Dagmar Isabell Schmidbauer

Der Tote vom Oberhaus


Скачать книгу

amüsierte er sich gerade, als mit einem Schlag Licht und Fernseher angingen.

      „Was hast du gemacht?“, rief Franziska erschrocken und fixierte entsetzt das Buch, das sie gerade aus dem Regal genommen hatte. Es war falsch herum einsortiert gewesen, und Franziska musste es drehen, um den Titel lesen zu können.

      „Nichts“, entgegnete Hannes, schaute aber vorsichtshalber auf seine Hände.

      Nachdem die Lampen auch nach mehrmaligem Ein- und Ausschalten konstant leuchteten, machten sich die beiden Kommissare mit geübtem Griff an die Durchsuchung des Wohnzimmers.

      „Immerhin liest er“, bemerkte Franziska, schüttelte ein Buch nach dem anderen aus und stellte sie dann wieder ins Regal zurück.

      „Wonach genau suchen wir?“, fragte Hannes und hob die Kissen an, um anschließend unter der vergilbten Wolldecke nachzusehen.

      Ein wenig hilflos blickte Franziska in den kleinen Raum. „Keine Ahnung. Nach etwas, was uns von dem Mann erzählen kann, den wir heute tot im Oberhaus gesehen haben.“

      Hannes öffnete die Balkontür und ließ frische Luft herein. Dann zeigte er mit der rechten Hand auf die Jugendlichen, die immer noch vor dem Wohnblock lümmelten. „Vielleicht können die uns etwas über Mautzenbacher erzählen.“

      Franziska folgte seinem Blick, sah ein paar Zigaretten aufglimmen und spürte selbst über die große Distanz, wie die Musik, mit der sich die Clique aus einem unsichtbaren Gerät beschallen ließ, in ihrem Inneren vibrierte. „Hartz IV als Zukunftsperspektive“, murmelte sie, ging in die Wohnung zurück und schloss die Balkontür, um mit der frischen Luft auch den Lärm wieder auszusperren. „Nein, glaub mir, die interessieren sich nicht für einen wie den Mautzenbacher.“

      Allerdings gab auch seine Wohnung praktisch nichts über ihren Mieter preis. Es gab keine Fotos, keine Rechnungen und keine Urlaubserinnerungen. Nichts.

      „Sieht so aus, als hätte er kein Leben gehabt“, stellte die Kommissarin fest, bevor sie aus der Schublade einer Kommode doch noch ein Foto von ihm herausfischte. Sie zeigte es Hannes.

      „Der Mann auf dem Bild sieht tatsächlich aus wie die Leiche.“

      Franziska wechselte ins Schlafzimmer. Als sie den Kleiderschrank öffnete, hatte sie Angst, er würde jeden Moment auseinanderfallen. Vorsichtshalber hielt sie die Türen fest und sah erst dann genauer hin. Es gab zwei Anzüge, vier Hemden und eine Krawatte. Auf einem Regalbrett lagen eine einfache Trainingshose, zwei ausgeblichene T-Shirts, Unterhosen und Socken, auf dem Boden stand eine Sporttasche mit Werbeaufschrift. Nichts von Wert. Skeptisch sah sie auf die Sachen im Schrank. Etwas fehlte. Sie schloss die Türen und blickte zum Bett. Es war schmal und mit einer fadenscheinigen Bettwäsche bezogen. Auf dem Nachttischchen standen ein Wecker und eine kleine Lampe. Sie zog die einzige Schublade des Möbels auf und stellte fest, dass sie leer war.

      Sie wollte gerade nach Hannes rufen, als ihr dieser im Schlafzimmer entgegenkam.

      „Schau dir das mal an! Der hat doch tatsächlich den Sicherungskasten mit einer Zeitschaltuhr versehen.“

      „Was?“ Franziska verließ das Schlafzimmer und folgte Hannes. „Wie kommt man auf so was?“

      Statt zu antworten, las Hannes die Einstellungen ab. „Von sieben Uhr morgens bis um halb neun, und dann wieder von neun bis elf Uhr abends.“

      „Vielleicht hat er öfter mal vergessen, das Licht auszuschalten, und wollte auf Nummer sicher gehen“, versuchte es Franziska mit einer möglichen Erklärung. Dann wusste sie, was ihr im Schlafzimmer gefehlt hatte. Es gab weder Bettwäsche zum Wechseln noch Handtücher. „Hier stimmt was nicht“, entschied sie und setzte ihre Suche in Küche und Bad fort.

