Dagmar Isabell Schmidbauer

Der Tote vom Oberhaus


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      Als sie in dem kleinen Häuschen am Anger ankam, hatte sie schon fast vergessen, dass es die Großmutter gab. Doch die nahm sie auf und fütterte sie von ihrer bescheidenen Rente durch. Ob sie sich darüber freute, Sunny bei sich zu haben, das Kind ihrer Tochter, das so wenig Ähnlichkeit mit ihr hatte und wohl absichtlich diesen Namen trug, erfuhr Sunny nie.

      Noch lange nach dem Tod der Großmutter baute Sunny das Gemüse im Garten an und erntete Erdbeeren, so wie die Großmutter ihr das beigebracht hatte. Für einen kurzen Moment war das Haus ein Ort des ungetrübten Glücks.

      Als die Großmutter starb, war Sunny achtzehn Jahre alt und ganz allein. Niemand stand ihr bei, und sie erstickte fast an der Einsamkeit, die sich in ihrem schmalen Körper breitmachte. Die Beerdigung war schlicht, denn die alte Frau hatte keine Zeit gehabt, um Freundschaften zu pflegen, hatte ihr ganzes Leben lang gearbeitet, und als sie ging, war nur Sunny bei ihr. Sie versprach, gut auf das Häuschen und den Garten aufzupassen. Über ihr eigenes Schicksal verlor sie aber kein Wort.

      Als sie sich einige Wochen später wieder aus dem Haus traute, traf sie ganz zufällig einen Mann, den sie, wenn er auch viel älter als sie war, in ihrer jugendlichen Verliebtheit bald schon anhimmelte. Von jetzt an schlug ihr Herz nur noch für ihn. Für die Nächte, die sie mit ihm verbrachte, und für die Tage, an denen sie sich nach ihm verzehrte.

      Nach einiger Zeit zog er bei ihr ein und zeigte ihr, was Liebe wirklich bedeutete, wie sie sich anfühlte und wie sie wuchs und immer größer wurde. Bald darauf war Sunny zum ersten Mal schwanger. Jetzt schien ihr Glück perfekt, und sie dachte, es gäbe keine Möglichkeit mehr, um ihre Freude noch einmal zu vergrößern. Sie brauchte lange, bis sie erkannte, dass die Welt nicht besser war, nur weil man als Kind an die Kraft der Sonnenblume geglaubt hatte.

      „Du hast mich bei Schneidlinger verpetzt!“, keifte Franziska, endlich im Büro angekommen.

      „Was hab ich?“ Hannes sah von seinem Notizbuch auf.

      „Die Sache mit Froschhammer!“ Franziska stand jetzt neben seinem Schreibtisch. Musste ja nicht jeder mitbekommen, was sie mit dem Maler zu schaffen hatte.

      „Traust du mir das wirklich zu?“, entgegnete Hannes und sah zu ihr auf. Sein Blick spiegelte eher Trauer denn Entrüstung wider.

      Franziska wurde unsicher. Doch dann dachte sie an Walters Vermutung, dass Hannes eifersüchtig sei, und begann zu nicken, bevor sie energisch den Kopf schüttelte. „Sag du es mir!“

      „Franziska, wir sind ein Team.“

      Abschätzig verzog Franziska den Mund. Das konnte alles heißen.

      „Also gut“, versicherte er. „Nein, ich habe natürlich nichts gesagt. Wie kommst du überhaupt darauf?“

      „Ich war beim Chef. Und der meinte: Er wolle über alles, was wir ermitteln, Bescheid wissen, alle Fakten kennen und saubere Berichte erhalten!“ Franziska schob einige Unterlagen zur Seite und setzte sich mit der halben Pobacke auf den Schreibtisch. Nachdenklich atmete sie mehrmals tief ein und aus und zog dann einen Schmollmund. Hannes beobachtete die Kollegin amüsiert.

      „Was ist dein Problem?“ Nachdenklich kratzte er sich am Kopf. „So arbeitet man halt bei der Kripo.“

      „Für mich hat sich das nicht nach Arbeitsmoral angehört“, entgegnete Franziska. „Ich glaube, er wollte auf etwas hinaus.“

      „Vielleicht will er uns ja tatsächlich etwas unterstellen.“ Hannes stand auf und setzte sich neben Franziska auf die Schreibtischkante. Dann erklärte er ihr in verschwörerischem Ton: „Ramona hat mir heute Morgen erzählt, dass er die alten Berichte liest.“

      „Du meinst, daher weht der Wind?“ Franziska passte ihre Stimme an.

      Hannes zuckte mit den Schultern und schwieg. Franziska wusste, dass es ihm letztendlich egal sein konnte, wenn sie Ärger mit dem Chef bekam, und dass er sich ohnehin lieber an die Vorschriften hielt. Wenn, dann war sie es, die ihn zu unkonventionellen Praktiken anstiftete.

