Gabrielle Jesberger

Mary und das geheimnisvolle Gemälde


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jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. ‚Das jüdische Volk wird ausgerottet‘ sagt ein jeder Parteigenosse. Ganz klar steht in unserem Programm Ausschaltung der Juden; Ausrottung machen wir. Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist klar, die anderen sind Schweine, aber dieser ist ein prima Jude. Von allen die so reden, hat keiner zugesehen und durchgestan­den. Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100, 500 oder 1000 Leichen daliegen. Dies durchge­halten zu haben und dabei, abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwäche, ‚anständig‘ geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes Ruhmesblatt unserer Geschichte“. Dass Himmler mit diesen Zahlen untertrieben hat, zeigt stellvertretend das Massaker in der Schlucht von Babyn Yar, Nähe Kiew, bei dem - mit „logistischer“ Unterstützung der Wehrmacht - innerhalb 36 Stunden 33.000 Juden (Männer, Frauen und Kinder) von seinen Schergen erschossen wurden.

      Einzelne Vertreter verschiedener Kirchen prangerten in ihren Predigten die Judenverfolgung oder Konzentrations­lager an und erhielten daraufhin Rede- und Schreibverbot oder wurden selbst in Konzentrationslagern inhaftiert. Ei­nige Theologen, wie Niemöller und Bonhoeffer, leisteten aktiven und passiven Widerstand. Die Württembergische Pfarrhauskette, organisiert durch Theodor Dipper, war eine Untergrundorganisation evangelischer Pfarrer zur Rettung von Juden. Die Mitglieder der Weißen Rose (Scholl, Probst, Graf, Schmorell) druckten und verteilten im Juni 1942 bis zum Februar 43 Flugblätter. Sie handelten nach eigener Aussage aus christlicher Überzeugung und wurden ebenso wie Bonhoeffer hingerichtet. Doch allen Gruppen des Wi­derstandes war bewusst, dass sie eine verschwindend kleine Minderheit der Bevölkerung darstellten. Sie besaßen keine realistische Chance, das System grundlegend zu ändern. Eine Unterstützung durch die Alliierten erhielt der deutsche Widerstand nicht, vielmehr führte die Forderung einer be­dingungslosen Kapitulation zu einer Solidarisierung mit der Führung und gab dem Widerstand keine Möglichkeit, durch eine Machtübernahme die Friedensbedingungen zu verbes­sern.

      Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf der Synode von Weißensee 1950 leitete die Evangelische Kir­che in Deutschland einen Bruch mit dem Antijudaismus ein, schwieg aber lange zu Luthers Judenaussagen. 1969 nahm der Lutherische Weltbund erstmals offiziell Stellung zu Luthers Judentexten: Er habe Juden darin auf grausame und gefährliche Weise angegriffen und damit seiner Kreu­zestheologie widersprochen. Zum 500-jährigen Reformationsjubiläum sollte sich die Evan­gelische Kirche der Klärung von Luthers antijüdischer Grundhaltung stellen. „Das weitreichende Versagen der Evangelischen Kirche gegenüber dem jüdischen Volk er­füllt uns mit Trauer und Scham.“ Der Wissenschaftliche Beirat der EKD erklärte in seiner Orientierungsschrift: Völkische Antisemiten hätten Luthers antijüdische Schrif­ten mit ihrem rassenbiologischen Programm verbunden und für die nationalsozialistische Judenpolitik benutzt. Daran hätten sich „je länger, je mehr“ auch evangelische Theolo­gen beteiligt. Heute gelten Luthers Judenschriften als schlechterdings unvereinbar mit seiner eigenen Theologie und dem Neuen Testament.

      Dass sich nicht nur in Deutschland über mehrere Genera­tionen ein tiefsitzender Groll gegen jüdische Bürger aufge­baut hatte, sah Richard bestätigt durch seine eigenen un­freiwilligen Beobachtungen in den letzten Jahren während seiner Hausbesuche im Spessart. Er hatte nicht nur einmal gesehen, wie ein jüdischer Kaufmann in ein Haus ging, das mehr einer Hütte glich, während kurz darauf der Besitzer durch die Hintertüre verschwand. Richard wusste, dies war nicht nur für einen einzigen Schuldner die letzte Möglich­keit, durch seine Ehefrau den angelaufenen Zinsen zu ent­kommen. Sich Geld zu leihen gegen einen Schuldschein war manchmal in der Not die Rettung vor dem Verhungern. Und wenn einige Juden Zinsen verlangten, die die Schuld­ner nicht begleichen konnten, wuchs der Unmut. Es hieß, die Zinsen seien für die Juden wie für die Bauern die Egge und der Pflug. Betrügereien durch Deutsche - wie legali­sierter Diebstahl jüdischen Eigentums in der NS-Zeit - wurden dagegen verdrängt, da dies nicht in das Bild des angeblich „ehrlichen und aufrechten Deutschen“ passte.

