Eberhard Weidner

DER REGENMANN


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vorhatte, für längere Zeit wegzugehen. Wenn, dann hatte sie das Haus nur für kurze Zeit verlassen und vorgehabt, bald wieder zurückzukommen.

      Falls sie das Haus überhaupt verlassen hat!

      Anja rief sich in Erinnerung, dass dies hier – noch? – kein Vermisstenfall war. Aus diesem Grund war sie auch nicht als Ermittlerin der Vermisstenstelle in offiziellem Auftrag hier. Sie war nur hier, um sich einen raschen Überblick über die Situation zu verschaffen und dann die zuständigen Stellen einzuschalten, sollte das notwendig sein. Daher konnte sie sich auch nicht so viel Zeit lassen wie gewöhnlich, wenn sie die Wohnungen vermisster Personen durchsuchte, sondern wollte endlich einen Zahn zulegen.

      Als sie das Wohnzimmer durchquerte und sich dabei weiterhin neben den nassen Fußspuren hielt, entdeckte sie an der Wand mehrere gerahmte Fotografien. Interessiert ging sie hin und sah sich die Aufnahmen aus der Nähe an. Auf fast allen war die Frau zu sehen, die sich auch auf dem ausgedruckten Foto befand, das Anja bekommen hatte.

      Carina Arendt, rief sie sich den Namen in Erinnerung.

      Diese letzte Bestätigung hätte sie nicht mehr gebraucht. Dennoch hatte Anja damit einen weiteren Beweis, dass die Frau aus der geheimnisvollen Vermisstenmeldung, die sie auf ihrer Fußmatte gefunden hatte, tatsächlich die Bewohnerin dieses scheinbar verlassenen Hauses war.

      Auf den Fotografien an der Wand war die Frau teilweise deutlich jünger als auf dem, das Anja zugespielt worden war. Teilweise hatte sie darauf auch längere Haare oder eine andere Frisur. Auf mehreren Aufnahmen war auch ein dunkelhaariger Mann zu sehen, zu dem die Frau eine innige Beziehung zu haben schien, denn sie hielten sich im Arm oder schmiegten sich aneinander. Entweder handelte es sich um den Ehemann, den Lebenspartner oder einen Bruder der Frau. Auch die schwarze Katze war auf zwei Fotos verewigt worden.

      Neben den Fotografien hingen zwei gerahmte Urkunden. Bei einer handelte es sich um eine Diplomurkunde der Fachhochschule München, in der Frau Carina Arendt aufgrund der im Studiengang Architektur erfolgreich abgelegten Abschlussprüfung der akademische Grad »Diplom-Ingenieur (FH)« verliehen wurde. Laut der anderen Urkunde war Frau Dipl.-Ing. (FH) Carina Arendt als ordentliches Mitglied in den Verband deutscher Architekten (VDA) aufgenommen worden. Als sich Anja die Geburtsdaten auf den beiden Dokumenten ansah, wurde ihr klar, dass sich die Ähnlichkeit zwischen ihr selbst und Carina Arendt nicht auf das Geburtsdatum erstreckte, denn die andere Frau war mehr als zehn Jahre älter als sie.

      Schließlich wandte Anja sich ab und ging, eingedenk ihres Vorhabens, sich zu beeilen, rasch zur Tür. Sie war geschlossen. Aus diesem Grund hatte Anja, als sie durch die anderen Fenster hereingeschaut hatte, auch nicht sehen können, dass im Wohnzimmer Licht brannte.

      Sie öffnete die Tür, trat jedoch nicht sofort hindurch, sondern horchte erst einmal, ob sie aus den anderen Teilen des Hauses etwas hörte. Doch es blieb weiterhin gespenstisch still.

      Totenstill?

      Anja ignorierte ihre innere Stimme erneut, denn ein solcher Gedanke war in einer derartigen Situation alles andere als hilfreich.

      Da sie nicht im Dunkeln herumstolpern wollte und außerdem darauf achten musste, keine Fußspuren zu verwischen, griff sie durch den Türrahmen nach draußen und tastete an der Wand nach dem Lichtschalter.

      Ihr kam der erschreckende Gedanke, dass urplötzlich etwas nach ihrer Hand greifen und sie nach draußen zerren könnte. Unter Umständen sogar derjenige, der die nassen Spuren auf dem Parkett hinterlassen hatte, schließlich hatte sie keine Gewissheit, ob er das Haus schon wieder verlassen hatte oder noch immer hier war.

      Anja spürte, wie es ihr bei diesen Überlegungen eiskalt den Rücken hinunterlief und sich ihre Nackenhärchen aufstellten. Sie fragte sich unwillkürlich, warum sie völlig unbewaffnet hierhergekommen war. Ihre Dienstpistole befand sich in der verschlossenen Schreibtischschublade ihrer Dienststelle, und ansonsten besaß sie keine Schusswaffe. Allerdings hätte sie sich in diesem Augenblick auch mit einem Küchenmesser, einem kleinen improvisierten Knüppel oder sogar ihrem Regenschirm mit der Metallspitze zufriedengegeben.

