Gabrielle Jesberger

Mary und das geheimnisvolle Gemälde


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außerdem ha­ben die Ziegen sicher Hunger. Ingelein ist auch schon unten und wartet auf euch.“

      Dass Opapa seit einigen Tagen auffallend wenig Appetit hatte, meist schweigend mit verlorenem Blick in seinem Lehnstuhl saß und ihm sogar seine geliebte bodenlange Pfeife nicht mehr schmecken wollte, stimmte Lilo nach­denklich. Erst gestern kam sie dazu, als er auf seinen Stock gestützt, versonnen vor der alten Vitrine stand und seinen Blick nicht mehr von der Urne mit der Asche seiner Frau wenden wollte, die dort nun seit mehr als sechsundzwanzig Jahren stand.

       Nach Marys Tod 1920

      Am schlimmsten waren die Nächte, die nicht enden wol­lenden Stunden ohne Mary an seiner Seite. Sie war der einzige Mensch in seinem Leben, der ihn rückhaltlos an­nahm; sie kannte ihn wie niemand sonst, nahm geduldig seine Rastlosigkeit oftmals sogar mit Humor hin, stellte seinen Patriotismus nie in Frage. Mary hatte ihm all seine Unsicherheiten genommen, die nun plötzlich wieder wie alte Gespenster in allen Ecken lauerten.

      Immer noch waren überall im Haus Marys Spuren. In ihrem Schlafzimmer lag aufgeschlagen ihr Notizheft und das letzte Buch, das sie gerade gelesen hatte. An den Wän­den hingen ihre Gemälde, er betrachtete sie stundenlang. Ihre Kleider waren im Schrank neben den seinen. Nie ging Richard zu Bett ohne ihr Kopfkissen in den Arm zu neh­men, das immer noch ihren unverkennbaren Duft ver­strömte. Mit einem tiefen Seufzer schloss er die Augen und drückte seine Lippen darauf.

      Obwohl das Geschäft mit der Saya- und Korkproduk­tion gut lief, war Richard sehr niedergedrückt. Else be­schrieb ihren Vater als „ungemütlich und anstrengend“. Seinen brillanten Humor hatte er offensichtlich vollständig verlo­ren.

      Wie sehr er sich verlassen fühlte seit dem Tod seiner Frau, entging der Tochter nicht, doch sie war in ihrer eige­nen Trauer um die geliebte Mutter gefangen und es schien ihr, als stünde eine unsichtbare Wand seither zwischen ihnen. Else hatte erlebt, wie ihre Mutter in all den Jahren in unerschütterlicher Liebe und Treue bis zu ihrem viel zu frühen Tod an der Seite ihres Mannes stand. Ihren Vater nun mit einem Mal so hilflos zu sehen, tat weh und machte sie ratlos. Wie grau seine Haare geworden sind und wie schütter in den letzten Wochen, stellte sie fest. Er schien um Jahre gealtert. Ich bin sicher, dass er erst jetzt nach und nach erkennt, was unser liebes Mutterle für ihn war, schrieb sie an Tante Lucy in New York.

      Von der jüngsten Tochter Hermine, die Richard nun sehr selten sah, weil sie öfter vor der erdrückend stillen Atmosphäre, in dem einst so fröhlichen Haus, zu einer Freundin nach Mainz floh, sprach er mit rührenden Worten, die sich Else täglich anhören musste. „Vater verhält sich wie ein Märtyrer, läuft mit leidender Miene umher, erwar­tet, dass ich ihm seine Wünsche von den Augen ablese, wie es zuvor seine Frau getan hatte!“, stöhnte sie.

      Am Rande einer großen Erschöpfung stellte Else, die ihr viertes Kind erwartete und bereits mit den Aufgaben für ihre eigene Familie ausgelastet war, eine neue Haushalts­hilfe ein. Das bedeutete zwar eine Entlastung, aber auch zusätzliche Ausgaben. Dafür war Else gerne bereit, von den 7000 Reichsmark, dem Erbe ihrer Mutter, etwas abzugeben.

      Vater und Bruder Franz bemühten sich, Aufgaben zu übernehmen, die bisher die Mutter, wie so vieles andere, ganz selbstverständlich erledigt hatte. Else sah zumindest ihren guten Willen, wenn sie sich nun selbst täglich Feuer in ihrem Zimmer machten und den Aschekasten hinaustru­gen. Insgeheim hoffte sie allerdings, dass Franz bald seine Theda heiraten würde. „Damit ich dann wenigstens seine Socken nicht mehr stopfen muss“, beklagte sie sich und bemühte sich dabei um einen humorvollen Unterton, der ihr nicht so recht gelingen wollte. Auch Franz läuft - wie Vater - seit Mutters Tod mit einem ernsten, fast strengen Blick umher, dass ich ihm aus dem Weg gehe, um ihm nicht so oft ins Gesicht schauen zu müssen, schrieb Else verzweifelt.

      Sie gab sich doch alle Mühe, versuchte mit ihrer ganzen Kraft, die Mutter zu ersetzen. Warum sieht Papa das nicht?, fragte sie sich. Gleichzeitig war ihr bewusst, dass ihre Kin­der und ihr Mann oft zu kurz kamen. Als Ludwig nach Kriegsende endlich zu ihr zurückgekommen war, äußerte er wieder seinen langgehegten Wunsch, irgendwo in der Nähe - ohne den ganzen Anhang - alleine mit seiner eigenen Familie zu wohnen. Nun konnte vom Wegziehen keine Rede mehr sein. Völlig selbstverständlich übernahm Else die Rolle, die die Mutter vorher ausgefüllt hatte. Ludwig musste wohl oder übel die neue Situation akzeptieren und fügte sich stillschweigend in das Unvermeidliche. Das Sa­natorium wurde nun endgültig aufgelöst, so gab es wenigs­tens ausreichend Wohnraum für die junge Familie.

