Dagmar Isabell Schmidbauer

Der Tote vom Oberhaus


Скачать книгу

hat niemand etwas gesehen, und ohne Zeugen können wir weder einen Täter finden noch einen Unschuldigen entlasten“, keuchte sie etwas kurzatmig, und Schneidlinger hatte das Gefühl, als habe sie das Ganze auswendig gelernt.

      „Immer mit der Ruhe, Frau Steinbacher. Ich habe bereits mit der Journalistin Kathrin Selig gesprochen. Sie wird einen Artikel über unseren Mord schreiben. Sie arbeitet sehr professionell, ich glaube das wird uns weiterhelfen.“ Schneidlinger lauschte in sein Handy und versuchte gleichzeitig, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. „Sind Sie noch dran?“

      „Ja, aber der Empfang ist hier oben sehr schlecht“, sagte Franziska, was ihr Schneidlinger aber nicht glaubte. Er hatte gehört, dass sie eine Hand auf die Sprechmuschel gelegt und mit jemandem gedämpft gesprochen hatte. Wahrscheinlich Kollege Hollermann, dachte Schneidlinger.

      „Kathrin Selig“, fuhr er unbeirrt fort, „die kennen Sie doch vom Fall Weberknecht. Das ist die Journalistin, die Sie nach dem Tod von Hajo Felbermann über dessen Arbeit für die Zeitung befragt haben.“

      „Das ist gut!“, erklärte Franziska aufs Geratewohl und fügte hinzu, dass man in so einem Fall auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen sei.

      Schneidlinger passierte die Zufahrt zum Innenhof der Staatsanwaltschaft und fuhr auf einen der wenigen freien Parkplätze zu. Kurz berichtete er der jüngeren Kollegin von Grubers Entdeckung und beendete das Gespräch mit den Worten: „Ich muss jetzt aufhören, ich habe einen Termin.“

      Ohne Hast stieg der Hauptkommissar die breite Steintreppe empor und gelangte schließlich zum Büro des leitenden Oberstaatsanwalts, der ihn bereits erwartete. Nach einem Blick auf die Uhr ließ der den Single Malt stehen und bat stattdessen bei seiner Sekretärin um Kaffee. Schneidlinger nickte zustimmend und setzte sich auf den angebotenen Platz dem Oberstaatsanwalt gegenüber.

      „Was können Sie mir denn über den neuen Fall berichten?“ Schwertfeger beugte sich ein wenig über seine gefalteten Hände und lächelte den Hauptkommissar auffordernd an.

      „Nun“, eröffnete Schneidlinger, las von seinem vorläufigen Bericht die wichtigsten Informationen ab und ergänzte dann: „Interessant ist die Wohnsituation, die völlig gegensätzlich zu der Art und Weise steht, wie sich der Tote am späteren Tatort präsentierte.“

      Der Oberstaatsanwalt legte nachdenklich die Stirn in Falten.

      „Mautzenbacher trug zum Beispiel eine echte Rolex, sagte dem Nachbarn aber, sie sei nur ein Imitat. Warum? Ebenso rätselhaft sind die gefundenen zwanzigtausend Euro. Woher hatte Mautzenbacher die, und warum trug er sie bei einem Besuch der Veste Oberhaus bei sich? Weil er mit dem Täter verabredet war und sie dem geben wollte? Oder musste? Aber warum nahm sie der Täter dann nicht an sich? Oder ahnte der Täter nicht, dass er sein Opfer treffen würde, und wusste somit auch nichts von dem Geld? Sie sehen, der Fall wirft viele Fragen auf.“

      Schneidlinger sah Schwertfeger erwartungsvoll an, dann zur Tür, die sich gerade öffnete. Die Sekretärin des Oberstaatsanwalts betrat mit einem Tablett in der Hand den Raum.

      „Was werden Sie also unternehmen?“, fragte Schwertfeger.

      „Nach der Pleite in der Wohnung haben wir Mautzenbachers Auto zur Fahndung ausgeschrieben, und ich habe einen Zeugenaufruf an die Presse rausgegeben. Vielleicht kann uns ja bald schon jemand etwas zu diesen Widersprüchen sagen.“

      Der Oberstaatsanwalt nickte und schwieg, bis seine Sekretärin die Kaffeetassen verteilt hatte. „Und bei Facebook sind Sie auch nicht fündig geworden?“

      Der Hauptkommissar lachte kurz auf. Zuhause erklärte er seinen Kindern, sie sollten sich genau überlegen, was sie in dieser Community von sich preisgaben, und im Beruf griff er immer wieder gern und erfolgreich auf genau diese kostenlose Datensammlung zurück. „Nein, zumindest nicht unter seinem richtigen Namen.“

      „Was sagt die Gerichtsmedizin?“

      Schwertfeger dachte an alles. Doch damit hatte Schneidlinger gerechnet und wiegelte dessen Erwartung sofort ab.

