Eberhard Weidner

DER REGENMANN


Скачать книгу

sondern hatte Yin.

      Allerdings warf das, was sie am heutigen Abend erlebt hatte, einen tiefdunklen Schatten auf ihr Leben. Nicht nur, dass sie durch eine anonyme Nachricht erneut gegen ihren Willen in die Ermittlungen in einem möglichen Mordfall verwickelt wurde, musste sie sich nun auch noch Sorgen um ihren Kater machen. Außerdem hatte sie in den letzten Stunden mehrere Male das Gefühl gehabt, dass jemand sie aus dem Verborgenen beobachtete. Und schließlich war sie durch den Umschlag vor ihrer Tür an schreckliche Ereignisse aus ihrer Vergangenheit erinnert worden und musste seitdem auch wieder verstärkt an den Mörder ihres Vaters denken.

      Apropos …

      »Ich wollte dich eigentlich schon längst etwas fragen«, platzte Anja heraus, bevor sie darüber nachdenken konnte.

      »Was denn?«

      Anja überlegte sich ihre Worte gut. Ihre Mutter und sie sprachen nie über den Tod ihres Vaters. Sie beide hatten bislang instinktiv davor zurückgescheut, so als wäre es ein Tabuthema, über das man einfach nicht redete. Außerdem gab es dazu im Grunde auch nichts zu sagen. Anja hatte damals seine Leiche gefunden und wusste daher über die Umstände seines vermeintlichen Selbstmordes bestens Bescheid. Zumindest hatte sie gedacht, alles darüber zu wissen, bis die Polaroidaufnahme ihres Vaters, die wenige Minuten oder Sekunden vor seinem Tod aufgenommen worden war, sie eines Besseren belehrt hatte. Seitdem wusste sie, dass er ermordet worden war, und der Mörder sich sogar noch im Haus aufgehalten hatte, als sie den Leichnam im Arbeitszimmer entdeckt hatte. Allerdings hatte sie ihrer Mutter nichts davon erzählt. Wieso sollte Anja sie auch mit diesem Wissen belasten, so wie es sie belastete, und sie beunruhigen? Noch dazu, wo sie den Bruder ihres Vaters dieses Mordes und zahlreicher weiterer Straftaten verdächtigte.

      Doch nun, wo sie, ausgelöst durch die jüngsten Ereignisse, schon einmal damit angefangen hatte, wollte sie auch keinen Rückzieher mehr machen, sondern das Thema, das ihr bereits seit einiger Zeit auf den Nägeln brannte, endlich zur Sprache bringen.

      »Anja? Bist du noch dran?«

      Die Stimme ihrer Mutter riss sie aus ihren Gedanken. Sie hatte lange überlegt und geschwiegen.

      »Ja, natürlich.«

      »Du wolltest mich etwas fragen.« Eine Spur von Ungeduld schwang in der Stimme ihrer Mutter mit, genauso wie früher, wenn Anja nicht gleich mit der Sprache herausgerückt war.

      »Als Papa damals gestorben ist …«, begann Anja die ungewohnten Worte auszusprechen und verstummte dann, als sie hörte, wie ihre Mutter geräuschvoll die Luft einsog, denn damit hatte sie gewiss nicht gerechnet.

      Für eine Weile herrschte atemloses Schweigen in der Leitung. Anja hatte keine Ahnung, wie sie den Satz beenden sollte. Und ihre Mutter schien vor Schreck erstarrt zu sein und wusste scheinbar nicht, ob sie überhaupt etwas und wenn ja, was sie dazu sagen sollte.

      »Hast du …« Anja stockte. »… danach irgendwelche Unterlagen über seine damaligen Fälle in seinem Arbeitszimmer gefunden?« Anja stieß erleichtert die Luft aus. Sie war froh, dass sie den Satz zu einem sinnvollen Ende gebracht und dabei weder gestammelt noch gestottert hatte.

      Endlich ist es raus!

      »Unterlagen?« Die Stimme ihrer Mutter klang unsicher und zögerlich, sodass Anja sich im ersten Moment fragte, ob sie noch immer mit derselben Person sprach. »Was für Unterlagen meinst du denn?«

      »Private Unterlagen über die Fälle, die er bearbeitete, als …« Anja seufzte. »Du weißt schon. Damals sind doch diese drei Mädchen spurlos verschwunden. Eine davon, Helena König, ging sogar mit mir in eine Klasse. Die anderen beiden hießen Melanie Brunner und Daniela Forstner. Alle drei verschwanden innerhalb weniger Wochen nicht weit voneinander entfernt. Sie kannten sich nicht und hatten auch sonst kaum Gemeinsamkeiten bis auf ihr langes dunkelbraunes Haar. Papa und sein Kollege Hans Baumgartner leiteten damals die Ermittlungen, fanden jedoch nicht die geringste Spur der Kinder. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Und dann … dann starb Papa.« Sie hatte eigentlich sagen wollen: Und dann verübte Papa Selbstmord. Es war die offizielle Version, doch es wäre eine Lüge gewesen, die ihr nun, nachdem sie die Wahrheit kannte, nicht über die Lippen kommen wollte. »Die Fälle konnten bis heute nicht aufgeklärt werden. Ich … ich habe mich nur gefragt, ob Papa sich private Aufzeichnungen über diese Ermittlungen gemacht hatte.«

