Eberhard Weidner

DER REGENMANN


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Nase. Es handelte sich um Blut. Allerdings überraschte sie das nicht, denn sie konnte sich schwerlich einen Grund vorstellen, warum jemand rote Farbe oder Tomatensaft über seinen Bademantel schütten sollte. Und obwohl Anja insgeheim keine Zweifel daran hatte, stellte sich natürlich die naheliegende Frage, ob es sich überhaupt um menschliches Blut handelte. Aber das würden die Kriminaltechniker mit einem Schnelltest herausfinden.

      Darüber hinaus wies der Stoff zwei ausgefranste Löcher auf, wo vom Hersteller keine vorgesehen waren. Beide Risse befanden sich jeweils im Zentrum eines großflächigen Blutflecks, der erste in Bauchhöhe, der zweite im Brustbereich. Auch ohne genauere Untersuchung kam Anja zu dem Ergebnis, dass an diesen Stellen ein Messer den Stoff durchbohrt haben musste.

      Anja ließ den Bademantel los und richtete sich wieder auf.

      Die nassen Fußabdrücke, denen sie von der offenen Terrassentür bis hierher gefolgt war, die Blutflecken auf dem Bademantel und schließlich die beiden Risse im Stoff verschafften ihr einen ersten Eindruck von dem, was in diesem Haus geschehen sein musste. Jemand war während des Regens ins Haus eingedrungen, hatte die Bewohnerin im Bad überrascht, nachdem diese geduscht oder ein Bad genommen hatte, und mindestens zweimal, wenn nicht noch öfter auf sie eingestochen. Und aufgrund der Zahl und Größe der Blutflecken auf dem Bademantel hegte Anja ernsthafte Zweifel, ob das Opfer diesen Angriff überlebt hatte.

      Aber wo steckt dann ihre Leiche?

      Anja sah sich erneut um, entdeckte jedoch keine weiteren Spuren der Bluttat, die an diesem Ort stattgefunden haben musste. Der Täter hatte nicht nur den Leichnam von hier weggebracht, sondern auch nahezu sämtliche Spuren seines Verbrechens beseitigt. Bis auf die drei kleinen Blutspritzer am Spiegel; die hatte er übersehen.

      Aber wenn er sich schon so bemüht hat, alle Spuren restlos zu beseitigen, warum hat er dann den verräterischen Bademantel an den Haken gehängt und zurückgelassen?

      Dieses Detail ergab für Anja absolut keinen Sinn. Während sie darüber nachgrübelte, war ihr Blick auf das Corpus Delicti gerichtet; sie nahm es allerdings überhaupt nicht wahr.

      Warum hat er den blutigen Bademantel dagelassen?

      Nach kurzem Nachdenken gab es für Anja nur eine logische Antwort auf diese Frage. Jemand hatte den Bademantel absichtlich für sie zurückgelassen. Und zwar dieselbe Person, die sie mithilfe der Mitteilung auf ihrer Fußmatte erst hierher gelockt hatte. Der Bademantel stellte insofern nur eine weitere Nachricht an sie dar. Er war trotz der Beseitigung aller anderen Spuren für sie zurückgelassen worden, damit sie auf jeden Fall erkannte, dass hier ein Messerangriff, höchstwahrscheinlich sogar ein Mord stattgefunden hatte.

      Für Anja stank diese Geschichte, angefangen bei dem Umschlag vor ihrer Tür bis zu diesem widersprüchlichen Tatort, nach ihrem alten Widersacher, dem Mörder ihres Vaters und ihres Ehemannes. Ganz ähnlich war er bereits in den anderen Fällen vorgegangen, als sie es mit ihm zu tun bekommen hatte.

      Allerdings hatte sich die Person, die sich zeitweise auch Jack nannte, in jüngster Vergangenheit vorwiegend anderer Psychopathen bedient, die für ihn die Drecksarbeit erledigten. Währenddessen war er im Hintergrund geblieben und hatte die Fäden gezogen. Es erschien Anja daher eher unwahrscheinlich, dass der Widersacher die blutige Tat, die hier allem Anschein nach stattgefunden hatte, auch eigenhändig begangen hatte.

      Aber warum hatte er ihr überhaupt eine Nachricht geschickt? Wieso hatte er sie in dieses Haus gelockt, in dem höchstwahrscheinlich ein Mord geschehen war? Und aus welchem Grund hatte er penibel alle Spuren beseitigt, wenn er dann doch den blutigen Bademantel zurückließ, um sie gleichsam mit der Nase darauf zu stoßen, was hier geschehen war? Was bezweckte er mit alldem?

      Auf all diese Fragen wusste Anja momentan natürlich noch keine Antworten. Um sie zu finden, würde sie der Sache auf den Grund gehen müssen. Und vielleicht wollte Jack genau das erreichen: dass sie den Mörder jagte. Für ihn war das alles unter Umständen nur ein weiteres makabres Spiel, das seinen offensichtlich abartigen Sinn für Humor befriedigte, während es für die Frau, die sein Handlanger getötet hatte, tödlicher Ernst gewesen war.