      Dann ertasteten ihre Finger endlich den Lichtschalter und betätigten ihn, worauf im dunklen Flur augenblicklich das Licht anging.

      Anja zog die Hand zurück und sah sich um. Der Hausflur lag, soweit sie ihn überblicken konnte, genauso verlassen vor ihr wie das Wohnzimmer. Sie stieg mit einem großen Schritt über die Fußspuren und Wasserlachen hinweg, die direkt zur Treppe nach oben führten.

      Sie überlegte, ob sie weiterhin den Spuren folgen oder sich erst einmal in den anderen Räumen des Erdgeschosses umsehen sollte. Allerdings sah sie keinen Sinn darin, das Haus systematisch abzusuchen und damit Zeit zu vergeuden. Wenn sie den Wasserpfützen auf dem Boden folgte, würden diese sie vermutlich ohne Umwege an ihr Ziel führen. Und am Ende der Spuren müsste sie unweigerlich das finden, wonach sie suchte.

      Anja erschauderte.

      Erneut kam ihr der erschreckende Gedanke, dass die Person mit den nassen Schuhen noch immer im Haus sein könnte. Und sie war leichtsinnigerweise völlig unbewaffnet hierhergekommen. Sie dachte darüber nach, ob sie erst noch einen Abstecher in die Küche machen und sich dort ein scharfes Messer schnappen sollte. Dann wäre sie wenigstens nicht völlig wehrlos und würde sich nicht so ausgeliefert fühlen.

      Doch damit würde sie unter Umständen einen Tatort verändern, was eine Todsünde für jeden Polizisten war. Und falls hier eine Straftat verübt worden war, dann hatte sie als erste Polizeibeamtin vor Ort die Pflicht, Maßnahmen zur Tatortsicherung einzuleiten, die verhinderten, dass der Tatort verändert wurde. Doch darum konnte sie sich später kümmern. Erst musste sie abklären, ob es sich hier überhaupt um einen Tatort handelte. Anschließend konnte sie immer noch die zuständigen Kollegen informieren und notwendige Sicherungsmaßnahmen durchführen.

      Aufgrund dieser Überlegungen verzichtete Anja darauf, sich zu bewaffnen, und folgte stattdessen den nassen Spuren zur Treppe. Nachdem sie im Treppenaufgang ebenfalls Licht gemacht hatte, warf sie einen vorsichtigen Blick nach oben; es war jedoch niemand zu sehen. Sie versuchte, wie sie es oft tat, ein Gespür für die Atmosphäre des Hauses zu entwickeln. Oftmals konnte sie spüren, ob eine Wohnung oder ein Haus verlassen war oder ob sich außer ihr noch jemand darin aufhielt. Es hätte sie beruhigt, wenn ihr das hier und jetzt ebenfalls gelungen wäre und sie gewusst hätte, dass sie allein im Haus war. Doch leider gelang es ihr nicht, sich in die Atmosphäre des Hauses einzufühlen. Sie zuckte mit den Schultern. Dann musste sie sich wohl oder übel überraschen lassen.

      Als sie die Stufen nach oben stieg, hielt sie den Blick auf die Spuren gerichtet und bewegte sich am äußersten rechten Rand. Die Schuhüberzieher knisterten leise, und ihr eigener Herzschlag dröhnte ihr überlaut in den Ohren. Doch ansonsten war es im ganzen Haus mucksmäuschenstill.

      Nachdem sie im Obergeschoss angekommen war, hielt sie erst einmal inne. Sie schaltete das Licht an und sah sich um. Sämtliche Türen waren geschlossen. Dunkle Flecken auf dem Teppichboden führten von der Treppe zu einer der Türen.

      Anjas Erregung wuchs, denn sobald sie diese Tür öffnete, würde sie hoffentlich endlich erfahren, was hier los war. Ihr Herz klopfte schneller. Gleichzeitig begann sie zu schwitzen. Ihre größte Befürchtung bestand darin, hinter der Tür die Leiche der Bewohnerin zu finden. Deshalb versuchte sie, sich auf diesen Anblick vorzubereiten und dagegen zu wappnen. Sie wusste allerdings mit absoluter Sicherheit, dass der Fund eines Leichnams sie dennoch schockieren würde, gleichgültig, ob sie sich innerlich darauf vorbereitete oder nicht.

      Nachdem sie noch einmal tief eingeatmet und die Luft wieder ausgestoßen hatte, marschierte sie neben den Feuchtigkeitsflecken durch den Flur. Unmittelbar vor der Tür, die ihr Ziel war, befand sich ein besonders großflächiger dunkler Fleck auf dem Teppich, als hätte die Person, die dafür verantwortlich war, hier eine Weile gestanden und gewartet.

      Worauf?

      Anja konnte sich eine Reihe von Antworten auf diese Frage vorstellen. Allerdings würde sie die Wahrheit vermutlich nie erfahren. Von daher war es müßig, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, sodass sie es bleiben ließ.

      Sie horchte aufmerksam, doch