Dagmar Isabell Schmidbauer

Der Tote vom Oberhaus


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die Kollegen in der Rechtsmedizin in München besser beurteilen. Ich weiß.“ Franziska nickte. „Trotzdem wüsste ich gern, was Sie darüber denken. Sie wissen doch, ich schätze Ihre Meinung.“ Sie schenkte ihm ein aufforderndes Lächeln und fügte verschwörerisch hinzu: „Bis die in München fertig sind …“ Sie beendete den Satz absichtlich nicht. Mit Erfolg: Geschmeichelt erwiderte Buchner ihr Lächeln und setzte zu einer Erklärung an.

      „Ich würde Folgendes vermuten: Die Blattspitze ist oberhalb des Nabels in den Bauch eingedrungen und hat spätestens beim Herausziehen die Aorta aufgerissen.“

      „Was soll das heißen, die Lanze ist in den Bauch eingedrungen? War es vielleicht Suizid?“

      In Franziskas Stimme lag die Hoffnung auf ein schnelles Ende der Ermittlungen.

      „Also, das will ich jetzt wirklich nicht entscheiden“, druckste er herum und sah Hilfe suchend zu Annemarie.

      „Zumindest weist nichts auf einen Kampf hin. Die Unordnung hier scheint von den bevorstehenden Umbaumaßnahmen zu kommen. So wie der Staub, in dem sich zahlreiche Fußabdrücke verewigt haben.“ Annemarie kratzte sich müde am Kopf und stöhnte. „Nichts Eindeutiges, und vor morgen läuft da gar nichts.“

      „Na, das ist doch prima“, fiel Franziska ein. „Dann können wir alle so schnell wie möglich wieder nach Hause auf unser gemütliches Sofa.“

      „Ich dachte, du warst in einer Ausstellung?“, wunderte sich Hannes.

      „Äh, ja, das sagt man doch so, oder?“, Franziska war genervt. Sie wollte nichts weiter als einen freien Abend für alle herausschlagen.

      „Wie auch immer, vergiss deinen freien Abend!“ Annemaries Stimme duldete keinen Widerspruch.

      Ohne auf Hannes und Franziska zu achten, beugte sie sich über eine Asservatenkiste und holte ein in Folie gewickeltes Handy heraus. „Sein Telefon lag direkt neben ihm, und die letzte gespeicherte Nummer ist die 110. Das war übrigens um 14 Uhr 33.“

      „Er könnte es sich anders überlegt haben und wollte Hilfe holen“, spekulierte Franziska, bis ihr langsam dämmerte, dass etwas nicht stimmte. „Um 14 Uhr 33, sagst du. Und warum sind wir erst jetzt hier?“

      „Er hatte keinen Empfang.“ Annemarie zeigte mit dem Kopf zur Wand. „Wir sind im Keller.“

      „Trotzdem, das spricht noch nicht für einen Mord“, beharrte Franziska. Sie beugte sich über die Körpermitte des Toten, um sich dessen Bauchwunde genauer ansehen zu können. „Was ist mit dem Gürtel? War der schon offen, oder habt ihr ihn geöffnet?“

      Annemarie zuckte die Schultern und schaute Buchner an, der nach der Streife als Erster am Tatort angekommen war. Er nickte. „Das Hemd musste ich aufreißen. Der Gürtel dagegen war offen“, sagte er, ohne darüber zu spekulieren, welchen Sinn das machen könnte.

      Franziska stöhnte resigniert und hielt die eingepackte Partisane dicht vor die klaffende Wunde. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie in den Bauch des Toten eingedrungen war, und bat Mona, die Szene mit der Kamera festzuhalten.

      „Möchtest du mit drauf sein?“, fragte Mona und hob die Kamera weit über ihren Kopf. Mithilfe des drehbaren Displays richtete sie das Objektiv aus.

      „Nein, natürlich nicht“, antwortete Franziska verwundert und sah die Kriminaltechnikerin, die gut einen Kopf kleiner als sie war, streng an.

      „Gut, du hast da nämlich was.“Mona lächelte verschmitzt und deutete auf die Stelle unterhalb von Franziskas Schlüsselbein, die Hannes schon zuvor bemerkt hatte.

