Gabrielle Jesberger

Mary und das geheimnisvolle Gemälde


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(„In Auschwitz wurde niemand vergast“, Friedrich-Ebert-Stiftung, entlarvt sechzig häufige Lügen, s. Literaturverzeichnis.)

      In Abwandlung des Songtextes von Marlene Dietrich "Sag mir, wo die Blumen sind ...", wird die Frage nach dem Verbleib der Juden gestellt: "Sag mir, wo die Juden sind, wo sind sie geblieben? Über Gräber weht der Wind. Wann wird man je versteh'n?"

      Die Nazis hatten eine "doppelte Buchführung" in Form eines eigenen Registers. Ihre Namen müssten in den weltweiten Datenbanken oder in den Opferdatenbanken zu finden sein.

      Jeder einzelne unserer Generation muss sich allerdings die Frage stellen, ob er selbst der Ver­führung widerstanden hätte. Ein weiterer Versuch, das eigene Gewissen zu entlasten ist der Verweis auf Kriegs­verbrechen anderer Völker. Der Angriffs- und Vernich­tungskrieg gegen Russland forderte den höchsten „Blutzoll des Zweiten Weltkrieges“ mit mindestens zwanzig Millio­nen Toten in der Sowjetunion (gegenüber sechs Millionen Deutscher). Dieser Zusammenhang als Ursache für russi­sche Racheakte wurde und wird einfach unter den Teppich gekehrt und nur von den „bösen“ Russen gesprochen.

       Der alte Spessartdoktor

      Wie eine gefällte Eiche, deren Blätter und Zweige kraftlos wurden und langsam verdorrten, schwand Richards Vitali­tät. Ihm war, als ob ein Mühlstein auf seiner Brust läge. Gebeugt und mit schwerem Schritt stützte er sich auf seinen Stock. Er, der zeitlebens vor Ideen und Humor gesprüht und meist mehrere Projekte gleichzeitig verfolgt hatte, wurde immer schweigsamer, als fehlten ihm auf einmal die pas­senden Worte. Immer öfter fand Else ihren Vater gedan­kenverloren in seinem Lehnstuhl sitzend, den Kopf auf seine Hand gestützt, als ob er ihm durch all die verwirren­den Gedanken zu schwer geworden wäre. Sein langer Bart war weiß geworden wie sein schütteres Haar. Seine hellen blauen Augen hatten ihren Glanz verloren. Er, der immer so gerne Konversationen geführt, dem man in geselliger Runde gerne zugehört hatte, wurde immer stiller. Er, der von einer plötzlichen Inspiration, selbst von jedem neuen Gedankenblitz so berauscht schien, dass er nie an seinem Erfolg gezweifelt hatte und dem es so mühelos gelungen war, seine Umgebung damit in den Bann zu ziehen, dass es der eigenen Familie manchmal sogar zu anstrengend wurde, ihm in seinen Gedankengängen zu folgen, wurde mit einem Mal bei alltäglichen Dingen unsicher. Richards Sprachlo­sigkeit wurde mehr und mehr zu einem Gefängnis, in das die Familie kaum noch eindringen konnte.

      Dem Zusammenbruch seines Weltbildes, der Richard in seinen Grundfesten erschütterte, folgte ein Rückzug, in dem er sich immer häufiger nur noch danach sehnte, die quälen­den Gedanken vergessen zu können. Wie gut, dass Mary diese Schreckenszeit nicht mehr erleben musste. Nach und nach legte sich der besänftigende Schleier des Vergessens über seine Verzweiflung und erlöste mit der Zeit die quä­lende Unruhe in ihm.

      Durch die Dominanz der väterlichen Pastorenfamilie mit dem lutherischen Antisemitismus und der evangeli­schen Erziehung seiner eigenen Kinder stand dieser Geist der Familie Wehsarg in der Villa Elsava im Vordergrund. Im Dritten Reich wurde die gegensätzliche liberal-demo­kratisch katholische Einstellung der Familie Wagner ver­schwiegen. Sie passte nicht in den Zeitgeist und wurde den nachfolgenden Generationen so lange nicht vermittelt, bis die Familiengeschichte des Dr. Franz Wagner ans Licht geholt wurde.

      Annemarie bemerkte als erste, dass Opapa auffällig oft rastlos mit hängendem Kopf durch die hohen Räume der Villa ging, als ob er etwas suchen würde. Auf ihre Frage schüttelte er nur stumm den Kopf und schaute zu Boden. Ein andermal redete er zusammenhanglos von der Eisen­bahn und als Mie auf ihn einging, sich bei ihm einhakte und ihn auf dem Weg „zur Bahn“ begleitete, indem sie die „Reise nach Jerusalem“ mit ihm spielte, mehrmals mit ihm im Salon um den großen Tisch ging, um sich dann - wie im Abteil des Zuges - auf zwei nebeneinander stehende Stühle zu setzen, drückte er mit einem glücklichen Lächeln wort­los die Hand seiner Enkeltochter. Sie wusste, jetzt fuhr er in seiner geliebten Spessarteisenbahn.

      Bevor Lilo zurückging in die Küche schaute sie durch das hohe Fenster zum Park und konnte gerade noch sehen, wie Wolfgang eine Ziege an der Leine führte, die jüngere trot­tete hinterher und Udo versuchte sie mit lautem „Maxi“-Rufen und einem Stock in die richtige Richtung zu treiben. Sie ließen sich nicht die Zeit, ihre Schuhe anzuziehen und liefen barfuß auf die Wiese zu, die hinter dem Park lag. Ein Anblick, an dem sich Lilo gar nicht sattsehen konnte. Wie gut, dass die beiden heute ihre robusten kurzen Lederhosen angezogen haben! Inge, die gerade eben noch mit der klei­nen Katze gespielt hatte, bemühte sich, sie einzuholen.

