Gabrielle Jesberger

Mary und das geheimnisvolle Gemälde


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das Grauen des Krieges, die Leiden der Soldaten, die Erschöpfung, wie sie es aushalten konnten, auf Men­schen zu schießen, die Schmerzensschreie der Verwundeten und Sterbenden zu erleben, sprach keiner und auch in den Feldpostbriefen wurde nur von den Heldentaten berichtet. Selbst nach dem Krieg blieb diese Haltung unverändert und somit konnten die Traumata noch lange nicht aufgearbeitet und damit nicht geheilt werden. Aber es gab auch andere Stimmen, wie der Soldat Emil G. in einem authentischen Feldpostbrief am 24.06.41 über die verhungerten Kinder des Warschauer Ghettos schrieb, das er kurz gesehen hatte: Im letzten Krieg brachte das Ausland Bilder von abge­hackten Kinderhänden. Und nun dies! Die Wahrheit ist schlimmer, grausamer, viehischer als alle Phantasie.

      In der Wochenschau im Kino, zu der Franzl seine Mut­ter 1941 nach Aschaffenburg begleitete, sahen sie auf gro­ßer Leinwand den Einsatz des neuen Vormarsches. Ergrif­fen äußerte sich Else auf dem Weg zum Bahnhof: „Die Bilder waren so atemberaubend, gleichzeitig grauenvoll, aufregend, beinahe unfassbar und doch so überzeugend glaubhaft.“ Worauf Dickel erstaunt feststellte: „Warum haben unsere Soldaten denn noch keine Kriegsgefange­nen?“ Immer noch tief bewegt von den Eindrücken gingen sie schweigend nebeneinander her bis Mutch die Stille unterbrach: „Franzl, meinst du nicht auch, die Leistungen unserer Soldaten grenzen ans Wunderhafte und doch sind bei allem die Opfer nicht allzu groß, man muss es gesehen haben!“ Für Franzkarl war dieser Satz seiner Mutter wie ein Weckruf. Bereits einige Wochen später befand er sich in der Kampffliegerschule Greifswald. Er hatte sich noch im Herbst 1941 freiwillig gemeldet. Was macht die kleine Schmütze (Inge) und Burschi, unser Wölflein (Wolfgang)? Jetzt können sie bald nicht mehr im Freien spielen. Na, unser Haus ist ja groß genug. Heil Hitler, Dein Franzkarl, schrieb er beschwingt an seine liebe Mutch, während er sich auf seinen ersten Flug mit der Messerschmitt freute.

      Else begann nun wieder, wie fünfundzwanzig Jahre zu­vor während des Ersten Weltkrieges, diesmal mit ihren Töchtern Lilo und Mie, ihren Männern Päckchen mit Le­bensmitteln an die Front zu schicken. Die Familie zu Hause kam kaum vom Radio weg, bei jeder neuen Meldung wurde es laut aufgedreht, dass es durch das ganze Haus hallte. Die Zeitungen wurden verschlungen, die Siegesmeldungen verbreiteten eine euphorisches Stimmung und waren so wuchtig und gewaltig, dass keine Zweifel an einem baldi­gen Sieg aufkommen konnten.

      Die Demütigung durch den verlorenen Ersten Weltkrie­g gipfelte in Hitlers Versprechen, die er in einstudierten Parolen und Gesten verkündete. Die „Inszenierung von Massen­erle­ben“ traf auf die Sehn­sucht nach Zugehörigkeit, dem Entkommen einer inne­ren Leere. Die Gesinnung in der Bevölkerung allerdings spaltete sich.

      Wie deutsche Konzerne massiv vom Krieg und von Kon­zentrationslagern profitierten, zeigt das abschreckende Beispiel in einem Artikel des Handelsblattes: Der Konzern, der Hitler den Weltkrieg ermöglichte. Das dunkelste Kapi­tel der IG-Farben (u. a. Bayer) war wesentlich geprägt durch die Giftgas-Produktion und dem Bau der riesigen Buna-Fabrik mit dem eigenen KZ Auschwitz-Monowitz. Hier ließen Zehntausende KZ-Häftlinge ihr Leben. Was im benachbarten Vernichtungslager Birkenau passierte, dürfte den Verantwortlichen der IG-Farben mit Sicherheit bekannt gewesen sein, zumal das für die Vergasung verwendete Zyklon B von einer Tochterfirma der IG-Farben produziert wurde. Der Konzern lieferte einen entscheidenden Beitrag zum Ausbau des Konzentrationslagers in eine industriali­sierte Mordmaschinerie, in der etwa 1 ½ Millionen Men­schen umgebracht wurden. […] Es ist die Geschichte von Firmenlenkern, die für den Profit die Ermordung von Zehntausenden Menschen duldeten - ja sogar anordneten. Sie wurden als Kriegsverbrecher (wegen Versklavung und Massenmord) verurteilt. Als sie aber wegen „guter Füh­rung“ schon nach zwei Jahren das Gefängnis verließen, stand die Limousine schon bereit. Sie alle bekamen wieder gute Jobs und trafen sich im Februar 1959 zu einem glanz­vollen Wiedersehensbankett […]. H. Bütefisch, SS-Ober­sturmbannführer (im Freundeskreis H. Himmlers), als Wehrwirtschaftsführer für Auschwitz zuständig und von Hitler mit dem Ritterkreuz dekoriert, bekam in der BRD später das Bundesverdienstkreuz verliehen. Auch der IG-Farben-Manager O. Ambros, Ritterkreuzträger, Schulfreund von H. Himmler und Hauptverantwortlicher für Auschwitz-Monowitz, machte ebenfalls wieder Karriere u. a. beim Contergan-Hersteller. Heute würden sie vom Kriegsverbre­chertribunal Den Haag zu lebenslänglich verurteilt.