      Als Mona mit dem Fotografieren fertig war, sah Franziska in die Runde und fragte erneut: „Also, was ist jetzt? Mord oder Suizid?“

      Als niemand reagierte, mutmaßte sie weiter und merkte gar nicht, dass sie sich dabei immer weiter vom gewünschten Resultat entfernte. „Wenn ich mich töten will, indem ich mir diese Blattklinge in den Bauch stoße, dann muss ich die Holzstange ganz nah an der Metallklinge greifen.“ Sie zeigte mit leeren Händen, was sie meinte. „Und sie mir dann mit voller Wucht durch das Hemd in den Bauch stoßen.“ Sie hielt kurz inne, weil das passende Bild vor ihrem inneren Auge nicht entstehen wollte. „Wir wissen, dass Suizidenten oft davor zurückschrecken, die eigene Kleidung zu ruinieren. Warum aber öffnete er die Hose und nicht das Hemd?“

      Sie sah sich um, doch keiner hatte eine Erklärung dafür.

      „Und ich frage mich, wie du das machen willst. Die Holzstange ist fast zwei Meter lang und so schwer, dass du die Waffe kaum waagrecht halten kannst.“ Annemarie grinste sie frech an.

      Franziska warf einen Blick auf die Statur des Toten und meinte lapidar: „Er hatte sicher mehr Kraft als ich.“

      „Vielleicht hat er sie zwischen Boden und Wand geklemmt und sich dann hineingestürzt“, versuchte Hannes, eine Erklärung zu liefern. Man spürte aber, dass ihm bei dieser Überlegung nicht wohl war.

      „Ja, das könnte sein“, nickte Franziska. „Aber, ob ein Mensch so kaltblütig sein kann?“

      „Letztendlich wird uns diese Frage die Rechtsmedizin beantworten müssen. Nur die können anhand des Winkels sagen, ob die Spitze von unten oder von vorn eingedrungen ist. Wobei“, Anni wog die Tatwaffe erneut abschätzend in der Hand und sah sie prüfend an, „wenn er sich hineingestürzt hätte, dann müsste sich viel mehr Blut am Schaft befinden. Und“, sie zögerte, bevor sie ihre Einsicht kundtat, „wäre er dann mit der Waffe im Bauch bis zur Mitte des Raumes gegangen, hätte sie sich dort herausgerissen, auf den Boden geworfen, wäre zusammengebrochen und schließlich auf allen Vieren bis zur Tür gekrochen, nur um festzustellen, dass die verschlossen war?“

      Es lag nicht unbedingt an der Schilderung, die allen den Atem verschlug. Vielmehr war es die Tatsache, dass die Tür verschlossen war. Von außen verschlossen.

      Vom Täter verschlossen?

      „Warum sagst du das nicht gleich?“, fragte Franziska nicht unfreundlich.

      Entschuldigend hob Annemarie die Hände.

      „Abwehrspuren gibt es jedenfalls nicht“, ergänzte Dr. Buchner, der mit seiner Tasche in der Hand das Gespräch verfolgt hatte.

      Franziska überlegte, was diese zwei neuen Erkenntnisse zu bedeuten haben könnten. „Er hat den Täter gekannt und ist von dessen Angriff wahrscheinlich völlig überrumpelt worden.“ Sie hielt einen Moment inne. „Es könnte sogar sein, dass er sich arglos mit ihm hier getroffen hat, während der Täter alles geplant hatte und die Kaltblütigkeit besaß, sein blutendes Opfer eingesperrt zurückzulassen.“

      „Vielleicht ging der Täter davon aus, dass sein Opfer Hilfe holen könnte“, versuchte es Hannes mit einer anderen Version, bis ihm auffiel, dass es noch viel perfider gewesen sein musste. „Der Täter wusste, dass es hier keinen Empfang gab. Er kannte sich aus, schließlich hatte er einen Schlüssel.“

      „Wer hat ihn eigentlich gefunden?“, fragte Franziska. Sie wollte herausfinden, ob derjenige auch als Täter infrage kam.

      „Die Direktorin des Museums entdeckte Blut auf dem Boden unter der Tür und rief uns an, weil sie sie nicht öffnen konnte“, wusste Hannes von den Streifenbeamten.

      „Und wo ist sie jetzt?“

      „In ihrem Büro. Im Gästehaus. Sie war dabei, als unsere Kollegen die Tür aufgeschoben und den Toten gefunden haben, und das ging ihr ziemlich nah.“

      „Wo ist das Gästehaus?“

      „Wenn du die Treppe raufgehst rechts, und dann gleich gegenüber.“

      „Dann werde ich sie dort mal besuchen, vielleicht ist ihr ja sonst noch was aufgefallen“, entschied Franziska und sah Hannes an. „Wo bleibt eigentlich der Chef?“

      Hannes schaute auf seine Uhr. „Er wollte so gegen acht kommen.“ Franziska versuchte, auf seine Uhr zu schielen. „Noch gut fünfzehn Minuten“, ergänzte Hannes.

      Super, dachte