Gabrielle Jesberger

Mary und das geheimnisvolle Gemälde


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ästhetischen Empfindens war auch der kleine Kurpark des Sanatoriums, den sie selber gestaltete. Die Liebe zur Natur und Stille waren besonders wertvoll für sie und eine Kraftquelle für ihr Leben.

      Mary starb 1920, während ihr Mann noch 21 Jahre überlebte, bis zuletzt ganz untröstlich. Richard hatte sich nicht nur als besorgter und geachteter Arzt, sondern auch für die Verbesserung der armen Menschen eingesetzt (z. B. Tourismus durch „Spessartzeitschrift“ und Spessarteisen­bahn).

      Sehr interessant sind auch die Informationen über den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Zeit und den National­sozialismus. Dazu gehört vor allem der Antisemitismus, verwurzelt im jahrhundertealten Antijudaismus, Judenhass Luthers und das Versagen der evangelischen Kirche (auch teilweise der katholischen), ausgenommen einige wenige Mutige.

      Der Begeisterung großer Bevölkerungskreise für Hitler (nach 45 wollten viele es nicht gewesen sein), u. a. auch missbrauchtem Idealismus und geschickter „Inszenierung von Massenerleben“, Versprechen von „goldenen Zeiten“, erlag auch Marys Mann. Das späte Erkennen der grausamen Realität der Nazis war für ihn der Zusammenbruch seines Weltbildes. Eine ehrliche Selbstkritik (im Gegensatz zu Verstockten, Unbelehrbaren nach 45).

      Marys Pflege der Kunst ist so wichtig in einer gewalttä­tigen Welt. Vor allem ihre Botschaft von Liebe und Frieden ist heute besonders aktuell! So drückt es ja auch Willigis Jäger aus: „Wir müssen uns zuerst und vor allem die Frage stellen, wie viel wir geliebt haben.“

      Das Buch lässt uns auch wieder erkennen: „Die Erinne­rung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.“ (Jean Paul)

      Moos-Weiler, im November 2017

      Bernd Wagenbach

      Studiendirektor i. R.

       Was wir am Ende unseres Lebens in Händen halten,

       sind nicht unsere Leistungen und unsere Werke.

       Wir werden uns zuerst und vor allem der Frage stellen müssen, wie viel wir geliebt haben .

      Willigis Jäger

      Teil 1

       Einleitung

      Seit mehr als fünfzig Jahren spricht das Bild der Maria zu mir. Es hängt an der Wand in unserem Wohnzim­mer: ein Ölgemälde, auf dem ein madonnengleiches feinge­schnittenes Gesicht mit einem melancholischen, nach innen gewandten Gesichtsausdruck zu sehen ist, umhüllt von einem zarten durchsichtigen Schleier über der Stirn und einem taubenblauen Umhang, der vom Haupt bis über die schmalen Schultern reicht.

      Das Bild war ein Geschenk der Großmutter meines Mannes zu unserer Hochzeit. Die Bedeutung des Zere­moniells - dieser etwas außergewöhnlichen Übergabe - enthüllte sich mir erst im Laufe unzähliger Zwiesprachen mit „meiner Maria“.

      Bereits im ersten Augenblick, als ich ein etwa 35 x 45 cm großes Bild vor mir sah, das provisorisch an vier Holzlatten hing, die Ecken lose baumelnd, ging etwas Geheimnisvolles von ihm aus: ein altes Ölbild, sehr dunkel und von unzähligen kleinen Rissen überzogen, mit Mühe war in dem dämmrigen Licht ein Frauenkopf zu erkennen. Omi hatte es gerade aus einem staubigen Winkel vom Spei­cher geholt, wo es wohl lange Zeit unbeachtet lag. Und doch ging eine Faszination von diesem Bild aus, dass ich nicht nein sagen konnte, als sie mich fragte, ob ich es möchte. „Meine Mutter hat es gemalt“, damit drückte Omi mir ihr Geschenk in die Hand. Später, beim ersten Be­trachten bei Licht zu Hause, war ein Madonnen-Portrait zu erkennen.

      Mit meinem letzten mühsam Ersparten suchte ich einen Restaurator auf, dafür musste der Küchenzettel einige Zeit schmaler ausfallen. Mit Kennerblick versprach er mir, das Bild schonend und sorgfältig zu reinigen und aufzufrischen. Ich suchte einen passenden Rahmen aus, in dem sich - wie ein blaues Band um das Gemälde - die Farbe des Umhanges wiederholt.

