Eberhard Weidner

DER REGENMANN


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schüttelte den Kopf. Der Gedanke, der sich mit einer Hartnäckigkeit in ihrem Bewusstsein festgesetzt hatte, als wollte er dort auf Dauer einziehen, war in diesem Augenblick absolut nicht hilfreich. Er ließ in ihrem Verstand eine Serie von Bildern der Frau von den Fotos entstehen. Auf jeder einzelnen dieser Momentaufnahmen war sie nicht mehr am Leben, und jede zeigte sie als Opfer einer anderen Todesart, jede furchtbarer als die vorherige.

      Sie verdrängte die unerwünschten Überlegungen, die sie dazu veranlassten, unschlüssig an Ort und Stelle zu verharren, und sie letztendlich davon abhielten, endlich die Tür zu öffnen.

      Anja gab sich daher innerlich einen Ruck und legte ihre Hand auf die Türklinke.

      Die an sich alltägliche Bewegung erinnerte sie an andere Gelegenheiten, bei denen sie bestimmte Türen geöffnet hatte. Und es erinnerte sie vor allem daran, was sie jedes Mal dahinter entdeckt hatte.

      An die Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters in ihrem ehemaligen Elternhaus, hinter der sie seine erhängte Leiche gefunden hatte.

      An die Tür zum Arbeitszimmer ihres Mannes Fabian, hinter der sie auch ihn erhängt aufgefunden hatte.

      An die Schlafzimmertür ihres Ex-Freundes Konstantin Steinhauser, hinter der sie ihn in flagranti mit einer anderen Frau erwischt hatte.

      An die Küchentür in einem alten, heruntergekommenen Bauernhof, hinter der sie ihren Stiefbruder Sebastian gefesselt auf einem Stuhl entdeckt hatte.

      Erneut an die Tür zum ehemaligen Arbeitszimmer ihres Vaters, hinter der sie auf ihre Cousine Judith gestoßen war, die sich in der Gewalt ihres Bruders befunden hatte, bei dem es sich um einen Serienkiller gehandelt hatte.

      Es gab noch zahlreiche andere Türen und Ereignisse, doch die Eindrücke wechselten sich immer rascher ab, sodass Anja komplett den Überblick verlor und nicht mehr mitkam.

      Also drückte sie rasch die Klinke nach unten, wodurch die Erinnerungsflut abrupt gestoppt wurde. Dann schob sie entschlossen die Tür auf und betrat den dahinterliegenden Raum.

      11

      Es handelte sich, wie Anja im Lichtschein, der vom Flur hereinfiel, rasch feststellte, um ein Badezimmer.

      Sie griff nach dem Schalter und machte Licht. Dann stieß sie vor Erleichterung die angehaltene Luft aus, denn nirgends war eine Leiche zu sehen.

      Obwohl sich ihre düstere Vorahnung somit nicht erfüllt hatte, worüber sie froh und zutiefst dankbar war, sah sich Anja dennoch gewissenhaft um. Schließlich war das Badezimmer offensichtlich das Ziel der Person gewesen, die die Spuren im Haus hinterlassen hatte. Es gab jedoch im ganzen Raum keinen einzigen Ort, der groß genug war, um eine Leiche zu verstecken.

      Sowohl die Duschkabine als auch die Wanne waren leer und ebenso makellos sauber wie der Rest des Badezimmers. Und der Behälter für Schmutzwäsche in einer Ecke sowie der schmale Badezimmerschrank waren beide zu klein, um einen menschlichen Körper vollständig und in einem Stück aufzunehmen. Gleichwohl öffnete Anja sie und warf der Vollständigkeit halber einen kurzen Blick hinein, der ihre Schlussfolgerungen bestätigte.

      Keine Leiche!

      Anja hätte sich jetzt schulterzuckend abwenden und das Badezimmer verlassen können, um den Rest des Hauses zu durchsuchen; aber das tat sie nicht, denn irgendetwas in diesem Raum irritierte sie. Sie wusste allerdings nicht, was es war, das sie dermaßen beunruhigte, dass sie blieb.

      Als sie sämtliche Sinneswahrnehmungen, die sie empfing, daraufhin einer genaueren Überprüfung unterzog, fiel ihr auf, dass es hier drin so warm und feucht war, als hätte erst vor Kurzem jemand ein Bad oder eine Dusche genommen. Außerdem roch es intensiv, allerdings nicht nach Shampoo, Duschgel oder Parfüm, sondern nach irgendeinem Putzmittel.

      Bei diesem Gedanken fiel ihr erneut die makellose Sauberkeit auf. Sogar die Bodenfliesen sahen aus, als wären sie frisch gewischt worden. Außerdem fehlten hier drin eindeutig die nassen Fußspuren, die Anja erst hierher geführt hatten. Es sah aus, als hätte die Person, die die Feuchtigkeitsspuren im Haus hinterlassen hatte, das Badezimmer gar nicht betreten. Doch das erschien ihr unwahrscheinlich und unlogisch.