      Auf einmal rutschte Franziska vom Schreibtisch, stellte sich vor ihn und legte ihm die Hände auf die mageren Schultern, so als wollte sie gleich seinen Kopf zu sich herunter ziehen.

      „Tut mir leid“, lächelte sie ihn entschuldigend an. „Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann. Es ist ja nur wegen …“

      Hannes löste ihre Hände von seinen Schultern und stand ebenfalls auf. „Kein Wort mehr über deinen Nacktmaler, hörst du! Außer, du willst dich beim nächsten Mal hier in unserem Büro malen lassen. Bildunterschrift: Die Kommissarin nackt bei ihren Ermittlungen!“

      Hannes stand auf und holte sich ein frisches Glas vom Regal, dann nahm er eine von Franziskas Flaschen und schenkte sich ungefragt ein. Franziska sah ihm verunsichert zu. „Wie kommst du jetzt darauf?“

      Hannes trank einen großen Schluck Mineralwasser, zog die Augenbrauen hoch und lächelte. „Wir sind ein Team. Denkst du, ich merke es nicht, wenn du was vorhast? So, und jetzt lass uns unser Wissen teilen. Je schneller wir den Fall Mautzenbacher aufgeklärt haben, desto schneller kannst du zu deinem Lover zurück.“

      Franziska verzog das Gesicht. Genau das hatte sie vermeiden wollen, und jetzt steckte sie mitten in einer Kollegenkampagne! ‚Wisst ihr schon das Neuste über Franziska und ihren Nacktmaler?‘ Und am schlimmsten würde es werden, wenn Gruber und Obermüller dahinter kamen.

      Die vergrößerten Fotos von Xaver Mautzenbacher, einmal freundlich in die Kamera blickend, und ein anderes Mal als Leiche mit fahlem Gesicht, Bilder von seiner Bauchwunde sowie von der Partisane waren bisher das Einzige, was an der großen Tafel befestigt worden war. Die Kriminaltechnik hatte etliche Fußabdrücke aus dem Bereich gesichert, wo der Kampf stattgefunden haben musste, saß aber noch an der Auswertung der Spuren. Und das würde, wie Annemarie gleich festgestellt hatte, auch noch ein paar Tage dauern.

      „Wir sind ja hier nicht beim Fernsehen, wo die Auswertung der DNA-Spuren nach ein paar Stunden vorliegt“, verkündete sie, und Franziska schmunzelte, weil sie wusste, wie sehr Annemarie diese Filme mit der Alles-ist-möglich-Aufklärung liebte.

      Hannes begann, Schneidlingers Wunsch entsprechend,

      für alle, die nicht am Tatort gewesen waren, die Fakten zusammenzufassen. „Xaver Mautzenbacher, zweiundvierzig Jahre alt, Beruf unbekannt, wohnhaft in der Böhmerwaldsiedlung. In einer sehr bescheidenen Wohnung.“ Er zeigte auf die vor ihm liegenden Päckchen auf dem Tisch. „Er hatte zwanzigtausend Euro, einen Ausweis und eine Kreditkarte bei sich, außerdem eine Uhr und einen Schlüsselbund.“ Hannes gab die Schale herum. Die Beweisstücke waren alle sauber eingetütet.

      Franziska ergriff das Wort. „Der Mann trug einen teuren Anzug …“

      „Hey, das ist ja eine echte Rolex!“, rief Obermüller auf einmal dazwischen und drehte die Uhr aus der Schale, die gerade bei ihm Station machte, hin und her.

      Hannes lachte amüsiert auf. „Tja, Obermüller, da bist du wohl auf einen Betrug hereingefallen. Diese Uhr ist nur ein billiges Imitat.“

      Doch Obermüller ließ nicht locker. „Das hier ist doch kein Imitat! Das ist eine echte Rolex.“

      „Nein“, lächelte Hannes noch immer. „Mautzenbacher selbst hat seinem Nachbarn gegenüber behauptet, dass es ein Fake ist. Vielleicht ist sie ja einfach nur gut gemacht.“

      „Kennst du dich damit aus?“, fragte Obermüller seinen Nachbarn Gruber und reichte ihm die Uhr, ohne auf Hannes einzugehen. Aber der schüttelte nur den Kopf und gab sie Schneidlinger. Dieser drehte sie hin und her und verkündete siegessicher: „Liebe Kollegen, da gibt es überhaupt keinen Zweifel, die Uhr ist echt!“

      Hannes wollte schon aufbegehren, als Hauptkommissar Schneidlinger mit der Uhr in der Hand aufstand und zu ihm nach