      Rechtzeitig zum Abendessen kamen die drei mit einem Mordshunger zurück. Schweigend, wie von Papi gefordert, saßen sie am Tisch. Ihre Ungeduld konnten sie allerdings kaum zügeln. Udo baumelte so heftig mit den Beinen unter dem Tisch, dass er an die Stuhlbeine schlug und ein lautes rhythmisches Stakkato die Stille unterbrach. Inge half ihrer Mutter und Tante Lilo in der Küche. Wolfgang rutschte auf seinem Platz hin und her, bis Papi einen strafenden Blick über den Tisch schickte und mit energischem Blick erwar­tungsvoll in Richtung Küche schaute. Wo blieb Lilo nur mit dem Abendessen?

      Opapa, der sich nach seinem Mittagsschlaf regelmäßig in den Malepartus zurückzog, um ungestört seine Pfeife mit dem eigenen Tabak zu genießen, den er selbst im Garten angepflanzt hatte und der zum Trocknen auf einer langen Leine im Speicher hing, war noch nicht zurückgekommen, obwohl es schon dunkel wurde. Seine Tochter fand ihn gedankenversunken im Lehnstuhl am Fenster. Sanft be­rührte sie ihn an der Schulter: „Papa, hast du noch keinen Hunger? Komm, lass uns ins Haus gehen!“ Als er auf­schaute, schien sein Blick ins Leere zu wandern. „Ich warte noch auf mein Knüddelchen“, flüsterte er kaum hörbar. Else erschrak. Wurde ihr Vater jetzt noch verwirrter? Dann fasste sie sich, half ihm auf, hakte sich bei ihm unter und bemühte sich, heiter zu wirken: „Du weißt doch, Papa, wo sie ist, wir gehen zu ihr!“ Seit dem Tod ihrer Mutter vor nun bereits sechsundzwanzig Jahren ging ihr Vater nie schlafen ohne zuvor an die Vitrine zu treten, auf der die Urne mit der Asche seiner verstorbenen Frau auf einem zarten Spitzendeckchen stand. Heute stützte er sich schwer mit einer Hand auf seinen Stock und der anderen auf dem tischhohen Sockel ab. Nachdenklich beobachtete Else, wie ihr Vater sehr lange seinen Blick auf dem Selbstportrait seiner Frau ruhen ließ.

      Bevor sie am Abend zu Bett ging, öffnete sie leise die Türe zum Zimmer ihres Vaters. Sie war besorgt, weil er keinen Appetit hatte und das Abendessen stehenließ. Lis­beth, das Hausmädchen hatte eigens einen Grießbrei ge­kocht, den er so gerne aß, aber an diesem Abend schien ihn auch der feine Zimtduft, der sich aus der Küche verbreitete, nicht zu locken. Im Lichtschein des Flures sah Else, dass ihr Vater mit offenen Augen und wie zum Gebet ver­schränkten Händen im Bett lag. Vorsichtig trat sie zu ihm und strich ihm über die Schulter: „Geht es dir besser, Papa?“ Sie war nicht sicher, ob er sie überhaupt hörte. Er schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein. Else setzte sich auf die Bettkante und wartete. Richard hatte die Augen geschlossen und nach ein paar Atemzügen, die ihm sicht­lich Mühe machten, hörte sie ihn flüstern: „Ich komm‘ bald zu dir, mein Liebes!“

      Noch vor ein paar Wochen hatte Opapa mitgeholfen beim Aufstapeln des Holzes für den Heizvorrat im Winter. Trotz seiner Beinamputation und der anderen - noch lange nicht verheilten - Kriegsverletzungen bemühte sich Willi, einen ganzen Ster Holz mit dem Beil in entsprechende Scheite zu hauen. Hochdekoriert war er vom Krieg zurückgekommen. Doch nun war er nur einer von vielen Kriegsinvaliden, ein junger Mann, kurz vor seinem einunddreißigsten Geburts­tag, der die letzten Kräfte mobilisierte, um für seine Familie da zu sein. Doch der so sehnlich Erwartete, der endlich Heimgekehrte, schien oft nur körperlich anwesend zu sein. Lilo konnte es an seinen Augen ablesen, dass er das Erleben im Krieg noch nicht hinter sich gelassen hatte. Sie spürte seine stumme Ablehnung, wagte nicht weiter zu fragen, wenn er nur von der Verbundenheit mit seiner Kompanie und seinem Burschen berichtete. Seine aufkommenden Gedanken, erst jetzt, wo der Krieg beendet war, die Szenen, die ihn mitten in der Nacht aus dem Schlaf aufschrecken ließen, quälten ihn erbarmungslos. Wie es ihm möglich war, auf Menschen zu schießen, obwohl er wusste, das vorsätzliche Töten ist Mord und durch den Krieg war es mit einem Mal in Heldentum verwandelt, erschütterte ihn bis ins Mark. Schweißgebadet lag er Nacht für Nacht auf sei­nem Kissen. Seine Schweigsamkeit, seine Ungeduld, sein Jähzorn waren für Lilo und die beiden Söhne erschreckend. Willi