Dagmar Isabell Schmidbauer

Der Tote vom Oberhaus


Скачать книгу

warte halt einfach mal ab!“, gab Franziska schnippisch zurück. Und um sich nicht länger rechtfertigen zu müssen, konzentrierte sie sich aufs Autofahren.

      „Bedeutet dein Schweigen, dass wir für heute Nacht aufhören?“ Hannes warf einen Blick auf seine Uhr und gähnte ausgiebig.

      „Nein, natürlich nicht. Wir fahren jetzt ins Präsidium und lesen uns in die Geschichte der Veste Oberhaus ein“, antwortete Franziska lachend. „Vielleicht hat die Tat ja Symbolcharakter.“

      „Okay, das kannst du ja gern machen, aber mich lässt du bitte am Gampertsteig raus, da steht nämlich mein Fahrrad.“

      Franziska nickte und setzte den Blinker, um in den Anger einzubiegen. „Gut. Und jetzt erzähl mir endlich, was du von den Nachbarn erfahren hast.“

      Als Franziska am Dienstagmorgen die Glastür zum Flur der Mordkommission aufstieß, trug sie eine enge Jeans, bequeme Sandalen und ein ärmelloses Shirt. Über der linken Schulter hing ihre braune Wildledertasche, in der sie stets alles bereithielt, was sie während ihrer Ermittlungsarbeiten brauchte. Zusätzlich hatte sie eine Tasche mit zwei Flaschen Mineralwasser und einem Vorrat an Müsliriegeln dabei. Am gestrigen Abend hatte sie alle wesentlichen Informationen im Fall Mautzenbacher in ihr grünes Notizbuch eingetragen und war nun bereit, sich in die Ermittlungen zu stürzen.

      „Guten Morgen Ramona!“, rief sie der Sekretärin zu, als sie gerade an deren Schreibtisch vorbeilief. „Na, womit beschäftigst du dich denn schon in aller Herrgottsfrühe?“

      „Das sind die Zeugen, die ich vorladen soll“, erklärte sie und sah von ihrer Liste auf. „Der Chef ist auch schon da.“

      „Und Hannes?“

      „Stell dir vor, sogar Hannes war heute pünktlich!“

      Franziska nickte verschwörerisch und ging in ihr Büro.

      An der Tür drehte sie sich noch einmal um. „Steht eigentlich schon was in der Zeitung?“

      „Nein.“

      „Sehr schön.“

      Als sie gerade die Bürotür öffnen wollte, hörte sie, wie jemand ihren Namen rief.

      „Ach, Frau Steinbacher, kommen Sie doch bitte mal in mein Büro!“

      Franziska drehte sich um, sah den neuen Chef im Flur stehen, lächelte und versprach: „Ja, natürlich. Sofort.“

      Gleich darauf schloss Franziska die Tür zum Chefzimmer und nahm auf dem angebotenen Stuhl Platz. Während sie darauf wartete, dass Schneidlinger das Gespräch eröffnete, schaute sie sich kurz um. Es war Berthold Brausers ehemaliges Büro, auch wenn nichts mehr an den alten Chef erinnerte. Statt der schäbigen Möbel, wie sie im ganzen Haus als Einrichtung dienten, gab es einen modernen Schreibtisch aus Buchenholz und Edelstahl. In einer Ecke des Raumes stand ein Tischchen mit zwei zierlichen Sesseln, neben dem Waschbecken ein moderner Kaffeeautomat. Schneidlinger hatte eine Tasse vor sich stehen, der Kaffee darin roch köstlich. Trotzdem lehnte Franziska sein Angebot ab. Er würde irgendwann schon noch begreifen, dass sie nur Tee trank.

      „Sie haben sich bereits in den Fall eingearbeitet?“, begann Schneidlinger endlich.

      Franziska nickte, ohne weiter darauf einzugehen.

      „Gut. Ich möchte eine Sache von Anfang an klarstellen.“

      Schneidlinger rührte eine Weile in seinem Kaffee, und Franziska befürchtete schon, er habe den Faden verloren.

      „Egal, worauf Sie in diesem Fall stoßen, egal, welche Zeugen Sie vernehmen und egal, welche Beweise Sie sichern“, ohne auch nur einen Gesichtsmuskel zu bewegen, blickte er Franziska fest in die Augen, „ich will über alles genauestens informiert werden. Ich erwarte von Ihnen ausführliche Berichte. Ist das klar?“

      Franziska nickte. Und fühlte sich ertappt. Hatte Hannes ihm von Walter Froschhammer erzählt? Vielleicht die Kollegen oder Samantha Halmgaard? Franziska rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn, wollte gerade zu einer Beichte ansetzen, als Schneidlinger zu lächeln begann und hinzufügte: „Ja, dann - fangen Sie an! Man muss die Spuren auswerten, solange sie frisch sind.“

      „Ja, natürlich“, antwortete Franziska verunsichert und erhob sich. Sie hielt das Gespräch für beendet.

