Hugo Berger

Steinreich


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als eine Gerechtigkeit die längst überfällig war. Überfällig für mich und um ein Vielfaches mehr gerechtfertigt, als für jeden anderen Lottogewinner auf dieser ungerechten Welt, endlich den großen Wurf zu machen, endlich sorglos auf dem Zebrastreifen meines künftigen Lebens zu wandern.

      Hätte mich jemand gefragt, wie ich mich dabei gefühlt habe, ob ich das Bedürfnis hatte, wie ein geköpftes Huhn im Kreis herumzulaufen? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht mehr so genau. Wie hätte ich diesen wahnsinnigen Glücks-Meilenstein mit viel zu banalen Worten treffend beschreiben sollen? Irgendwie war ich noch gefangen im Biotop meiner erfolglosen Vergangenheit, als ob ich die alten Fesseln nicht abschütteln könnte. Dabei lag der Schlüssel für meine neue Freiheit direkt neben mir. Ich brauchte ihn nur benutzen, statt mich immer noch mit den idiotischen Gedanken eines Vergangenheits-Versagers zu beschäftigen. Die Karten meiner Zukunft waren neu gemischt worden und diesmal war es mein Joker gewesen.

      Die Bilder sind in meinem Kopf immer noch präsent, als ob es gerade passiert wäre. Der Regisseur in meinem Kopf drückt auf den Knopf und spult den ganzen Film noch einmal ab. Meine Augen sitzen in der ersten Reihe einer überdimensionalen Kino-Leinwand in 3D.

      An einem Vierundzwanzigsten hatte ich die Idee Lotto zu spielen.

      Es passierte irgendwo auf dem kurzen Weg zwischen Küchenzeile und abgenutzter Kunstleder-Couch, als die Radiostimme routinemäßig ein paar Zahlen heruntergeplappert hat, Sonntagvormittag, im Anschluss an die Nachrichten. Eigentlich weiß ich ehrlich gesagt gar nicht, weshalb ich da überhaupt immer wieder zugehört hatte. Es war nichts anderes als reine Zeitverschwendung. Ein geborener Jahrhundertpechvogel mit einem Anti-Glücks-Karma wie dem meinem hätte sich das beruhigt schenken können. Aber da gab es doch diese Geschichte mit dem blinden Huhn und dem Korn? Egal. Drei Zahlen waren im Geräusch-Mix einer sich selbst abschaltenden Kaffeemaschine, dem Knarzen der veralteten Küchenkästchen-Schublade und dem Rascheln der Kunststoffverpackung zu meinen Ohren durchgedrungen, als ich mit der Kartoffel-Chip-Tüte wieder auf der Couch gesessen bin. Wie üblich, sollte das mein zweites Frühstück sein und zugleich mein Mittagessen, so wie ich es alle Sonntage gehandhabt hatte. Obwohl ich zugegeben noch nie der begnadete Zahlenmerker gewesen bin, hatte sich meine Zahlenreihe mit den sechs Ziffern längst irgendwo wie ein Brandzeichen in einer Gehirnspalte so tief eingegraben, dass ich sie blind und aus dem Tiefschlaf erwachend rückwärts hätte aufzählen können. Vielleicht einfach deshalb, weil ich das Lieblingsglücksspiel der Deutschen Woche für Woche -völlig zwecklos, wie schon erwähnt- mitgespielt hatte. Obwohl… immerhin drei Richtige, das war im Ausnahmefall schon mal vorgekommen, okay. Drei Richtige, ein Zehner, das ist ein saftiges Schnitzel beim Schnitzelwirt. Verdammt, vielleicht auch ein Vierer, das ist ein Fuffi. Egal, Gewinn ist Gewinn, selbst ein Zehner ist für mich okay. Warum ich überhaupt noch auf die überflüssige Idee gekommen war, auch die anderen Zahlen im Bildschirmtext zu checken, weiß ich nicht mehr. Gewohnheit, banal und simpel!

      Heilige Scheiße, auch die vierte Zahl stimmte überein! Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich schon mal vier richtige Kreuzchen gehabt habe, wow. Aber was dann kam hat mir den Boden unter den Füssen weggezogen, freier Fall, absoluter Irrsinn. Mein Herzschlag begann zu hämmern, bumbum bumbum. Konnte das sein? Die fünfte und die sechste Zahl waren ebenfalls identisch! Lesefehler? Nochmal. Skeptisch verglichen meine Augen die Zahlen im Bildschirmtext in gedanklicher Zeitlupe Zahl für Zahl. Aber mein auf Verlierer getrimmter Verstand konnte immer noch nicht begreifen, was meine Augen gerade abgelesen hatten.

      Was war da gerade passiert? Hatte ich soeben dieselben Zahlen gelesen, die ich regelmäßig auf meinem Lottoschein ankreuzte? Meine Zahlen? Was, wenn ja? War ich besoffen oder träumte ich? Unmittelbar stieg eine gewaltige Hitzewelle in mir auf, die sich im nächsten Augenblick in den Temperatur-Keller meines Media-Markt-Kühl-schranks verwandelte und mich wie zu einem Eisklumpen gefroren dasitzen ließ, regungslos und unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Wo blieb der urgewaltige Freudenschrei und der Ausbruch der Emotionen? Ich kann mich lediglich noch daran erinnern, dass mich einen zeitlosen Gedankengang später ein Schock wie ein Stromschlag in die schlachthofgraue Realität meines Looser-Daseins zurückholte.

