Eberhard Weidner

DER REGENMANN


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Straßenlaternen sah Anja, dass zwei Personen darin saßen, ein Mann und eine Frau. Sie vermutete, dass es sich dabei um das Team des Kriminaldauerdienstes handelte. Dahinter kam ein Einsatzfahrzeug der Kriminaltechnik, ein dunkelgrauer Kleintransporter mit zwei Männern auf den Vordersitzen. Das Ende des Konvois bildete ein dunkelblauer Audi, in dem ebenfalls ein Mann und eine Frau saßen, die vermutlich ebenfalls Kriminaltechniker waren.

      Als die Fahrzeugkolonne unmittelbar vor dem Haus am Straßenrand zum Stillstand kam, trat Anja hinter dem Strauch hervor und schob die Kapuze vom Kopf. Sofort ging die automatische Beleuchtung über der Eingangstür wieder an und tauchte sie in helles Licht.

      Fahrzeugtüren wurden geöffnet, als alle Neuankömmlinge nahezu gleichzeitig ausstiegen. Die Insassen des Transporters und des Audi versammelten sich vor der offenen Seitentür des Einsatzfahrzeuges der Kriminaltechnik. Sie schlüpften in weiße Tatort-Schutzanzüge und suchten dann ihre Ausrüstung zusammen.

      Die Frau und der Mann aus dem BMW hingegen betraten sofort das Grundstück und kamen auf Anja zu. Während sie näherkamen, hatte Anja Gelegenheit, sie unauffällig zu mustern.

      Sie kannte die beiden nicht. Doch da bei der Münchner Polizei über 6.000 Leute arbeiteten, war das nicht ungewöhnlich. Außerdem war der Kriminaldauerdienst mit seinen 98 Mitarbeitern das größte Kriminalkommissariat in der Landeshauptstadt.

      Die Frau war schlank und auffallend groß; Anja schätzte sie auf mindestens ein Meter neunzig. Ihr schulterlanges, karamellfarbenes Haar war in der Mitte gescheitelt. Sie hatte ein langes, schmales Gesicht mit kantigen Zügen und trug eine Brille aus bronzefarbenem Kunststoff mit rechteckigen Gläsern. Intelligente türkisfarbene Augen sahen Anja durch die Brillengläser hindurch abschätzend an. Sie trug knöchelhohe braune Schnürboots, dunkelblaue Jeans, ein weißes Shirt mit Knopfleiste und eine cognacfarbene Jacke aus Nappaleder mit Stehkragen. Anja mutmaßte, dass die Frau allenfalls zwei oder drei Jahre älter als sie selbst war.

      Der Mann, der neben ihr ging, war mindestens fünf Jahre jünger als seine Kollegin, eine Handbreit kleiner und ebenfalls schlank. Er hatte kurzgeschnittenes rotbraunes Haar, einen Vollbart und blassgrüne Augen. Sein Gesicht erinnerte Anja ein bisschen an den irischen Schauspieler Michael Fassbender. Er trug dunkelblaue Sneaker und eine anthrazitfarbene Cargohose, dazu ein hellgraues Sweatshirt und ein schwarzes Baumwollsakko.

      Der Mann lächelte breit, als sie Anja erreichten, während die Frau finster dreinblickte. Anja hatte unwillkürlich das Gefühl, die beiden wollten von Anfang an »Guter Cop, böser Cop« mit ihr spielen, allerdings mit vertauschten Rollen.

      »Sie müssen die Kollegin von der Vermisstenstelle sein«, ergriff die Frau das Wort und machte damit sofort deutlich, wer von den beiden das Sagen hatte. Gleichzeitig stieß sie ihre rechte Hand in Anjas Richtung, als wollte sie diese damit durchbohren. »Ich bin Melissa Schubert vom KDD. Und das ist mein Kollege Andreas Plattner.«

      Anja ergriff die dargebotene Hand und nannte ihren Namen. Die andere Frau hatte einen kräftigen Händedruck, doch Anja ließ sich davon nicht einschüchtern und erwiderte den Druck. Sie schenkte Melissa Schubert ein freundliches Lächeln, das allerdings nicht erwidert wurde. Dafür war Andreas Krämers Miene umso herzlicher, als sie sich die Hände schüttelten, als wollte er die Ernsthaftigkeit seiner Kollegin mit übertriebener Freundlichkeit ausgleichen.

      »Was haben wir hier?«, kam die Ermittlerin des KDD anschließend ohne Umschweife zur Sache und sah Anja mit nachdenklich gerunzelter Stirn und finsterem Gesichtsausdruck fragend an.

      Anja setzte die beiden in wenigen Worten über die Art und den Inhalt der Nachricht in Kenntnis, die sie nach dem Klopfen an ihrer Tür auf der Fußmatte gefunden hatte. Dann berichtete sie stichpunktartig, wie sie hierhergekommen war, um die Angelegenheit zu überprüfen, dabei die Terrassentür unverschlossen vorgefunden und das Haus betreten hatte. Zum Schluss kam sie auf das zu sprechen, was sie im Badezimmer entdeckt hatte. Von dem Geräusch der sich schließenden Tür und dem Polaroidfoto am Spiegel erzählte sie allerdings nichts.