      „Oh, das kann dauern. Die Ärzteschaft streikt doch mal wieder, und diesmal machen sie noch nicht einmal vor den Toten halt.“

      Schwertfeger rührte in seiner Kaffeetasse und blieb stumm. Er überlegte, was sein ehemaliger Studienfreund und früherer Hauptkommissar Berthold Brauser in diesem Fall getan hätte.

      „Ich habe ein paar meiner früheren Kontakte genutzt und versucht, auf diesem Weg etwas über die Rolex in Erfahrung zu bringen“, erklärte Schneidlinger mit Stolz in der Stimme. „Vielleicht gibt es ja eine Verbindung zwischen der Herkunft der Uhr und dem Täter.“

      „Letzten Endes müssen Sie jedes Mittel nutzen, solange es legal ist“, erklärte Schwertfeger.

      „Natürlich“, gab Schneidlinger zurück und lächelte provozierend. Er trank seinen Kaffee aus und erhob sich, während Schwertfeger ihm für seinen Besuch dankte.

      „Und halten Sie mich bitte auf dem Laufenden!“

      „Ja, das mache ich doch gern. Aber was ich Sie noch fragen wollte …“, Schneidlinger trat einen Schritt auf Schwertfeger zu und senkte seine Stimme. „Im vergangenen Herbst hatten Sie doch in diesem spektakulären Fall zu ermitteln.“

      Der Oberstaatsanwalt wich ein wenig zurück. „Was meinen Sie?“

      „Na, den Fall Weberknecht. Die Zeitungen waren damals voll davon, selbst in München, und ich …“

      „Was bitte haben Sie mit dem Fall Weberknecht zu tun? Der Fall ist abgeschlossen“ Schwertfeger straffte die Schultern.

      „Nun ja. Um mich einzuarbeiten, habe ich mir die alten Akten angesehen und dabei ist mir aufgefallen, dass … Also gut, ich glaube, es wurde etwas übersehen!“

      Schwertfeger sah den Hauptkommissar so lange schweigend an, dass dieser schon dachte, er würde gar nichts mehr sagen.

      „Herr Schneidlinger, es ist durchaus bewundernswert, dass Sie sich trotz des neuen Falles – dem Sie im Übrigen Ihre gesamte Energie widmen sollten – für die alten Berichte interessieren. Trotzdem möchte ich Sie daran erinnert, dass in diesem Fall eingehend ermittelt wurde. Es gibt wirklich keinen weiteren Handlungsbedarf.“

      Beim letzten Satz hatte Schwertfeger jedes einzelne Wort betont, fast als wolle er dem Hauptkommissar ein für alle Mal eintrichtern, sich aus der Sache rauszuhalten.

      Mit einem Korb voller Einkäufe betrat Franziska ihre Wohnung, stellte ihn in der Küche auf die Anrichte und ging ins Bad, um sich ihre verschwitzen Jeans und das Shirt auszuziehen. Nur noch in Unterwäsche gekleidet kam sie zurück, schenkte sich ein großes Glas Eistee ein und trank gierig, bevor sie begann, die Lebensmittel in Kühl- und Vorratsschrank zu räumen. Als sie fertig war, öffnete sie ihre Balkontür, die direkt auf eine kleine Dachterrasse führte, und ließ sich auf den Liegestuhl fallen. Seufzend blinzelte sie in die Abendsonne und schloss die Augen, bis ihr knurrender Magen sie daran erinnerte, dass sie noch nichts gegessen hatte. Es gab Tage, da konnte sie nach dem Dienst stundenlang in der Küche stehen, Gemüse schnippeln und Fleisch anbraten. Heute jedoch hatte sie sich eine Fertiglasagne mitgebracht. Sie nahm ihr Glas mit hinein, schob die Lasagne in die Mikrowelle, schaltete den Laptop ein und stellte sich unter die Dusche. Als sie zurückkam und das Essen noch immer nicht fertig war, überprüfte sie ihr Handy und seufzte: kein Wort von Walter.

      Franziska klickte auf die Startseite seiner Homepage, und zumindest von dort aus lächelte er sie genauso an, wie sie sich das von ihm wünschte. Mit einem weiteren Klick wechselte sie zu seinem Blog und wusste im selben Moment nicht, ob sie sich freuen oder ärgern sollte.

      Er hatte ihr Bild eingestellt. Nicht ihr Gesicht, das nicht! Zu sehen war das Seidentuch mit ihrem Körper darauf. Die Dokumentation ihrer Lust. Ungebändigte Schöne lautete der Titel, und nachdem Franziska den kurzen Text über die genaue Herstellung des einzigartigen Werks gelesen hatte, war sie froh, dass ihr Name darin nicht auftauchte.