      Seit vielen Jahren hatte sich ein Neid-Antisemitismus in einigen Teilen der Bevölkerung entwickelt, der sich aus­gebreitet hatte. Die von Hitler angekündigte „Juden-Ver­nichtung“ nahm kaum jemand wörtlich, wie auch die Reichstagsrede vom 30. Januar 39: „Wenn es dem interna­tionalen Finanzjudentum gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergeb­nis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ - und im Jahre 1941/42 über die Endlö­sung: „Wenn wir diese Pest ausrotten, so vollbringen wir eine Tat für die Menschheit […] Wir werden gesund, wenn wir den Juden eliminieren.“

      Kaum jemand war in der Lage, sich das Grauen des be­ginnenden Holocaust vorzustellen. Propagandafilme der Nazis zeigten demonstrativ Filmaufnahmen vom Lager Theresienstadt, in denen der Tagesablauf der jüdischen Familien wie in einem Ferienlager, sogar mit eigenem Ge­müsegarten und Sportprogramm, zu sehen war. Die Bilder sollten die Bevölkerung, die mehrheitlich das Aussiedeln der Juden aus Deutschland begrüßten, täuschen und von der grausamen Wahrheit ablenken. Im krassen Gegensatz dazu wurden filmisch auf perfide Weise die grauenhaften Ver­hältnisse im Warschauer Ghetto für ein verfälschtes Bild „des Juden“ ausgeschlachtet, mit dem Tenor, er sei ein parasitärer, verlauster, schmutziger und unkultivierter Un­termensch. Dieser hätte damit, nach der Lesart des angeb­lich zivilisierten arischen Herrenmenschen, in einem neuen Großdeutschen Reich kein Lebensrecht mehr. Für diese sog. „Parasiten des Deutschen Reichs“ blieb als logische Konsequenz nur die Endlösung mit Zyklon B.

      Auch die Kirche war informiert, wie ein Appell vom 16. Juli 43 des Bischofs Wurm - der schon 1940 gegen das Euthanasie-Programm protestierte - an Hitler beweist: […] Die Liebe zu meinem Volk, dessen Geschicke ich als 75-Jähriger seit vielen Jahrzehnten mit innerster Anteilnahme verfolge und für das ich im engsten Familienkreis schwere Opfer gebracht habe, drängt mich aber dazu, es noch ein­mal mit einem offenen Wort zu versuchen. […] Für die lebenden, wie für die gefallenen evangelischen Christen Deutschlands wende ich mich als ältester evangelischer Bischof, des Einverständnisses weiter Kreise in der evan­gelischen Kirche gewiss, an den Führer und die Regierung des Deutschen Reiches. Nachdem die dem deutschen Zu­griff unterliegenden Nichtarier in größtem Umfang „besei­tigt“ worden sind, muss befürchtet werden, dass nunmehr auch die bisher noch verschont gebliebenen „privilegierten Nichtarier“ erneut in Gefahr sind, in gleicher Weise be­handelt zu werden. Insbesondere erheben wir eindringli­chen Widerspruch gegen solche Maßnahmen, die die eheli­che Gemeinschaft in rechtlich unantastbaren Familien und die aus diesen Ehen hervorgegangenen Kinder bedrohen. Diese Absichten stehen, ebenso wie die gegen die anderen ergriffenen Vernichtungsmaßnahmen, im schärfsten Wider­spruch zu dem Gebot Gottes und verletzen das Fundament alles abendländischen Denkens und Lebens: Das gottgege­bene Urrecht menschlichen Daseins und menschlicher Würde überhaupt. In der Berufung auf dieses göttliche Urrecht des Menschen schlechthin erheben wir feierlich die Stimme, auch gegen zahlreiche Maßnahmen in den besetz­ten Gebieten. Vorgänge, die in der Heimat bekannt gewor­den sind und viel besprochen werden, belasten das Gewis­sen und die Kraft unzähliger Männer und Frauen im deut­schen Volk auf das schwerste; sie leiden unter manchen Maßnahmen mehr, als unter den Opfern, die sie jeden Tag bringen. Und in einem weiteren Appell im Dezember 1943: […] dass wir als Christen diese Vernichtungspolitik gegen das Judentum als ein schweres und für das deutsche Volk verhängnisvolles Unrecht empfinden. Das Töten ohne Kriegsnotwendigkeit und ohne Urteilsspruch widerspricht auch dann dem Gebote Gottes, wenn es von der Obrigkeit angeordnet wird, und wie jedes bewusste Übertreten von Gottes Geboten rächt sich auch dies früher oder später. Diese Appelle wurden von Hitler nicht beantwortet und blieben vorerst ohne Folgen, da sie nicht in den Kirchen verkündet wurden. 1944 erhielt Bischof Wurm allerdings Schreib- und Redeverbot. Über den Rundfunksender Lon­don wurden die Appelle jedoch in norwegischer Sprache verbreitet. (Der Originalbrief kann im Internet unter „evan­gelischer Widerstand“ nachgelesen werden.)

      Dass viele Deutsche den späteren Verschwörungstheo­rien der Holocaustleugnung gerne Glauben schenkten, ist aus psychologischer Sicht nicht verwunderlich. Damit konnte man den unvorstellbaren Vorwurf, Hitler sei ein millionenfacher Massen- und Kindesmörder gewesen,