      Kurz bevor sie ihren Bericht beendete, gesellten sich die vier weißgekleideten Kriminaltechniker zu ihnen, die Anja zwar nicht namentlich, aber wenigstens vom Sehen bekannt waren. Alle trugen einen Mundschutz und große Koffer mit ihrer Ausrüstung in den behandschuhten Händen. Anja nickte ihnen zur Begrüßung zu.

      Melissa Schubert wandte sich an den Leiter des Teams, einen älteren, leicht übergewichtigen Mann. »Wir wissen zwar noch nicht, ob es sich hier tatsächlich um den Tatort eines Gewaltverbrechens handelt, können es aber momentan auch nicht komplett ausschließen«, erklärte sie ihm. »Der mögliche Tatort befindet sich im ersten Stock. Es handelt sich um das Badezimmer. Ein paar sichtbare Blutspritzer befinden sich am Spiegel. Außerdem hängt ein durchlöcherter und blutiger Bademantel am Haken. Der etwaige Täter ist vermutlich während des Regens durch die Terrassentür gewaltsam ins Haus eingedrungen und direkt zum Tatort gegangen. Dabei hat er im Haus deutlich sichtbare Fuß- und Tropfspuren hinterlassen. Die Leiche wurde entfernt und der Tatort gründlich gereinigt. Unter Umständen befindet sich der Leichnam allerdings noch im Haus. Außerdem scheint es eine Katze zu geben.«

      Der Teamleiter der Kriminaltechniker nickte. Er benötigte keine weiteren Anweisungen, sondern wusste selbst am besten, was er und sein Team in einem solchen Fall zu tun hatten. Ohne ein Wort zu verlieren, setzte sich der kleine Trupp in Bewegung. Sie wirkten dabei in ihren partikeldichten Overalls mit den über den Kopf gezogenen Kapuzen wie eine Horde Gespenster. Vor der Tür blieben sie stehen. Dann zog sich einer nach dem anderen Überschuhe an, um keine Verunreinigungen an einen potenziellen Tatort zu tragen, bevor er das Haus betrat.

      Sobald die Kriminaltechniker außer Sicht waren, wandte sich Melissa Schubert wieder an Anja. »Haben Sie die Nachricht, von der Sie gesprochen haben, bei sich?«

      Anja schüttelte den Kopf. »Sie steckt in einer Klarsichthülle bei mir zu Hause. Ich wollte sie nicht mitnehmen, sondern erst einmal selbst nach dem Rechten sehen, bevor ich die Pferde völlig grundlos scheu mache. Und nachdem ich in der Einsatzzentrale angerufen hatte, konnte ich nicht nach Hause gehen und sie holen, weil ich den Tatort nicht unbeaufsichtigt lassen wollte. Aber ich kann sie jederzeit holen, wenn Sie wollen.« Anja merkte, dass sie sich unwillkürlich rechtfertigte, und ärgerte sich darüber. Sie ließ sich von ihrem Ärger aber nichts anmerken.

      »Das können Sie später erledigen, wenn mein Kollege und ich uns den Tatort ansehen, sobald die Kriminaltechniker uns grünes Licht geben.«

      Anja nickte und sah Plattner an, der noch keinen einzigen Ton von sich gegeben hatte. Er grinste, als fände er die Situation unglaublich witzig.

      »Warum haben Sie nicht gleich die Einsatzzentrale informiert, sobald sie die aufgehebelte Terrassentür bemerkt hatten, und stattdessen das Haus betreten?«, fragte Melissa Schubert. »Ich hoffe bloß, Sie haben dabei keine Spuren verfälscht, Kollegin Spangenberg.«

      »Keine Angst, Kollegin Schubert«, entgegnete Anja und bemühte sich, dabei nicht allzu bissig zu klingen. »Ich bin zwar nur von der Vermisstenstelle, aber trotzdem nicht zum ersten Mal an einem Tatort. Ich habe gut aufgepasst. Außerdem hatte ich Handschuhe und Überschuhe dabei.« Zum Beweis ihrer Worte zog sie die Überzieher aus der Tasche ihres Kapuzenpullis.

      Melissa Schubert schien das nicht zu besänftigen. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«

      Anja seufzte. Sie spürte, dass sie allmählich wütend wurde. Die Ermittlerin des KDD behandelte sie weniger wie eine Kollegin, sondern eher wie eine Verdächtige. Allerdings würde es nichts bringen, wenn sie ihre Wut offen zeigte und sich unkooperativ verhielt. Schließlich zogen sie im Grunde genommen alle an einem Strang. Außerdem konnte sie sogar nachvollziehen, dass die andere Frau misstrauisch war. Sie kannte Anja nicht, und die Umstände, die Anja hierher und zur Entdeckung eines möglichen Mordes geführt hatten, waren zumindest merkwürdig, wenn nicht sogar verdächtig. Deshalb unterdrückte sie ihren aufflammenden Zorn, auch wenn es ihr schwerfiel, und bemühte sich, gelassen zu bleiben.

      »Ich wusste nicht, ob das Ganze nicht doch nur ein makabrer Scherz war«, sagte sie. »Deshalb hegte ich die Befürchtung, es könnte sich als falscher Alarm herausstellen, wenn ich in der Einsatzzentrale anrufe, bevor ich das Haus