hauses heimlich zu beobachten und das Foto von ihr und ihrer Katze zu machen.

      Seit Anja die Rückseite des Grundstücks erreicht hatte, fühlte sie sich nicht länger beobachtet. Aus diesem Grund war sie auch davon überzeugt, dass momentan niemand hinter den Büschen oder in der Finsternis jenseits des erleuchteten Bereichs lauerte.

      Beruhigt wandte sie sich wieder der Terrassentür zu, die einen Spaltbreit offenstand.

      Anja überlegte fieberhaft, was sie jetzt tun sollte. Sie hatte nach einem Vorwand gesucht, das Haus betreten zu können. Nur deshalb war sie nicht unverrichteter Dinge nach Hause zurückgekehrt, nachdem niemand auf ihr Klingeln reagiert hatte, sondern stattdessen um das Haus herumgegangen und hatte dabei durch jedes Fenster geblickt. Doch jetzt, wo sie einen triftigen Grund und die Möglichkeit dazu hatte, hineinzugelangen, ohne eine Tür aufbrechen oder ein Fenster einschlagen zu müssen, schreckte sie dennoch davor zurück.

      Was wenn die Frau tot war und sie im Haus ihre Leiche fand? Sie erschauderte bereits bei dem Gedanken daran, denn sobald sie sich einem Leichnam auch nur näherte, bekam Anja Herzrasen, Atemnot, Schwindelgefühle und heftige Schweißausbrüche. Sie machte daher nach Möglichkeit einen großen Bogen um jede Leiche. Außer natürlich, es ließ sich partout nicht vermeiden, weil ihr Job es von ihr verlangte oder sie, wie es in der Vergangenheit leider viel zu oft der Fall gewesen war, zufällig darüber stolperte.

      Sie dachte daher für einen Augenblick ernsthaft darüber nach, eine Funkstreife zu Hilfe zu rufen, damit die uniformierten Kollegen an ihrer Stelle das Haus durchsuchten. Schließlich war sie für diesen Fall – sofern es überhaupt ein Fall war – gar nicht zuständig, momentan nicht einmal im Dienst und hatte außerdem Urlaub.

      Allerdings wollte sie hinterher auch nicht wie eine Idiotin dastehen, wenn es für all das hier eine harmlose Erklärung gab. Denn natürlich bestand noch immer die Möglichkeit, dass die Bewohnerin das Haus verlassen und einfach nur vergessen hatte, das Licht im Wohnzimmer auszuschalten und die Terrassentür zu verschließen. Vielleicht nahm sie auch gerade ein Bad und hatte deshalb nicht an die Tür kommen können. Oder sie schlief tief und fest, sodass sie nichts gehört hatte.

      Deshalb widerstrebte es Anja, die Sache an die große Glocke zu hängen. Vielleicht war das alles letzten Endes doch nur ein makabrer Scherz. Aus diesem Grund wollte sie zunächst selbst nach dem Rechten sehen. Sollte sich ihre düstere Vorahnung erfüllen und es sich hier tatsächlich um einen Vermisstenfall oder unter Umständen sogar um einen Mordfall handeln, konnte sie die Kollegen immer noch informieren. Und falls sie bei der Durchsuchung des Hauses auf die Leiche der Bewohnerin stieß, war sie schließlich nicht gezwungen, sich ihr mehr als unbedingt notwendig zu nähern.

      Außerdem, das spürte Anja in diesem Moment deutlich, musste sie das Haus unbedingt betreten, egal, ob sich darin eine Leiche befand oder nicht. Und es war letzten Endes auch gleichgültig, ob jemand ein perfides Spielchen mit ihr trieb, indem er sie mithilfe der Nachricht vor ihrer Tür manipuliert und hierhergelockt hatte, oder die Sache nur ein makabrer Scherz war. Sie musste sich selbst davon überzeugen und mit eigenen Augen sehen, was hier vor sich ging. Schließlich war der Umschlag, der sie hierher geführt hatte, vor ihrer Haustür abgelegt worden. Außerdem gab es unzweifelhaft Gemeinsamkeiten zwischen ihr und der Frau auf dem Foto, und das konnte kein bloßer Zufall sein. Schon aus diesem Grund nahm sie die Sache persönlich. Im Übrigen war sie es der Bewohnerin des Hauses schuldig, dass sie der Geschichte auf den Grund ging und selbst nach dem Rechten sah.