      Verflucht, wo habe ich diesen verdammten Lottoschein? In der Schublade? Im Geldbeutel? Ich habe doch gespielt und abgegeben, oder? Ich habe doch diese Zahlen angekreuzt, so wie immer, oder nicht? Wie ein urplötzlicher Messerstich waren diese Fragen gnadenlos in mich eingedrungen und hatten dabei jeden Bruchteil von aufkommender Freude zu blanker Panik werden lassen. Das Wechselbad von Freude und Angst war wie eine kochende Suppe, die im nächsten Moment zur Tiefkühlkost erfror. Es erstickte den vermeintlichen Traum vom Glück im Keim, bevor er überhaupt die Chance eines Atemzugs hatte. Vielleicht wäre ich unter normalen Umständen angesichts des Unglücks im Glück und einem abhanden gekommenen Lottoschein mit den sechs Richtigen sogar bewusstlos zusammengeklappt, wenn ich nicht an das Szenario gewöhnt gewesen wäre, immer auf der Verliererseite zu sein. So aber war ich nur wie versteinert, unfähig mich zu bewegen, unfähig zu schreien, unfähig irgendwas Rationales oder Emotionales von mir zu geben. Die Frage aber blieb, wo war der verdammte Lottoschein.

      Was hatte ich in meinem bedauernswerten second-hand-Leben nicht schon alles verloren. Das waren mehr als nur Handy, Autoschlüssel und die PIN meiner Bankkarte. Das waren mein Elternnest, kaum dass ich Achtzehn war, den Kontakt zu meiner Restfamilie oder das, was man Familie nennen könnte, meine pretty woman -mehrmals-, mein Großvater, der einzige, der wirklich zu mir gehalten hat, der Autofahrer-Lappen, wegen ein paar lächerlichen Promille, mehr als ein Job, von denen die meisten es aber gar nicht wert waren, eine abgefackelte Bude für eine viel zu hohe Miete, alles, was etwas Geld wert gewesen wäre, einschließlich des für mich Erspartem meines Großvaters beim Black Jack, die meisten meiner Autos, nachdem sie unfallbeschädigt nicht mehr reparierbar waren, meine Glaubwürdigkeit, mein bisschen Stolz und am Ende die Hoffnung und der Glaube an die Gerechtigkeit. Und jetzt auch noch die Fahrkarte in ein anderes Leben. Was nun? Lottoschein suchen.

      Zugegeben, meine Bude war weit entfernt von einem perfekt durchorganisierten Zentrum eines pflichtbewussten spießigen Aktensortierers. Leitz-Ordner mit einem alphabetischen Register sind auch nicht unbedingt mein Ding und der unkatholische Stapel ohne irgendwelche einschränkenden Sortier-Systeme ist mir grundsätzlich schon immer deutlich sympathischer gewesen. Natürlich bedeutet das im Gegenzug, dass sich eine Geburtsurkunde, ein Schreibstück oder ein simples Heftpflaster zwischen dem Kochbuch für Singles und den alten Schallplatten, die ich kaum mehr anhöre, hineingemogelt hat. Und genauso natürlich konnte eine Packung Nudeln bei den Auswechselglühbirnen hinter dem provisorischen Werkzeugkasten im Abstellfach untergetaucht sein. Aber so ein lächerlich kleiner Lottoschein, der konnte weiß Gott wo überall vor sich dahindümpeln. Ob ich wollte oder nicht, es gab nur den einen verfluchten Weg, die ganze Single-Bude komplett auf den Kopf zu stellen, so sehr ich eine solch aufwendige Aktion auch hasste.

      Es überraschte mich gar nicht, dass dieses scheiß kleine Papier-Ding mit den sechs Kreuzchen einfach nicht zum Vorschein kommen wollte, egal wo ich auch suchte. Es war echt zum Kotzen. Selbst der Papierkorb und der Abfallkorb blieben eine Niete. Es war zum Verrücktwerden, zum Durchdrehen. Na klar, so was von verdammt klar. Nicht mal das funktionierte bei mir. Und genau in diesem wichtigen Moment in meinem Drecks-Leben war das Looser-Karma, das mich seit meiner Kindheit wie eine unausrottbare Seuche verfolgt hat, wieder präsent. Es hatte wieder einmal mehr die beschissene Oberhand gewonnen, eigentlich gar keine Überraschung. Die ganze Durchwühlerei war für den Arsch gewesen. Am Ende blieb also nur eine wie von einem FBI-Team zerlegte Junkie-Unterkunft übrig und die sehr schmerzhafte Erkenntnis, dass ich mir wohl den Gewinn meines Lebens einfach in die Haare schmieren konnte, scheiß drauf.

      Alles war wie immer! Mit Ausnahme meiner relativ stabilen Gesundheit hat sich das komplette Pechvogel-Programm wie ein dunkelroter Faden durch die Biografie meines Lebens gezogen.

      Mein erstes negatives Highlight war mein Vater. Er war einfach nicht existent, niemand, den ich so nennen konnte. Nicht einmal meine Mutter konnte das. Sie war eine attraktive, schlanke blonde Frau, Isabella Steinreich. Sie hatte keinen Krümel Geld und musste mich allein großziehen und nebenbei die Miete für unsere Wohnung aufbringen. Erst heute war mir klar geworden, womit