Gabrielle Jesberger

Mary und das geheimnisvolle Gemälde


Скачать книгу

mit einer Sanftheit eine perlende Melodieführung entlocken, die alle tief berührte und sie begann zu singen, wie jedes Jahr am Heiligen Abend. Else stimmte ein und auch die Kleinen mit ihren glockenhellen Stimmen. Richard blieb stumm, die Erinnerung überfiel ihn, er war wehrlos. Alle sehnten sich nach der vertrauten Weihnachtsstimmung wie all die Jahre zuvor und hatten doch gleichzeitig nur einen Gedanken: Ma ist bei uns. Elses Stimme wurde von Tränen erstickt, nach und nach ver­stummten alle, bis die kleine Liselotte alleine mit ihrer zarten Stimme die erste Strophe beendete.

      Hermes holte ihr Gedicht unter dem Baum hervor und begann zu lesen:

       Einst zog sie jung und möwengleich

       von weither übers Meer.

       In ihr des Frühlings Hoffnungsreich;

       sie liebte die Welt so sehr.

       Dann war sie Amselsommersang,

       kannte Liebe, Freud‘ und Leid,

       sang zu der Abendglocken Klang

       von Glück und Traurigkeit.

       Früh kam der Herbst. Ein blinder Sturm

       trug sie auf Schwingen fort,

       stark wie der Falke auf dem Turm.

       Wohin? An welchen Ort?

       nach Irene Fischer

      Wie sehr Mary ihnen allen fehlte, spürten sie gerade heute. Noch immer mangelte es ihnen an Zeitgefühl, doch der Kalender sagte ihnen, dass sie bereits seit sieben Monaten nicht mehr unter ihnen lebte. Sie war der Mittelpunkt der Familie gewesen. Nun war ihr Platz leer und doch ihre Anwesenheit immer noch in jedem Winkel des Hauses, im Garten und im Malepartus zu spüren. Else ertappte sich immer wieder, dass sie – mitten im Alltag - zum Flügel blickte und erwartete, wie seit ihrer Kindheit, dort die Mutter zu sehen; immer noch hörte sie die vertrauten Klänge, wie früher Tag für Tag, und summte mit. Mary fehlte ihnen allen so sehr, dass - trotz der Ablenkung durch die Kinder - der Schmerz ihre Lebensfreude immer wieder lähmte.

      An manchen Tagen war es Else, als würde sie erst jetzt die Endgültigkeit erfassen und die Trauer ergriff erneut ihre Brust mit einer Heftigkeit, dass sie in Tränen ausbrach und die Sehnsucht nach der Mutter sie aufstöhnen ließ. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie mit ihr auch ihre einzige Freun­din verloren hatte, dass es nun niemanden mehr gab, mit dem sie so offen über alles reden konnte, was sie bewegte, wie mit ihrer geliebten Ma.

      Urplötzlich war eine Stille im Zimmer, man hätte das Fallen einer Stecknadel hören können. Und mit einem Mal war diese Andacht erfüllt vom Aroma des vertrauten Par­fums mit dem dezenten Lavendelduft und einem Hauch Bergamotte, als ob die geliebte Mutter anwesend wäre. Else schloss die Augen, sie konnte es sich nicht erklären und wusste doch: Ma ist bei uns. Sie spürte ihre Arme, so wie nie ein Tag vergangen war ohne eine herzliche Umarmung von ihr und ohne ein paar liebevolle Worte.

      Und ganz plötzlich war es wieder da, dieses Gefühl von einst, die Liebe der Mutter. Else hörte in ihrem Inneren die wohlklingende Stimme mit dem vertrauten amerikanischen Akzent, wenn sie - wie jedes Jahr - vom Wunder der Christnacht sprach, das in uns allen geschieht, wenn wir dazu bereit sind. Sie hörte, wie Ma mit ihrer sanften Stimme sagte: „Mein Elsle, das Leben in der Liebe geht weiter als der Tod.“ Else war sich sicher, Mutters Hand zu spüren, die ihr liebevoll und zärtlich die Wange streichelte. Sie legte eine Hand auf die Brust und atmete tief ein. Ja, dies war ihr Wunder dieser Christnacht. Sie würde den Geist dieses Hauses weiterpflegen, Marys Herzensgüte wie ein Vermächtnis bewahren und mit neuem Leben erfüllen. Else erhob sich, ging auf ihren Vater zu, umarmte ihn schweigend, zum allerersten Mal seit Mutters Tod, und ging mit dieser liebevollen Umarmung von einem zum anderen.

      In der darauffolgenden Woche hatte Richard seine Pra­xistätigkeit wieder aufgenommen. Nach und nach fand er auch erneut Freude daran, Artikel und Kurzgeschichten, aus denen die Liebe zu seinen „Spessartern“ und ihrem kantig-herzlichen Naturell sprach, für die „Spessartzeit­schrift“ zu verfassen. Unermüdlich war er wieder das Sprachrohr für die Sorgen um die wirtschaftlichen und kulturellen Belange der Spessartbewohner. Als Arzt im Spessart, seiner Wahl­heimat, trat er in all den Jahren immer nur für das Wohl „seiner Spessarter“ ein, war vertraut mit ihren Sorgen und Freuden, ihren Wäldern, ihren Feldern und Wiesen. Er kannte die Bauern, Köhler, Fuhrleute, Holzhauer, die er bei ihrer Arbeit beobachtet hatte. Und mit den Jahren erhellte nach dem Tod seiner geliebten Frau nun vor allem die Ma­lerei mehr und mehr seinen Lebensabend.