      Anja wurde noch immer von widerstreitenden Gefühlen erfüllt. Dabei beschlich sie vor allem die Angst, bei der Durchsuchung des Hauses über die Leiche der Bewohnerin zu stolpern. Allerdings hatte sie nicht vor, sich vor dieser Angst beherrschen zu lassen, sondern würde sich ihr stellen.

      Nachdem sie kurz darüber nachgedacht hatte und rasch zu einer Entscheidung gelangt war, atmete Anja tief durch.

      Wenn sie wissen wollte, was hinter der mysteriösen Nachricht steckte, die sie erhalten hatte, und warum das Haus scheinbar verlassen war, obwohl Licht brannte – und das wollte sie unbedingt! –, würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als das Haus zu betreten.

      10

      Anja griff erneut in die Tasche ihres Kapuzenpullis und holte zwei Überschuhe aus Polypropylen heraus, die sie nacheinander über ihre Schuhe streifte. Ihr Eindringen in das scheinbar verlassene Haus war bereits grenzwertig, da wollte sie nicht auch noch die Arbeit der Kriminaltechnik sabotieren, falls an diesem Ort eine Straftat begangen worden war.

      Sie schob die Terrassentür weit genug auf, sodass sie bequem durch die Öffnung schlüpfen konnte, und betrat dann das stille Haus.

      Schon von draußen hatte sie kleine Pfützen schmutzigen Wassers auf dem Parkettboden entdeckt, die in einer direkten Linie von der Terrassentür zur Zimmertür führten. Scheinbar hatte vor ihr jemand anderes, vermutlich während des Regens, mit nassen Schuhen und feuchter Kleidung, von der das Regenwasser tropfte, das Haus durch die Terrassentür betreten und dabei diese Spuren hinterlassen. Sie bemühte sich, nicht hineinzutreten, und hielt sich links davon. Als sie die Terrassentür schließen wollte, stellte sie fest, dass das nicht möglich war. Sie warf daraufhin einen genaueren Blick auf den Schließmechanismus und sah, dass die Tür aufgehebelt und die Verriegelung zerstört worden waren.

      Allmählich verdichteten sich die Hinweise, dass an diesem Ort etwas nicht in Ordnung war. Doch da Anja jetzt im Haus war, wollte sie sich wenigstens kurz umsehen, bevor sie die zuständigen Kollegen informierte.

      Sie ging neben den nassen Fußspuren in die Hocke und nahm sie genauer in Augenschein. In der Nähe der Tür waren die Wasserpfützen noch am größten und deutlichsten, wurden dann aber stetig kleiner, je weiter sie sich davon entfernten. Teilweise waren sie auch bereits getrocknet und hatten nur eine braune Schmutzschicht auf dem Parkett hinterlassen. Hier und da war sogar das Profil eines Stiefels erkennbar. Wer immer vor ihr auf diesem Weg ins Haus gekommen war, hatte sich nicht die geringste Mühe gemacht, die Spuren seines Eindringens zu verwischen. Zum Vergleich stellte Anja ihren rechten Fuß direkt neben einen besonders deutlich erkennbaren Abdruck und stellte fest, dass der Stiefel, der diese Spur hinterlassen hatte, ein paar Nummern größer als ihr Turnschuh gewesen sein musste.

      Schließlich richtete sie sich wieder auf und sah sich im Wohnzimmer um, das mit hochwertigem Mobiliar geschmackvoll eingerichtet war. Es war sauber und aufgeräumt. Nirgends herrschte die geringste Unordnung, und alles war scheinbar an seinem Platz.

      Es gehörte zu Anjas täglicher Routine, die Wohnungen und Häuser vermisster Personen zu durchsuchen.