Gabrielle Jesberger

Mary und das geheimnisvolle Gemälde


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Flugblättern. In „Mein Kampf“ schrieb Hitler: Die Protokolle der Weisen von Zion sollen auf einer Fälschung beruhen, stöhnt immer wieder die Frankfurter Zeitung in die Welt hinaus, der beste Beweis dafür, dass sie echt sind. Irgendein Beweis, dass die sog. Protokolle irgendwo und irgendwann von einem oder mehreren Juden im Auftrag einer geheimen „jüdischen Weltregierung“ ausgearbeitet, vorgetragen oder beraten worden sind, wurde nie erbracht. Die Nationalso­zialisten solidarisierten sich noch während der Weimarer Republik mit den Attentätern, obwohl die Mörder Rathe­naus eine monarchistische Gegenrevolution auslösen woll­ten und keine faschistische Nationalrevolution.

      Nach 1945 wurde das Schlagwort von dem „ersten Op­fer des Dritten Reiches“ populär. Rathenau sei sowohl ein erstes Opfer des Dritten, wie ein letztes Opfer des Zweiten Reiches gewesen. Die politischen Reaktionen auf das At­tentat waren enorm. Es kam zu Tumulten, Millionen Deutsche demonstrierten in Protestkundgebungen und Trauerzügen gegen den konterrevolutionären Terror, aber der Bürgerkrieg, auf den die Terroristen gesetzt hatten, blieb aus. Die Reaktionen auf die Ermordung Rathenaus stärkten letztendlich die Weimarer Republik. Das Deutsch­landlied wurde zur Nationalhymne erhoben. Die Bevölke­rung sah die Ermordung ihres Außenministers als Opfer für die Demokratie.

      Else und Ludwig hatten sich ihr Leben mit den Kindern nun endgültig in der Villa eingerichtet. Schweren Herzens musste Ludwig seine beruflichen Pläne aufgeben. Jetzt, nach Kriegsende, fand er den Anschluss an sein Philoso­phie-Studium nicht mehr. Dozent an einer Universität zu werden, war während der Kriegsjahre sein ersehntes Ziel gewesen.

      Dennoch arbeitete Ludwig in Anlehnung an Platons Werk „Politeia“ an einer Abhandlung „Der Staatsmann“, die in einem Buch des „Leuchter“, einem Verlag für philo­sophische Schriften in Darmstadt, 1922 veröffentlicht wurde. Er ließ seine Frau nicht nur gerne teilhaben an sei­nen Gedanken, er diktierte ihr sogar den über zweihundert Seiten langen Text, den sie mit ihrer schönen Handschrift für den Verlag zu Papier brachte. Lu zitierte Platon, der Sokrates‘ Texte niederschrieb: Das wichtigste, was wir Menschen im Leben lernen müssen, ist nachzudenken. Er vertiefte sich in Nietzsches Werke und stimmte überein mit Hegel: Der Kampf der Vernunft besteht darin, dasjenige, was der Verstand fixiert hat, zu überwinden.

      Else war durch eine unerwartete Schwangerschaft sehr erschöpft und die übernommene Verantwortung überfor­derte sie. Ihre Schwiegereltern und die Schwägerin boten ihr an, die siebenjährige Liselotte einige Zeit zu sich zu nehmen. In Rheinhessen konnte sie zur Schule gehen und erhielt die bestmögliche Förderung des Opas, der ihre musi­sche Begabung erkannte und nach den Hausaufgaben täg­lich mit ihr am Klavier saß.

      Am 19. Januar 1923 kam der kleine Wilhelm Otto Franz zur Welt. Die Geburt setzte sehr plötzlich und einige Wo­chen zu früh ein. Der zarte Junge war zu schwach und lebte nur einen Tag. Else war sehr geschwächt und erholte sich nur langsam.

      Mie bemühte sich täglich, Opapa von seinem Heimweh nach Lisekind abzulenken, die inzwischen in Darmstadt ein Gymnasium mit Internat besuchte, und die beiden tempe­ramentvollen Buben brachten ihn mit ihren Streichen zum Lachen.

      Am Heiligen Abend 1935 überraschte Richard seine Toch­ter Else mit einem Bild, auf dem er einen Rosenstrauß in zarten Pastellfarben festhielt, den er erst einen Tag zuvor zusammengestellt hatte. Der sonnige Herbst war in einen außergewöhnlich milden Winter übergegangen. Kein Frost hatte die zarten Rosenblüten zerstört und Richard schnitt behutsam von Marys Rosenstock die letzten vollerblühten weißen Rosen. Viele Stunden hatte er sich mit Hingabe seinem Werk gewidmet, versunken in Erinnerungen der gemeinsamen Jahre. Bevor er das fertige Bild in den ver­goldeten Rahmen legte, schrieb er Rosen zu Weihnachten 1935 darunter. Else wusste, Papa hatte die weißen Rosen für seine Frau gemalt und stellte das Bild neben Mutters Urne.