      Das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte mussten je­doch Mary und ihre Eltern nicht mehr erleben.

      Unser Führer gibt dem Volke doppelte Kräfte, Vertrauen und Stärke. Unsere Soldaten leisten wieder Übermenschli­ches. Richard ist seit Führers Geburtstag nun wie Franz­karl auch Obergefreiter, schrieb im Mai 1942 Else voller Stolz im Feldpostbrief an ihren Mann. Ihr Bruder Franz befand sich immer noch als Lazarett-Arzt an der Ostfront. Von den Russen wurden Flugblätter abgeworfen, die einige Mutige an sich nahmen, obwohl es unter Androhung der Todesstrafe streng verboten war:

       Lesen und weitergeben! Ein neues Hitlerabenteuer ge­scheitert! Deutsche Soldaten! Hitlers Plan einer blitzarti­gen Zerschmetterung der Roten Armee ist gescheitert. Nicht allein, dass die deutschen Truppen nicht vorwärts kommen, die Gegenschläge der Roten Armee bringen ihnen gewal­tige Verluste bei. Um das Scheitern seiner Pläne vor den Augen der Armee wettzumachen, hat Hitler Luftangriffe auf Moskau und Leningrad angeordnet. […] Wie ist dieses neue Abenteuer ausgegangen? Bisher wurde auf Leningrad keine einzige Bombe abgeworfen. […] Die deutsche Luft­waffe hat über Moskau bereits 150 Flugzeuge und ihre besten Flieger eingebüßt. Das sind die Resultate! Mit einem Fiasko endet jedes neue Abenteuer Hitlers! […] mit der Vernichtung Hitlers und seiner Bande, wird auch dieser ganze sinnlose und hoffnungslose Krieg gegen Sowjetruss­land enden! Deutsche Soldaten! Denkt an Euch und Eure Familien! Denkt an das Schicksal Deutschlands, das einem Verbrecher und Abenteurer wie Hitler in die Hände gefal­len ist! Macht Schluss mit dem Krieg! Geht über auf die Seite der Roten Armee!

      Darunter war eingerahmt zu lesen: Dieses Flugblatt gilt als Passierschein zum Übergang auf die Seite der Roten Armee. Wer allerdings mit einem solchen Passierschein desertierte und dabei von seinen eigenen Leuten erwischt wurde, kam nicht lebend davon. Wie es einem deutschen Soldaten erging, wenn ihm der Übergang zur Roten Armee gelang, bleibt Spekulation.

      Um Richard, der nach 50-jährigem Einsatz als Arzt im Spessart seine Tätigkeit aufgeben musste, weil er selber das Nachlassen seiner Kräfte spürte, war es immer stiller ge­worden. Die Zahl der Freunde, die ihn regelmäßig besuch­ten, wurde kleiner. Einer der wenigen, der immer noch gerne zu einem Gedankenaustausch bei einem Schoppen Wein vorbeikam, war Valentin Pfeifer. Der über die Lan­desgrenze bekannte Lehrer und Autor der „Spessartsagen“ sammelte alte Sagen der Region, schrieb sie nieder in sei­nem Buch und erhält sie damit für die Nachwelt. Valentin machte sich zunehmend Sorgen um seinen alten Kamera­den. Doch Richard winkte lachend ab: „So schnell, alter Freund, wirst du nicht an meinem Grab stehen müssen. Es ist noch nie ein Wehsarg unter achtzig gestorben!“

      Dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Reiches im Frühjahr 1945, von dem Richard sich als überzeugter Patriot so viel für sein geliebtes Vaterland versprochen hatte, folgte der völlige Rückzug des altgewordenen Dok­tors aus seiner bereits altersgemäß eingeschränkten Praxis­tätigkeit.

      In ihm – wie in den meisten seiner Generation – lebte die Heimatliebe im Geist der alten Burschenschaften (im Liedtext von Hoffmann von Fallersleben 1839 geschildert) weiter:

      

       Treue Liebe bis zum Grabe

       schwör ich dir mit Herz und Hand;

       was ich bin und was ich habe,

       dank ich dir mein Vaterland!

       Nicht in Worten, nur in Liedern

       ist mein Herz zum Dank bereit,

       mit der Tat will ich’s erwidern

       dir in Not, in Kampf und Streit. […]

      Die Härten des Krieges, von denen die Bevölkerung zwar