Eberhard Weidner

DER REGENMANN


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      Schon aus diesen Gründen musste sie der Sache auf den Grund gehen. Und da sie nicht wusste, ob es sich nicht doch nur um einen makabren Scherz handelte, würde sie trotz ihres Urlaubs erst einmal höchstpersönlich nach dem Rechten sehen, bevor sie die zuständigen Stellen darüber informierte.

      9

      Gerade einmal zwanzig Minuten später stand sie vor dem Haus, dessen Anschrift auf dem Papier stand.

      Sobald sie sich spontan dazu entschlossen hatte, hierherzukommen und nachzusehen, hatte sie als Erstes ihre Cousine angerufen, um den Kinobesuch um ein paar Tage zu verschieben. Obwohl es extrem kurzfristig erfolgte, zeigte Tanja dennoch Verständnis. Anja brachte auch keine Ausrede vor, da sie ihre Cousine nicht belügen wollte, sondern legte ihr die wahren Umstände dar und erklärte, warum sie der Sache auf den Grund gehen musste. Tanja kannte ihre Cousine gut genug und wusste daher, dass sie diese nicht davon abbringen konnte, auch wenn es unter Umständen nicht ungefährlich war. Daher bat sie Anja lediglich, auf sich aufzupassen.

      Nach dem Telefonat föhnte sich Anja die Haare, auch wenn diese ohnehin fast trocken waren und sich kaum noch in Form bringen ließen. Deshalb waren sie jetzt sogar noch zerzauster als sonst. Aber damit musste sie sich eben abfinden. Anschließend schlüpfte sie in ihre Joggingsachen und zog zum Schutz vor dem Regen, die Kapuze des Pullis über den Kopf. Sie verließ das Haus und rannte los, so als hätte sie vor, noch ein paar spätabendliche Runden zu joggen. Allerdings lief sie nicht wie gewohnt in Richtung Westpark, sondern in die andere Richtung.

      Bereits wenige Minuten später hatte sie ihr Ziel erreicht.

      Obwohl es inzwischen kaum noch regnete, nur vereinzelt fielen ein paar Tropfen, behielt Anja die Kapuze auf dem Kopf. Schließlich wusste sie nicht, was sie hier erwartete. Und falls jemand sie sah, würde die Kapuze es der Person erschweren, sie zu erkennen oder zu identifizieren.

      Sie sah sich aufmerksam in alle Richtungen um, doch außer ihr war niemand unterwegs. Wie in der Straße, in der sie wohnte, gab es hier nur auf einer Seite bebaute Grundstücke, davor einen Bürgersteig und einen schmalen Grünstreifen, auf dem dünne Bäume und Laternenmasten standen. Mehrere Autos parkten auf dieser Seite am Straßenrand. Sowohl die Straße als auch der Bürgersteig waren menschenleer. Auf der anderen Seite der Straße befanden sich zugewachsene Schienen, die nicht mehr genutzt wurden. Dahinter kamen zunächst ein Grünstreifen, dann ein Fußweg mit Sitzbänken und schließlich ein Holzlattenzaun, hinter dem der Friedhof lag.

      Anja fröstelte unwillkürlich, als sie an ihr Erlebnis mit dem Apokalypse-Killer auf dem nächtlichen Waldfriedhof dachte. Rasch verdrängte sie die Erinnerungen, die wie Gewitterwolken in ihrem Bewusstsein heraufgezogen waren, und konzentrierte sich wieder vollständig auf das Hier und Jetzt. Sie lauschte auf verdächtige Geräusche, konnte jedoch außer dem stetigen Tröpfeln von den Bäumen und dem Säuseln des leichten Windes nichts hören, das sie beunruhigte. Außerdem hatte sie auch nicht wieder das Gefühl, als ob jemand sie heimlich beobachten würde.

      Sie beschloss, nicht darauf zu warten, bis sich das änderte und jemand kam, sondern endlich zu handeln. Deshalb öffnete sie das schmiedeeiserne Gartentürchen, das ein leises Quietschen hören ließ, und betrat das Grundstück. Dabei verhielt sie sich völlig natürlich und ungezwungen, als gäbe es trotz der fortgeschrittenen Stunde einen triftigen Grund für ihr Hiersein. Denn falls jemand zufällig aus einem Fenster der Nachbarhäuser sah, wollte sie aufgrund ihrer dunklen Kleidung keinen falschen Eindruck erwecken und nicht für einen Einbrecher gehalten werden. Als sie nur noch wenige Meter von der Haustür entfernt war, ging eine Lampe über der Tür an. In ihrem hellen Schein konnte Anja mühelos den Namen auf dem metallenen Türschild neben der Klingel lesen: C. Arendt.

      Ihr Herz klopfte unwillkürlich schneller, als sie realisierte, dass sie hier richtig war. Zumindest der Name stimmte mit demjenigen aus dem geheimnisvollen Umschlag überein. Die Möglichkeit, dass jemand sie nur verarschen wollte, indem er willkürlich eine Adresse in der Nähe genommen und sich dazu einen Fantasienamen ausgedacht hatte, schied damit schon einmal aus.