      „Ja, fragt sich nur was …“

      Franziska öffnete den Kühlschrank. „Schlecht geworden wäre zumindest nichts“, berichtete sie Hannes, der noch immer vor dem Sicherungskasten stand. „Er hat nur Bier, H-Milch und Fischdosen gelagert.“

      „Er sparte halt, wo er konnte.“ Hannes stand jetzt hinter ihr, zeigte aber mit dem Kopf in Richtung Flur und Sicherungskasten.

      „An Bettzeug und Handtüchern? Ich weiß nicht. Und stattdessen leistet er sich teure Anzüge und läuft mit zwanzigtausend Euro in der Tasche in der Gegend herum?“

      „Vielleicht hat er geklaut.“

      „Weißt du, was mich wundert?“, fragte Franziska, ohne auf Hannes einzugehen. „Hier gibt es nichts, was auch nur im Entferntesten an einen Beruf erinnert. Noch nicht einmal einen Hartz IV-Bescheid.“

      „Was schlägst du vor?“

      „Wir befragen die Nachbarn. Irgendjemand muss doch was über den Mann wissen. Der war einfach zu jung, um sich so konsequent vor dem Leben zu verstecken!“

      Als Hannes auf den Klingelknopf der Nachbarwohnung drückte, erklärte ihm Franziska betont beiläufig: „Machst du hier bitte alleine weiter? Ich hab noch was zu erledigen.“

      Dann ließ sie ihn stehen und verschwand, ohne auf seine Zustimmung zu warten, im Aufzug. Hannes rief ihr gerade nach, was das zu bedeuten habe, als die Wohnungstür aufging und er von einem Mann in Feinrippunterhemd und mit einer Flasche Bier in der Hand argwöhnisch gemustert wurde. Das Alter des Mannes war schwer zu schätzen. Die besten Jahre lagen aber eindeutig hinter ihm.

      „Willi Geiler?“, fragte Hannes, holte seinen Ausweis aus der Hemdtasche und stellte sich und sein Anliegen kurz vor. Er hatte Mühe, seinen Unmut über Franziskas Verhalten zu verbergen.

      „Kennen? Den Mautzenbacher? Na ja. Ich war mal oben. Auf ein Bier halt. Weiß gar nicht mehr, warum.“

      Geiler hatte den jungen Kommissar in seine Wohnung gebeten, sich aufs Sofa gesetzt und es Hannes überlassen, sich ebenfalls einen Platz zu suchen. Jetzt kratzte er sich nachdenklich an der Stelle auf seiner Brust, wo die langen grauen Haare aus dem Unterhemd hervorlugten. Ohne etwas zu sagen, nahm er einen tiefen Schluck aus seiner Flasche, den Kommissar schien er vergessen zu haben.

      „Wann waren Sie denn bei ihm oben?“

      Obwohl die Balkontür weit offen stand, war es im Zimmer ziemlich warm. Abgestanden, geradezu ekelhaft, wie Hannes fand. Bierdunst mischte sich mit Schweiß und altem Bratenfett, und er überlegte, ob er dem Nachbarn nicht lieber die Bierflasche wegnehmen sollte. Immerhin stand auf dem Tisch schon eine ganze Reihe geleerter Flaschen, und man wusste ja nie, wann der eine Schluck zu viel jede Aussage unmöglich machte.

      Schließlich verkündete Geiler, der noch immer seine Brust bearbeitete: „Der Xaver war ‘ne richtig arme Sau. Der hatte ja gar nix mehr. Der hatte noch nicht mal ’ne Alte, die was von ihm wollte.“

      Hannes konnte nicht sagen, ob der Blick des Mannes ausdruckslos war oder einfach durch ihn hindurchging.

      „Der Xaver, der war dauernd auf Jobsuche. Aber der hat ja nichts gekriegt! Den wollte einfach keiner“, fügte der Nachbar hinzu und hob erneut seine Flasche. „Unqualifiziert war der Xaver! Ja, das hat der gesagt.“

      „Was war er denn eigentlich von Beruf?“, fragte Hannes schnell, und tatsächlich ließ Geiler die Flasche im letzten Moment sinken. Dann sah er ihn überrascht an.

      „Keine Ahnung!“ Geiler schüttelte den Kopf. „Aber der Xaver, der hatte so’n Auto, rot und rostig.“ Geiler lachte kurz auf. „Wir haben uns mal darüber gekabbelt, weil ich sagte: Ist das deine Firma, Rot & Rostig? Das war lustig.“ Geiler trank und stellte nach zwei Schlucken fest, dass seine Flasche leer war.

      „Wollen Sie auch eins?“, fragte er Hannes, der tatsächlich Lust auf ein Bier hatte. Vor allem auf ein kaltes.

      „Danke“, antwortete er und schüttelte höflich den Kopf. „Wir haben es ohnehin gleich, vielleicht könnten Sie so lange …“

      „Na klar, Herr Kommissar. Sie müssen ja weiter,