      Als Anja nachdenklich den Fußboden betrachtete, fiel ihr zudem auf, dass ein flauschiger Badezimmerteppich fehlte. Es war zwar nicht ungewöhnlich, dass es keinen gab, doch in der Mehrzahl der Badezimmer, die Anja bislang betreten hatte – und aufgrund ihres Jobs waren das einige –, war einer vorhanden gewesen. Deshalb kam ihr das Fehlen im Zusammenhang mit den anderen Dingen, die ihr aufgefallen waren, zumindest bemerkenswert vor.

      Sie ging zum Waschbecken, das so blitzblank wie alles andere in diesem Raum aussah, und betrachtete die Gegenstände auf der Ablage unterhalb des Spiegels, die wie Soldaten ordentlich in Reih und Glied nebeneinanderstanden. Kopfschüttelnd warf sie einen kurzen Blick in den Spiegel und betrachtete sich selbst. In ihrer dunklen Kleidung und mit der Kapuze über dem Kopf wirkte sie wie ein Fremdkörper in diesem Bad, das eher aussah, als gehörte es zu einem Hotelzimmer der gehobenen Klasse und wäre bereit für den nächsten Gast.

      Doch dann bemerkte sie aus den Augenwinkeln doch noch einen Makel, der sie trotz seiner geringen Größe irritierte. Als sie ihren Blick darauf konzentrierte und unwillkürlich näher heranging, entdeckte sie in der linken oberen Ecke der rechteckigen Spiegelfläche einen länglichen ovalen, an den Rädern ausgefransten roten Fleck, der nur wenige Millimeter groß war. Anja hatte genügend Blutspritzer gesehen, um sofort zu erkennen, dass es sich auch hier um einen solchen handelte. Außerdem entdeckte sie in seiner unmittelbaren Nachbarschaft sogleich zwei weitere Exemplare, die dieselbe Form und Größe aufwiesen.

      Sie suchte nach weiteren Flecken, konnte jedoch keine entdecken. Im Gegenteil: Ansonsten sah alles so aus, als wäre es gründlich gesäubert worden. Bis auf diese drei kleinen Spritzer, die man leicht übersehen konnte.

      Endlich wusste sie, was sie die ganze Zeit über an diesem Ort irritiert hatte. Es war diese geradezu hygienische, steril wirkende Sauberkeit hier drin, obwohl vor Kurzem jemand geduscht oder gebadet zu haben schien.

      Doch zusammen mit den drei kleinen Blutspritzern ergab die makellose Sauberkeit plötzlich ein anderes Bild. Das Badezimmer war offenbar erst kürzlich gründlich gereinigt worden. Und wie es schien, war es dabei offensichtlich darum gegangen, Blutspuren zu beseitigen.

      Wie magnetisch angezogen fiel Anjas Blick wieder auf die drei Blutflecken, die dem Putzlappen entgangen waren. Sie betrachtete sich die länglichen ovoiden Spitzer, die parallel zueinander von rechts unten nach links oben verliefen. Sie waren an ihrem unteren Ende halbrund und verfügten an ihrem anderen Ende über sogenannte bärentatzenartige Ausziehungen. Anja wusste, dass mithilfe von Blutspuren der Hergang einer Tat rekonstruiert werden konnte. So konnten Blutspurenanalytiker beispielsweise anhand der Form und der Größe eines Blutspritzers dessen Einschlagwinkel berechnen und die Flugbahn bestimmen. Hatten die Analytiker genügend Spritzer vorliegen, konnten sie mithilfe der Flugbahnen sogar den gemeinsamen Ursprungsort des Blutes und damit den Standort des Opfers herausfinden. Allerdings bezweifelte Anja, dass die übrig gebliebenen drei Spritzer dafür ausreichten. Allerdings waren die Experten der Kriminaltechnik oftmals sogar in der Lage, weggewischte, für das bloße Auge unsichtbare, sogenannte latente Blutspuren wieder sichtbar zu machen.

      Als Anja schließlich den Blick von den Blutspritzern abwandte, fiel ihr im Spiegel zum ersten Mal ein roséfarbener Bademantel auf, der an der Wand hinter ihr an einem Haken hing und ein merkwürdiges Muster aus dunkelroten Flecken aufwies. Aber rasch wurde Anja klar, dass es sich dabei gar nicht um ein Muster, sondern um weitere Blutflecken handelte.

      Sie wandte sich um und ging hinüber, um sich den Bademantel aus der Nähe anzusehen. Allerdings nahm sie ihn dazu nicht vom Haken, sondern ließ ihn hängen. Stattdessen bückte sie sich, ergriff die beiden Enden des Saums und zog das Kleidungsstück vorsichtig auseinander. Als sie den Stoff ausgebreitet vor sich hatte, sah sie, dass er vor allem in dem Bereich, der sich im angezogenen Zustand an der Vorderseite des Körpers befand, großflächige rote Flecken aufwies. Der flauschige Frotteestoff hatte die Flüssigkeit gierig aufgesaugt. Die kleineren Flecken waren bereits getrocknet,