      Seine Jüngste, die erst 19-jährige Hermi, wohnte mitt­lerweile in Altona bei Onkel Franz, Marys Bruder, und sollte dort als Arzthelferin in seiner Praxis ausgebildet wer­den. Bevor sie abgereist war, hatten die beiden Schwestern begonnen, die schönen Kleider ihrer Mutter untereinander aufzuteilen und waren sich nicht immer einig. „Ich möchte so gerne Mas Ring nach Altona mitnehmen, damit ich et­was von ihr bei mir habe“, bat Hermi ihre Schwester. Schweren Herzens trat Else ihr den wertvollen Diamantring ab, den Mary schon vor ihrer Heirat besaß und den sie nie abgelegt hatte.

      Die große Schwester war ein wenig neidisch auf die jüngere, die nun in Altona ein unabhängiges Leben führen konnte, wogegen sie selbst im Elternhaus blieb und - wie für alle selbstverständlich - die Aufgaben ihrer Mutter übernommen hatte. Trotz all ihrer Bemühungen wurde sie das Gefühl nie los, nicht genug zu tun, denn Papa und Bru­der Franz, der regelmäßig heimkam, hatten ständig etwas auszusetzen. In Hermi sah Else das verwöhnte Nesthäk­chen. Eine Bitte von Dir hat Pa noch nie abgeschlagen, wogegen er sich mir gegenüber oft als geizig zeigt!, be­klagte Else sich im Brief an ihre Schwester. Sie selbst hatte keine Einnahmen und Ludwig verdiente noch nicht genug, um die Kosten für das Haus und die Angestellten überneh­men zu können. Die Haushaltsführung lag inzwischen in Elses Hand und es war ihr äußerst unangenehm, wenn sie ihren Vater nun um Geld bitten musste. „Er ist so knausrig, gibt mir immer nur kleine Summen, als ob er Sorge hätte, ich würde zu viel ausgeben“, klagte Else. „Papa ist immer noch genauso schweigsam wie früher. Ich weiß über die finanzielle Situation im Haus nicht Bescheid, zudem ver­schickt Vater seine Praxisrechnungen immer selbst.“

      Richard, der es als seine väterliche Pflicht ansah, seine jüngste Tochter darin zu unterstützen, sich ein eigenständi­ges Leben aufzubauen, hatte dafür gesorgt, dass Marys Bruder sie in seine Familie aufnahm. Nun, da sie zum ers­ten Mal so weit von ihm weg war, vermisste er sie. In Hermles Gesicht fand er dasselbe Leuchten, wenn sie lä­chelte, wie bei seiner Frau. Es war Marys strahlendes We­sen, eine Anmut, die ihm vertraut war, wenn er nun sah, wie seine Jüngste auf Menschen zugehen und sie in den Bann ziehen konnte. Je mehr er erkannte, wie ähnlich sie ihrer Mutter war, umso mehr vermisste er sie und schrieb ihr schwermütige Briefe nach Altona. Die Tochter plagte im fernen Norden immer mehr das schlechte Gewissen, gerade jetzt nicht an Vaters Seite zu sein. Dass sie schon lange die Sehnsucht in sich trug, endlich einmal etwas von der Welt zu sehen, wussten die Eltern seit einiger Zeit. Nun hatte der Vater selbst eingesehen, dass ihr als jüngere Schwester an Elses Seite im Elternhaus kein eigenständiges Arbeiten möglich war.

      Schon am 16. Januar 1921 war ein Brief an sein liebes Hermle unterwegs: Verzeih, wenn ich manchmal brummig war. Verzeih dem einsamen Vater, denn Du bist fort und er ist noch immer brummig. Mit Dir ist auch Frau Musika, Eurer lieben Mutter Freundin, aus dem Hause gezogen.

      Seit Marys Tod stand der Flügel verlassen, wie ein ver­gessenes Möbelstück, im Speisezimmer. Es war, als hätte die Trauer im Haus nicht nur das Lachen der Menschen, sondern auch seinen Klang verstummen lassen. Trotz seiner Schwermut legte Richard der Tochter dringend ans Herz, weiterhin im Haus des Onkels zu bleiben: Und wenn Dich einmal Herz und Heimweh ruft, dann komm wieder zu uns. Vorderhand kann vom Fortgehen von Lu oder gar Else und den Kindern noch keine Rede sein. Gegebenenfalls würde das auch nicht von heute auf morgen gehen. Linus (der Knecht) ist ja jetzt nicht mehr bei uns und wird höchstens einmal auf 14 Tage kommen.