Gabrielle Jesberger

Mary und das geheimnisvolle Gemälde


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der wie er immer zu einem Scherz aufgelegt war, und den er so gerne um sich hatte, war als Kampfpilot 1944 mit seinem Jagdflugzeug über Le Havre abgeschossen worden. Er selbst hatte die Nachricht entgegengenommen. Bevor er das Bündel, das dem Schreiben an die Eltern, der Sohn sei im Kampf für das Vaterland gefallen, öffnete, nahm er es an sich, um am Abend, wenn Ruhe im Haus eingekehrt war, sich zuerst Lilo anzuvertrauen. Mit zitternden Händen, kein Wort kam über seine Lippen, übergab er ihr die Unterlagen.

      Lilo ließ sich auf den nächsten Stuhl sinken und las:

       An die Mutter

       Der Tag ist geschwunden,

       das Licht weicht der Nacht.

       Vor dem Zelt wird ein Feuer entfacht.

       Ich schau in die Flamme

       und denke an dich.

       All‘ was es gibt,

       das bist du für mich.

       Da taucht mir im Schimmer

       dein Bild aus der Glut,

       ganz wie du bist, so lieb und so gut.

       Es ist so wie früher,

       du redest zu mir.

       Ich höre dir zu

       und bin ganz bei dir.

       Die Flamme wird kleiner,

       sie ist fast verglimmt.

       Ich merke, dass sie dein Bild von mir nimmt.

       Nun trennen uns Länder.

       Was macht es denn schon,

       sind wir doch eins,

       du und dein Sohn.

      Er hatte das Gedicht auf dem Luftwaffenstützpunkt in Catania auf Sizilien verfasst und nun lag es bei dem Ab­schiedsbrief, den er, wie alle Soldaten, vor dem Einsatz schreiben musste für den Fall seines Todes. Wie sehr hatte Lilo - in Vorahnung des „Todeskommandos“ - ihren Bruder beschworen, sich nicht für die Luftwaffe, sondern für die Infanterie zu melden. Franzkarl war so jung, so euphorisch und fühlte sich nutzlos, nach dem Abitur nur zu Hause herumzusitzen, während sein jüngerer Bruder, sein Vater, sein Onkel und seine beiden Schwager ihm ein Vorbild waren, weil sie als „Helden im Einsatz für das Vaterland“ ihr Leben riskierten. Alle gutgemeinten Worte der Schwester hatten Franzl von seinem Vorhaben nicht mehr abbringen können. Sein jugendlicher Optimismus hatte alle aufkommenden Zweifel hinweggefegt.

      Im Laufe des Krieges wurde Lilos Mann so schwer verwundet, dass er lange in Lebensgefahr schwebte und zuletzt nur - wegen noch nicht verfügbarer Antibiotika - durch die Amputation eines Beines gerettet werden konnte. Nach seinen vorhergehenden Verwundungen (Streifschuss im Genick, Gehörschädigung, Teillähmung der Hand) war er nun zu hundert Prozent kriegsversehrt. Seine Kameraden meinten scherzhaft, aber bewundernd, er sei wohl mit dem „Teufel im Bunde“, dass er dem Tode so oft entronnen sei. Die Zertrümmerung seiner beiden Knie war seine fünfte Verwundung, die die Amputation des linken Beines bis über das Knie zur Folge hatte. Nun wurde Willi als Oberst­leutnant zum Kompanie-Chef der ersten Panzergrenadier-Ausbildung ernannt und als Hauptmann mit seiner Kompa­nie in der Kampfgruppe Schwarzrock bei Forst an der Neiße zur Abwehr der Russen eingesetzt. Dort wurde er schon am zweiten Tag beim Überfahren einer Panzermine verwundet, die irrtümlich von einer Panzer-Abwehr-Kom­panie verlegt worden war. Er kam in ein Lazarett in Schleswig und von dort in die englische Gefangenschaft, wo er nach drei Monaten wieder entlassen wurde. Im Mai 1942 wurde ihm das Deutsche Kreuz in Gold und einen Monat später das Verwundeten-Abzeichen in Gold verlie­hen.

      Das Brüderchen des dreijährigen Wolfgang kam zur Welt, während ihr Papi zur gleichen Zeit schwer verwundet im Städtischen Krankenhaus in Aschaffenburg lag. Beinahe jede Nacht mussten beim Fliegeralarm eiligst die Patienten in den Luftschutzkeller transportiert werden. Die Ein­schläge und die Erschütterungen waren bis in den Schutz­raum zu spüren. Udo, der neue Erdenbürger, lag beschützt in Mamis Arm, die im Rollstuhl in Sicherheit gebracht wurde.