      Anja seufzte tief. Nachdem es hier mittlerweile nicht nur um eine vermisste Frau, sondern voraussichtlich sogar um Mord ging, musste sie schleunigst die dafür zuständigen Kollegen informieren.

      Außerdem empfand sie, seitdem sie wusste, dass hier eine Gewalttat verübt worden war, die Atmosphäre innerhalb des Hauses als bedrückend und unangenehm. Sie wollte sich daher nicht länger als unbedingt notwendig darin aufhalten. Möglicherweise hatte der Widersacher den Leichnam der Frau lediglich in einem anderen Zimmer deponiert und hoffte nun, dass Anja den Rest des Hauses durchsuchte und früher oder später darüber stolperte, denn zweifellos wusste er über ihre Ängste Bescheid. Aber den Gefallen würde sie ihm nicht tun. Und auch wenn sie sich insgeheim noch immer fragte, wo die Katze steckte, die auf dem Foto mit der Frau zu sehen war, würde sie es anderen Personen überlassen, nach ihr zu suchen. Schließlich war sie nur hier, weil sie einen Umschlag mit einer Nachricht auf ihrer Fußmatte gefunden hatte und der Sache kurzerhand nachgegangen war. Doch nach dem Fund des blutgetränkten, durchbohrten Bademantels ging es in diesem Fall ihrer Meinung nach nicht nur um eine vermisste Person, sondern vermutlich sogar um Mord. Und dafür war sie nun einmal nicht zuständig. Abgesehen davon hatte sie Urlaub.

      Anja richtete sich auf und verließ das Badezimmer, ließ das Licht allerdings brennen. Als sie im Flur neben den Feuchtigkeitsspuren auf dem Teppich zur Treppe ging, hörte sie plötzlich von unten ein Geräusch.

      Sofort erstarrte sie mitten in der Bewegung und blieb regungslos stehen, während ihr Herz das genaue Gegenteil tat und unwillkürlich schneller schlug.

      Es hatte sich angehört, als wäre im Erdgeschoss leise eine Tür geschlossen worden. Doch nun, als Anja konzentriert lauschte und nicht einmal zu atmen wagte, war nichts mehr zu hören.

      Nach einer Minute, in der ihr eigener Herzschlag der einzige Laut war, den sie vernahm, stieß sie die Luft aus und atmete tief durch. Anschließend setzte sie sich wieder in Bewegung, bemühte sich aber um absolute Geräuschlosigkeit, als sie ihren Weg fortsetzte. Am oberen Ende der Treppe verharrte sie erneut, um zu lauschen, doch es blieb weiterhin still. Daraufhin begann sie, langsam und leise die Stufen hinabzusteigen.

      Der Erdgeschossflur war noch immer verlassen. Allerdings stellte Anja fest, dass die Tür zum Wohnzimmer, die sie offengelassen hatte, jetzt zu war.

      Also hatte sie sich nicht getäuscht, sondern tatsächlich gehört, dass die Tür geschlossen worden war. Das hieß, dass sie nicht allein im Haus war, sondern Gesellschaft hatte.

      Die Atmosphäre innerhalb des Hauses verwandelte sich schlagartig von bedrückend in feindselig.

      Anja überlegte, was sie tun sollte. Das Haus durch den Vordereingang zu verlassen und so schnell wie möglich Verstärkung zu rufen, erschien ihr das Vernünftigste zu sein. Doch nicht immer war die vernünftigste Lösung auch die beste.

      Was, wenn es der Widersacher war, der sich noch im Haus aufhielt? In dem Fall hätte sie die einmalige Gelegenheit, ihn auf frischer Tat zu ertappen oder zumindest einen Blick auf ihn zu erhaschen. Dann wüsste sie endlich, mit wem sie es zu tun hatte und ob ihr Verdacht, dass es sich um ihren Onkel handelte, richtig war.

      Ungeachtet der Gefahr und der Tatsache, dass sie noch immer unbewaffnet war, ging Anja zur Wohnzimmertür. Die Aussicht, endlich den Mann zu erwischen, der ihren Vater und ihren Ehemann umgebracht hatte, ließ sie alle Sicherheitsbedenken und die Gefahr, in die sie sich dadurch begab, vergessen. Immerhin achtete sie wenigstens weiterhin darauf, sich von den nassen Fußabdrücken auf dem Boden fernzuhalten.

      Vor der Tür blieb sie stehen und legte ihre behandschuhte Hand auf die Klinke. Ihr kam es so vor, als wäre der Türgriff noch warm von der Person, die ihn vor ihr benutzt hatte, doch das war vermutlich nur Einbildung.

      Doch bevor sie die Tür öffnen konnte, zeigte ihr Verstand ihr Bilder dessen, was passieren könnte, wenn sie es tat. Die Person, die die Tür geschlossen hatte, befand sich unter Umständen noch immer im Wohnzimmer. Und sobald Anja die Tür geöffnet hatte, sprang sie auf sie zu und stieß ihr ein Messer in den Körper.