      Der Tod der Mutter lag noch keine fünf Monate zurück, als kurz vor der Mittagszeit, am 7. Oktober 1920, der kleine Wolfgang Richard Georg geboren wurde. Mary war in großer Sorge gewesen, als sie im Frühjahr von der Schwan­gerschaft erfuhr. Der kleine Franzkarl war knapp zehn Mo­nate und ihre Tochter hatte sich von der letzten Geburt noch nicht erholt, sie war sehr mager und auffallend blass. Zwar war ein Kindermädchen im Haus, doch ohne dass es abge­sprochen werden musste, übernahm nun vor allem die große Schwester Lilo mit ihrer jüngeren Schwester Anne­marie die Erziehung des Bruders Franzkarl. Obwohl er ein kleiner Wildfang war und sie nie wussten, was er gerade wieder ausheckte, war er doch bemüht, den älteren Schwestern nachzueifern. „Dickel“, riefen sie den pumme­ligen Knirps scherzhaft, was ihn anspornte, die Schwestern mit seinen Grimassen und Faxen zum Lachen zu bringen. „Du Spitzbub“, rief Lilo zärtlich, wenn sie versuchte ihn einzufangen, während er lachend davonlief, dabei Haken schlug wie ein Hase und seine große Schwester atemlos anfeuerte „krieg mich doch!“ Vor allem Opapa trieb gern seine Späße mit ihm, nannte ihn naseweis, weil er alles wissen wollte und ununterbrochen fragen konnte, und in seiner Stimme klang unverhohlener Stolz: „Der kleine Bur­sche ist halt einfach aus dem „Wehsarg-Holz“ geschnitzt!“

      Das erste Weihnachtsfest 1920 ohne Mary war ein trauriges Familientreffen. Else hatte den Christbaum geschmückt, die Haushälterin die traditionelle Speise, wie an jedem Heiligen Abend, zubereitet. Der schwere ovale Tisch war festlich geschmückt, die gestärkten weißen Damast-Servietten la­gen als Dreiecke gefaltet auf den goldumrandeten Tellern, die Kristallgläser funkelten im Schein der Kerzen. Franz, der zum Medizinstudium in Würzburg war, reiste an und auch Hermes, die gerade wiedermal eine Freundin in Mainz besucht hatte, kam leise herein und legte ein Gedicht - auf einem mit Blumen und Ornamenten verzierten Blatt - in einem schlichten Rahmen unter den Baum. Alle hatten sich auf das Wiedersehn gefreut und doch lag eine bedrückende Stimmung im Raum. Liselotte und die kleine Mie konnten nicht mehr stillsit­zen, hüpften mit Franzkarl aufgeregt von einem Fuß auf den anderen durch das Wohnzimmer und konnten es kaum erwarten bis sie das Glöckchen vom Christkind hörten. Opapa hatte unten in seinem Zimmer durch die Decke das Getrappel der Kleinen gehört, kam mit schwerem Schritt die Treppe hoch, nahm Mie und Lilo, die den kleinen Franzkarl hinter sich herzog, an die Hand und führte sie in den kleinen Salon. „Schaut her, sagte er zu ihnen, „unser Christkind schläft zufrieden in seiner Wiege.“ Er kämpfte mit den aufsteigenden Tränen, als er lächelnd auf sein jüng­stes Enkelkind sah. Wie sehr würde sich Mary jetzt mit ihm freuen.

      Unter dem Arm hatte Richard ein kleines, in Zeitungs­papier gewickeltes Päckchen und legte es unter den Lich­terbaum. Als Else es auspackte, rief sie freudig überrascht: „Oh Papa, du malst wieder!“ Wie oft hatte sie an manchen Wochenenden gesehen, wie die Eltern gemeinsam an ihrer Staffelei saßen. Während Mary Federzeichnungen von Motiven aus dem Spessart oder Portraits mit Ölfarben schuf, begann Richard, die prächtigen Blumen, die im Park wuchsen und die idyllische Landschaft oder seine Jagdtro­phäen mit Pastellfarben in seinen Stillleben festzuhalten. In den letzten Wochen hatte er wieder begonnen, mit Oskar Hagemann in seinem Atelier im Schlosspark zu malen, wo der Maler ihm einen eigenen Raum zur Verfügung stellte. Doch Richard war nicht mehr der Unterhaltsame und Hu­morvolle. Marys Tod hatte ihn bis ins Mark getroffen. In­zwischen planten Hagemanns ihre Rückkehr nach Karls­ruhe. Die geselligen Abende im Hause Wehsarg ge­hörten der Vergangenheit an. Es gab nichts mehr, was das Künst­lerpaar in Sommerau noch halten konnte.

      Heute zeigte Richard sein neuestes Werk der Familie: die vollerblühten Sonnenblumen vom letzten Herbst in einem schmalen vergoldeten Rahmen hinter Glas. Else atmete auf. Ihr Vater war wieder zurückgekommen ins Leben.

      Nach dem Essen ging Hermi zu