      Es gab also jemanden namens C. Arendt. Und diese Person wohnte auch in diesem Haus.

      Doch wie verhielt es sich darüber hinaus mit dem Wahrheitsgehalt des Wortes VERMISST! über dem abgedruckten Foto?

      Da sie es nur erfahren würde, wenn sie klingelte, drückte Anja kurzentschlossen auf den Klingelknopf. Von drinnen war die Türglocke zu hören, die eine kurze melodische Tonfolge spielte.

      Sie wartete ungeduldig, knabberte dabei nervös an ihrer Unterlippe und sah sich um. Der Vorgarten machte einen gepflegten und ordentlichen Eindruck. Er ließ erkennen, dass hier jemand wohnte, der sich gewissenhaft und intensiv darum kümmerte und in der Auswahl und Anordnung der Pflanzen und Blumen auch noch einen guten Geschmack bewiesen hatte. Beinahe war Anja ein bisschen neidisch. Sie hatte heute ein paar anstrengende Stunden Gartenarbeit hinter sich gebracht, doch deshalb sah ihr Grundstück noch lange nicht aus wie dieses hier. Und vermutlich würde es das auch nie tun, denn dazu fehlte ihr sowohl die Freude an der Gartenarbeit als auch das richtige Händchen dafür.

      Leise seufzend wandte sie sich wieder der Haustür zu. Nach dem Verstummen der Türglocke war es innerhalb des Hauses wieder absolut still geworden. Nichts rührte sich und deutete darauf hin, dass jemand zu Hause war und auf ihr Klingeln reagiert hatte.

      Totenstille?

      Anja ignorierte den irritierenden Gedanken. Obwohl sie insgeheim nicht mehr damit rechnete, dass ihr jemand öffnete, klingelte sie ein zweites Mal und übte sich weitere sechzig Sekunden, die ihr viel länger vorkamen, während sie sie in Gedanken abzählte, in Geduld.

      Niemand zu Hause!, konstatierte sie schließlich das Offensichtliche, um sofort einschränkend hinzuzufügen: Zumindest niemand, der in der Lage wäre, zur Tür zu kommen, um sie zu öffnen.

      Im Grunde hatte der Umstand, dass niemand auf ihr Klingeln reagiert hatte, aber noch nichts zu bedeuten. Möglicherweise war C. Arendt momentan im Urlaub. Oder sie hatte dieselbe Idee wie Anja und ihre Cousine gehabt und war an diesem Abend ins Kino gegangen.

      Dennoch musste Anja natürlich ständig an das Wort denken, das in Großbuchstaben über dem Foto der Frau mit der schwarzen Katze stand: VERMISST!

      Und je mehr Anja der Sache auf den Grund ging, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau mit dem Namen Carina Arendt tatsächlich verschwunden war.

      Zum wiederholten Mal an diesem Abend hatte Anja das unangenehme Gefühl, dass jemand sie beobachtete. Sie sah sich aufmerksam um, konnte aber noch immer niemanden entdecken. Dennoch blieb das Gefühl hartnäckig bestehen und ließ sich auch nicht abschütteln.

      Anja ignorierte es daher, so gut es ihr möglich war, auch wenn das nicht leicht war und sie in ihrer Konzentration gestört wurde. Um keine Spuren zu hinterlassen, drückte sie mit dem Ellbogen probehalber gegen die Haustür, doch diese war fest verschlossen.

      Was nun?

      Es widerstrebte ihr, unverrichteter Dinge wieder gehen zu müssen. Deshalb beschloss sie, das Haus einmal zu umrunden und dabei durch jedes Fenster zu spähen. Vielleicht entdeckte sie dabei etwas, das es rechtfertigte, in das Haus einzudringen, weil Gefahr in Verzug war.

      An jedem Fenster, zu dem sie kam, blieb sie kurz stehen. Mithilfe der Taschenlampenfunktion ihres Handys sah sie ins Innere des Hauses, konnte jedoch nichts entdecken, das ihr verdächtig vorkam. Auch wenn das Haus scheinbar verlassen war, schien darin alles so zu sein, wie es sein sollte. So gab es beispielsweise nicht die geringste Unordnung, geschweige denn umgeworfene Möbelstücke, was auf eine Auseinandersetzung hätte schließen lassen.

      Sobald Anja um die zweite Ecke bog und die Rückseite des Hauses erreichte, sah sie jedoch einen hellen Lichtschein, der durch die Terrassentür und das Fenster daneben nach draußen fiel. Es sah genauso aus wie auf dem ausgedruckten Foto, das sie bekommen hatte. Die einzigen Unterschiede bestanden darin, dass in dem Bild, das sie jetzt vor Augen hatte, sowohl die Frau als auch die Katze fehlte.

      Der Anblick