      Erneut war es eine Weile still in der Leitung; so still, dass Anja sich unwillkürlich fragte, ob ihre Mutter nicht längst aufgelegt hatte. Aber dann hätte sie den entsprechenden Signalton gehört und nicht diese atemlose Stille. Doch bevor sie nachfragen konnte, meldete sich Dagmar von selbst zu Wort.

      »Warum … warum willst du das denn wissen?«

      »Ich …« So weit, sich eine vernünftige, aber gleichwohl harmlose Erklärung einfallen zu lassen, hatte Anja gar nicht vorausgedacht. Deshalb musste sie jetzt improvisieren und hoffte, dass sie sich nicht in dem Lügengeflecht verhedderte, das sie aus dem Stegreif knüpfen musste. »Ich habe mich vor Kurzem mit Hans Baumgartner getroffen«, sagte sie dann, was nicht einmal eine Lüge war, denn sie traf sich regelmäßig mit dem ehemaligen Freund und Kollegen ihres Vaters. »Wir haben unter anderem über die drei verschwundenen Mädchen gesprochen. Hans ärgert sich noch immer, dass sie diese Fälle nicht lösen konnten, und fragt sich immer wieder, was aus ihnen geworden ist. Ob sie noch leben oder längst tot sind? Ich … ich hab mir dann mal die Fallakten besorgt und durchgesehen. Und da … da dachte ich, ich frage dich mal, ob Papa damals private Aufzeichnungen zu den Ermittlungen hatte, die keinen Eingang in die offiziellen Ermittlungsakten fanden.«

      Anja wischte sich die Stirn, denn sie war unwillkürlich ins Schwitzen gekommen. Immerhin hatte sie eine nachvollziehbare Begründung für ihr plötzliches Interesse geliefert.

      »Hans Baumgartner?«, fragte ihre Mutter schließlich, und Anja atmete auf, denn allem Anschein nach hatte Dagmar die Erklärung akzeptiert. »Den habe ich ja ewig nicht mehr gesehen. Ich glaube, seit … seit Franks Beerdigung nicht mehr. Wie geht es ihm denn?«

      Anja war froh, dass sie nicht mehr lügen musste. Auch wenn sie Übung darin hatte, ihre Mutter zu belügen – als Teenager war es eine Notwendigkeit und daher tägliche Praxis gewesen –, tat sie es heutzutage nicht mehr gern und nur in äußersten Notfällen. Aber jetzt befand sie sich wenigstens wieder in vertrauten Gewässern und konnte die Wahrheit sagen.

      »Hans hatte kurz danach einen schweren Autounfall und sitzt seitdem im Rollstuhl.«

      »Davon hatte ich ja keine Ahnung. Jetzt weiß ich endlich, warum ich danach nichts mehr von ihm gehört habe. Hätte ich davon gewusst, hätte ich ihn besucht.«

      »Es geht ihm gut«, versicherte Anja. »Er ist momentan in Berlin. Dort besucht er seinen Sohn, zu dem er in den letzten Jahren kaum noch Kontakt hatte. Ich soll dir übrigens liebe Grüße von ihm ausrichten.«

      »Danke. Sag ihm auch einen schönen Gruß, wenn du ihn das nächste Mal siehst. Vielleicht können wir ja mal zu dritt zum Essen gehen, wenn er wieder in München ist. Er und dein Vater waren nicht nur Kollegen, sondern auch gute Freunde. Und du hattest bereits damals einen Narren an Hans gefressen, weil er immer so lustig war.«

      »Das ist er noch immer. Aber um auf meine Frage nach den Aufzeichnungen zurückzukommen.«

      »Du meinst private Aufzeichnungen deines Vaters zu den Fällen der drei vermissten Mädchen?«

      »Ja.«

      Dagmar seufzte. »Frank hatte im Dienst immer ein Notizbuch bei sich, in dem er sich alles Wichtige notierte. Sobald ein Notizbuch voll war, begann er das nächste.«

      Anja nickte, denn das tat sie genauso, sagte jedoch nichts, um den Gedankenfluss ihrer Mutter nicht zu unterbrechen.

      »Er bewahrte die Notizbücher in einer Schublade seines Schreibtisches auf.«

      »Und was ist … nach seinem Tod damit passiert?«

      »Die Kollegen, die seinen …« Ein kurzes Stocken, das Anja kaum aufgefallen wäre, wenn sie nicht damit gerechnet hätte. »… Tod untersucht haben, nahmen die Notizbücher natürlich mit, um sie