      Als ich meine Madonna beim Abholen sah, erkannte ich sie kaum wieder. Der Anblick ergriff mich, dass ich keine Worte fand. Der Restaurator sah die Tränen in meinen Au­gen und schwieg. Behutsam, beinahe mit Andacht, packte er das Gemälde ein und ich transportierte „meine Maria“ sorgsam auf dem Schoß quer durch Regensburg in der Stra­ßenbahn und dem Bus zu unserer ersten Wohnung im zwölften Stock eines Hochhauses. Das Ölgemälde fand einen Ehrenplatz in unserem Wohnzimmer und stand in völligem Kontrast zu unseren ersten billigen Kunststoffmö­beln in der kleinen Wohnung.

      Seither überstand das Madonnen-Bildnis innerhalb fünfzig Jahren wohlbehütet sieben Umzüge, überdauerte jeden einzelnen Gegenstand der vorhergehenden Woh­nungseinrichtungen und wurde als Symbol der Gottesmut­ter - ihres Namens und des Namens der Erschafferin dieses Bildnisses - zum Pol der Familie und schuf ein Leitmotiv, die innige Verbindung zur Urgroßmutter meines Mannes und ihrer Familie.

      Während des Schreibens wurde das Bild zu einer Of­fenbarung für mich, weil es Schritt für Schritt seine Ge­heimnisse über die außergewöhnliche Lebensgeschichte einer charismatischen Frau enthüllte. Eines dieser Geheim­nisse zeigte sich mir durch das Foto eines Selbstportraits Marys, das sie während ihres Studiums in Wien gemalt hatte und auch diesmal wieder als Geschenk in meine Hände gelangte. Lange stand ich davor, bis ich begriff: Die Madonna auf meinem Bild ist sie selbst: „Meine Maria“ ist Mary.

      Prolog

      Seit ihrer Kindheit suchte Mary die Einsamkeit in der Natur, die Momente, wenn sich die Dinge um sie he­rum verdichteten zu Worten, zu Musik, zu Farben und Formen. Nur so erschien ihr das Geheimnis des Lebens, der Ausdruck des Göttlichen in der großen Leere und Unge­wissheit des Raumes um sie herum verständlich. Den Zu­gang zum Schönen und Wahren in der Poesie, der Malerei, der Musik fand sie erst, wenn sie die Augen schloss, im Phosphoreszieren der Dinge, in dem die Farben erst sichtbar wurden, wenn alle lauten äußeren erloschen, die Töne erst hörbar wurden, wenn sie im Außen verklungen waren, die Worte erst zu ihr sprachen in der Stille.

      Gleichzeitig war sie fasziniert von Gesichtern, von Menschen als den Akteuren auf der großen Bühne des Le­bens. Mit ihrem liebevollen, einfühlsamen Wesen gelang es ihr, tiefer zu sehen, hinter die Fassade, um letztendlich mit unendlich zärtlichem Blick in die Herzen zu schauen. Ihren Charakter beim Malen zu erspüren und auf der Leinwand auszudrücken, nichts Geringeres suchte sie zu durchdrin­gen, um das Verborgene, die Geheimnisse hinter dem Sichtbaren zu erfassen. Sie, deren Geist, Fantasie und Sinn für die Menschen und die Natur sich bis heute in ihren Gemälden, in den von ihr bevorzugten Klavierkompositio­nen sowie in ihren Briefen spiegeln und wie eine Wesens­beschreibung, ein Ausdrücken der Freiheit als Entwick­lungsimpuls in die nächsten Generationen weitergetragen wird.

       Teil 1

       Sommer 1946 in Sommerau

      Der kleine Udo wuchs mit seinem Bruder Wolfgang und später seinen zwei weiteren Geschwistern in der Villa seiner Großeltern und des Opapas auf. Seit Kriegsbe­ginn wohnte auch Tante Annemarie mit ihrer kleinen Tochter Inge zeitweise wieder bei ihren Eltern. Täglich tobte Udo um die Wette mit seinem drei Jahre älteren Bru­der Wolfgang durch die Räume, immer im Kreis herum durch die hohen Flügeltüren, von einem Zimmer ins nächste, durch den Salon und wieder über die nächste Schwelle, bis sie atemlos keuchten und die Dielen began­nen im Rhythmus zu schwingen dass auch der Flügel leise Töne hervorzauberte, als ob die Tasten von Geisterhand zart berührt würden.

      „Pssst!“, zischte Mami und legte ihren Zeigefinger auf den Mund, als sie aus der Küche eilte. Sie hatte mit den Töpfen vom Mittagessen hantiert, ließ alles stehen und liegen, als sie den Lärm hörte, wischte sich die Hände an der Schürze ab und bemühte sich, eine ernste Miene zu machen. Zu sehen, wie der Dreijährige versuchte, den Gro­ßen einzuholen, der immer wieder einmal kurz stehenblieb, zurückschaute, aber schnell wieder losrannte, wenn sein kleiner Bruder ihn fast eingeholt hatte, war eine wohltuende Ablenkung ihrer sorgenvollen Gedanken.

      „Ihr