      „Ist ja wirklich zu schade, dass Sie keinen Kaffee mögen. Ich könnte ohne meinen Koffeinkick überhaupt nicht mehr arbeiten.“ Dann warf er einen Blick auf die Uhr. „Wir treffen uns um zehn zu einer Besprechung. Ich möchte, dass Sie und Hollermann die Kollegen mit allen Fakten vertraut machen.“

      Franziska stand auf und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie spürte seinen Blick in ihrem Rücken und fühlte sich durchschaut. Hatte Hannes etwas mit dieser Belehrung zu tun? Egal, mit diesem Gespräch hatte sich Schneidlinger bei ihr viele Sympathiepunkte verspielt, und sie beschloss, dass dieser neue Chef von ihr immer nur hieb- und stichfeste Beweise und ausnahmslos Dienstliches erfahren würde.

      Die kleine Sunny war in eine übersättigte Welt hineingeboren worden. Der letzte Weltkrieg war lange her, und die Bedrohungen kamen jetzt aus ganz anderen Ecken. Es reichte nicht mehr, satt zu werden, man musste sich auch gesund ernähren und die Umwelt im Auge behalten. Es genügte nicht, ein warmes Haus zu haben, jetzt musste man sich damit auseinandersetzen, wo Strom und Heizöl herkamen. Eine neue Generation Mensch war herangewachsen und hatte gelernt, Fragen zu stellen, ohne Angst vor den Antworten zu haben. Sie fragten, weil die Folgen für andere unbequem waren. Damit machten sie denen das Leben schwer, die dafür sorgten, dass sie so bequem leben konnten. Sie fragten und nahmen sich das Recht, selbst die Antworten zu hinterfragen.

      Ausdauernd trugen sie ihre Fragen auf die Straße. Sie demonstrierten und waren erst einmal gegen alles. Doch sie warfen nicht mehr mit Steinen, trugen keine Waffen, sie schmückten sich mit Sonnenblumen und erfanden eine neue Maßeinheit für Liebe.

      Sunnys Eltern gehörten zu den besonders Berufenen. Sie waren gegen alles, was ihnen nicht richtig erschien, und das war eine ganze Menge und der Grund, warum sie fast das ganze Jahr über in irgendwelchen Camps lebten, die verhindern sollten, dass an dieser Stelle etwas gebaut wurde, was die Gesellschaft ihrer Meinung nach nicht brauchte. Nebenbei studierten sie ein wenig und vergaßen dabei völlig, ihre kleine Tochter auf das Leben vorzubereiten.

      Sunny war ein auffallend hübsches Kind mit ihren langen dunklen Haaren und den großen Augen, die alles so unschuldig betrachteten. Alle liebten das kleine Mädchen, das jeder nur Sunny nannte, und schon bald hatte sie viele Mütter und Väter. Es war eine treue Gemeinschaft, die da zusammenlebte und in gewisser Weise auch auf Gott baute. Denn sie säten nicht, und sie ernteten nicht, und der himmlische Vater Staat ernährte sie doch. So viele Träume hatten sie im Kopf, so viele Parolen und Ideale im Herzen. Und auch in Sunnys Kopf war kaum Platz für die Schule, die sie nur sehr nachlässig besuchte, weil es niemandem wirklich wichtig schien.

      Sie war ein so glücklicher Mensch, was gab es Schöneres auf dieser Welt?

      Eines Tages fand man ihre Eltern friedlich nebeneinander liegend in einem Zelt. Sie hatten gekifft und wer weiß was eingeworfen. Niemand wusste etwas Genaues, und nachdem sie tot waren, wollte es auch niemand genauer wissen. Die anderen sagten, es wäre doch schön für die beiden, weil sie gemeinsam gestorben wären, und Sunny solle sich doch für sie freuen. Aber Sunny konnte sich nicht freuen. Sie hatten sie im Stich gelassen, waren ohne ein Wort, ohne einen Abschied gegangen. Im Grunde waren sie einfach nur feige gewesen, denn sie hatten sich davor gedrückt, Sunny durchs Leben zu begleiten. Das musste jetzt die Gesellschaft übernehmen, die Sunnys Eltern so verabscheut hatten, und die hatte wenig übrig für die Lebensphilosophie der Dauerdemonstranten und steckte Sunny in ein Heim.

      Hatte das Mädchen bis dahin nur miterlebt, was aus einem Menschen werden konnte, wenn er nicht mehr Herr seiner Sinne war, so musste sie diese Erfahrung