      1933 war die Machtergreifung durch Adolf Hitler erfolgt. Am 11. September 1938 schrieb Else begeistert auf ihrer Ansichtskarte mit einem Foto vom Führer - neben B. von Schirach, dem Leiter der HJ, - in seiner Grußhaltung mit ausgestrecktem Arm (der stereotype „Deutsche Gruß“) beim Vorbeimarsch der Hitlerjugend unter dem Haken­kreuz: Hurra, den Führer gesehen! Tapfer erkämpft im drückendsten Gewimmel. Hoffe heute Abend wieder erleben zu dürfen, den Führer zu sehen. Innigst Eure Mutsch. Else und Lilo waren in Begleitung einer Freundin mit dem Fahr­rad mehrere Tage unterwegs gewesen nach Nürnberg zum Reichsparteitag. Seit einigen Monaten leitete Else mit ihren beiden Töchtern für den BDM (Bund deutscher Mädchen) im Park ein fröhliches Beisammensein für junge Frauen im Dorf. Sie kamen gerne, denn die leichte Gymnastik und frohen Lieder waren wie eine Belohnung für die harte Ar­beit zu Hause auf dem Bauernhof. Daneben war Else enga­giertes Mitglied in der NS-Frauenschaft.

      Nach einundzwanzig Jahren einer fragilen Friedenszeit und der Machtergreifung Hitlers brach 1939 erneut ein Krieg aus. Die Wunden des verlorenen Ersten Weltkrieges waren noch lange nicht verheilt. Eine ganze demoralisierte Generation ließ sich vom Hitler-Regime überzeugen, dass die Schmach des verlorenen Krieges nur durch einen gran­diosen Sieg in einem erneuten Krieg zu vergelten wäre. Kaum einer im Land wollte nicht gerne den Versprechun­gen glauben.

      Nach Hitlers Überfall auf Polen 1939 (ausgelöst durch eine von der SS inszenierten, angeblich polnischen Beset­zung des Reichssenders Gleiwitz, Nähe Kattowitz) und der daraus resultierenden Kriegserklärung Englands und Frank­reichs, aufgrund des Beistandspaktes mit Polen, war der Flächenbrand mitten im Herzen Europas entfacht und brei­tete sich als Zweiter Weltkrieg aus. Nach den schnellen Anfangssiegen, des sogenannten Blitzkrieges über Polen und Frankreich, gelang es Hitler, mit seinen Parolen und Verspre­chungen eines Endsieges, den Kampfgeist für das Vaterland bei vielen jungen Männern zu wecken.

      Am Abend war Richard - wie am Ende jedes Tages - in Gedanken bei seiner geliebten Frau und erzählte ihr von den aktuellen Ereignissen. Vor allem lauschte er auf ihre vertraute Stimme, ihre warmherzigen Worte, die trotz der jahrelangen Trennung, nach wie vor nicht in ihm verklun­gen waren: Jetzt sah er wieder in ihre tränenfeuchten Au­gen, als sie vor Jahren zu ihm sagte: „Richard, ich denke gerade an die Worte von Hegel: ‚Alle großen weltge­schichtlichen Vorgänge ereignen sich zweimal.“ Hatte Mary den Zweiten Weltkrieg etwa vorausgeahnt?

      Nach Kriegsende 1918 hatte Ludwig eine Stelle als Ausbil­der im Werksunterricht der „Glanzstoff“ - die größte Firma im Umkreis für Kunstfaserprodukte - angetreten. Diese Aufgabe war allerdings nicht das, was er sich nach seinem Philosophie-Studium vorgestellt hatte und so sah er seine erneute Einberufung zum Militär als eine Herausforderung, die ihm Abwechslung brachte und auch neue Anerkennun­gen, mit denen er an seine Auszeichnungen während des Ersten Weltkrieges anknüpfen konnte. Im Mai 1940 hielt Ludwig sich bereits in Bad Orb als Hauptmann mit seiner Kompanie zur Ausbildung auf. Auch sein Sohn Richard hatte sich freiwillig gemeldet und war längst mit seinen Kameraden auf dem Weg nach Finnland.

      Vereinzelt kamen die Meldungen von gefallenen Sol­daten aus den Nachbarorten. Zu wissen, dass draußen der Kampf tobte, die Männer der Familie bis auf den alten Opapa und den neunzehnjährigen Franzkarl, den Dickel, noch zu Hause waren, machte die plötzliche Ruhe im Haus fast unerträglich.

      Ende Mai 1940 meldeten die Nachrichten grandiose Er­folge, wie sie angeblich die Weltgeschichte noch nie erlebt hatte. Else schrieb euphorisch an Lu: Alles wird beseelt von dem einen Manne, der Deutschlands Glück und Hoffnung ist, und wie Du schreibst, die Weltgeschichte gestalten wird.

      Franzl, als Kind der kleine Rebell in der Familie, von dem Opapa manchmal kopfschüttelnd sagte: „der Bub ist wie ein kleines Füllen, das um sich schlägt, wenn man ihm zu nah kommt“, wurde in letzter Zeit sehr still. Jetzt, wo auch Edgar, Annemaries Mann, eingezogen worden war und Willi, Liselottes Mann, bei den Luftlandetruppen kämpfte und bereits das Eiserne Kreuz erhalten hatte, fühlte sich auch Franzkarl mitgerissen von der Euphorie, die die Feldpostbriefe ins Haus brachten, war er doch mit seinem Bruder Richard durch ihre gemeinsame Zeit in der Hitlerju­gend längst eingestimmt: „Meine Ehre heißt Treue“, klang es begeistert im Chor. „Auch Willi ist ein willensstarker, großartiger Kämpfer!“, rief Else anerkennend aus.

      Franzkarl traute sich allerdings noch nicht, der Familie seine Pläne zu offenbaren,