      Der Sommer 1944 brachte eine weitere Schreckens­nachricht: Annemaries Mann Edgar war gefallen, die kleine Tochter Inge war gerade erst fünf Jahre alt.

      Kurz darauf reiste Lilo mit dem einjährigen Udo zu ih­rem Mann nach Cottbus, der sich trotz seiner schweren Verletzungen wieder zum Einsatz als Ausbilder einer Kom­panie gemeldet hatte. Lilo war in großer Sorge um seine Gesundheit. Die Mutter und Schwester unterstützten ihren Entschluss. Den vierjährigen Wolfgang wusste sie gut be­hütet im Elternhaus. Mit der kleinen Inge konnte er unbe­schwert von den Kriegsereignissen im Haus und im Garten spielen.

      In Cottbus war Willi in Wartestellung mit seinen Män­nern für den Einsatz. Neben der Kaserne stand eine Woh­nung für den Kompanieführer zur Verfügung. Durch die liebevolle Pflege seiner Frau erholte sich Willi zusehends und die Freude über den kleinen Sohn, den er nun täglich sehen konnte, trug mit zu seiner Genesung bei.

      Bei den täglichen Übungen und Märschen war die Kompanie unvermutet auf eine große Herausforderung gestoßen: Lilo stand in der Küche am Herd. Der kleine Udo saß zufrieden in seinem Laufställchen (ein Gitter ohne Bo­den) im Schatten eines Baumes im Garten und spielte mit Bauklötzen. Frei laufen konnte er noch nicht, aber das Hochziehen und sich auf diese Weise - mit seiner „Geh­hilfe“ – Schritt für Schritt fortzubewegen, machte ihm sichtlich Vergnügen. Seine Mami lief zum Fenster, als sie das laute Kommando hörte: „Kompanie halt!“ Mit offenem Mund stand ihr kleiner Sohn mit seinen Händchen am Laufgitter mitten auf dem Weg und versperrte so den Marsch. Aus der kurzen Hose hing um die nackten Beinchen - ausgerechnet jetzt - die vom Inhalt verschmierte Windel. Mit großen Augen sah Udo zu den Männern auf und bewegte sich keinen Millimeter weiter. Mit eiserner Disziplin bemühten sich die Soldaten, eine ernste Miene zu behalten, als der erste aus den Reihen trat und den Kleinen samt seinem Laufställchen auf die Seite hob und in der Wiese absetzte. Mit hochrotem Gesicht lief Lilo hinaus, um rasch ihren Sohn zu holen.

      Regelmäßig in der Nacht - manchmal sogar mehrmals - schreckte ein Fliegeralarm die Schlafenden aus ihrer Nacht­ruhe. Lilo holte den voller Angst schreienden Udo aus sei­nem Bettchen und eilte mit ihm in den Luftschutzkeller. Dass sie hier als einzige Frau mit ihrem Kind im Arm unter einer Kompanie Soldaten saß, war für die Männer ein tröst­licher Anblick. Wenn Udo an Mamis Brust trinken durfte, beruhigte er sich wieder und schlief bald weiter. An Heili­gabend packte Lilo kleine Päckchen mit ein paar selbstge­backenen Plätzchen und Nüssen. Den Soldaten, die doch alle nur sehnsuchtsvoll an ihre Familien dachten, die jetzt ohne sie zu Hause unter dem Christbaum saßen, erschien die Frau ihres Hauptmannes wie ein Engel, als sie ihnen mit einem Händedruck und einem aufmunternden Lächeln die kleinen Geschenke überreichte.

      Als im Frühjahr 1945 die Nachricht kam, dass die Rote Armee näher rücke, musste Lilo mit dem kleinen Udo aus dem Osten fliehen. Willi wollte sie in Sicherheit bringen und fand eine Gelegenheit, mit anderen Flüchtlingen auf der Transportfläche eines Lastwagens Richtung Westen zu fahren. In der ersten Nacht kamen die Flüchtenden alle in einem Lager unter. Lilo war erleichtert, dass sie Udo immer noch stillen konnte und hoffte inständig, ihre Milch würde nicht versiegen. Sie hatte sich mit ausreichend Proviant für die Reise versorgt, den sie unter der Matratze des Kinder­wagens deponiert hatte. Am nächsten Tag ging‘s mit der Eisenbahn weiter. Die Gruppe war gerade eine Stunde un­terwegs, als sie die tief heranfliegenden Flugzeuge hörten. Die Bremsen quietschten und die Wucht schüttelte die Fahrgäste, dass sie übereinander purzelten. Hastig mussten sie aussteigen, das Gepäck zurücklassen, ins Gelände eilen und sich unter Büschen und in den Straßen­gräben verstecken. Udo lag beschützt eng an die Brust sei­ner Mami gedrückt unter